Ein ebenso typisches wie teures Lehrbeispiel darüber, dass sich der Zeitbedarf eines Projekts nicht durch realitätsabgelöste Management-Entscheidungen verkürzen lässt – gleich wie viel Druck und welche "politischen Sachzwänge" dahinter stecken.
Der "Spiegel" veröffentlicht zuweilen gut recherchierte Analysen, die, wiewohl nicht für diesen Zweck gedacht, durchaus als Fallstudien für (missglücktes) Change- bzw. Projektmanagement dienen können. So auch in diesem Fall, der sich mit dem so genannten "Maut-Desaster" befasst. Dem Spiegel geht es dabei natürlich um die politische Bewertung; für unsere Zwecke hingegen sind weniger die beteiligten Personen von Interesse als die Mechanismen, die hinter den Problemen stehen und sie verstärken.
Mittlerweile funktioniert das deutsche Mautsystem ja reibungslos: Am 1. Januar 2005 wurde es freigeschaltet – unter den Augen der Medien, die geradezu begierig nach neuen Pannen und Komplikationen Ausschau hielten, darin aber eine herbe Enttäuschung erleben mussten. Offenbar sind deutsche Techniker und Ingenieure also doch dazu in der Lage, ein solch komplexes System zu bauen und so einzuführen, dass es praktisch vom ersten Tag an rund läuft. Warum also nicht gleich so? Wo lag eigentlich das Problem?
So banal es klingen mag: In einer katastrophalen Projektsteuerung (nicht: Projektleitung), genauer in der absolut unrealistisch kurzen Zeit, die der Auftraggeber dem Projekt für seine Realisierung zugestand und die vom Auftragnehmer wider besseres Wissen akzeptiert wurde: "In dem Vertrag stand nun auch, dass das Maut-System seinen Betrieb am 31. August 2003 aufnehmen sollte. Die Industrie hatte also nur noch elf Monate Zeit für die Entwicklung. Nach Ansicht aller Experten wären jedoch mindestens 24 Monate notwendig." (S. 24f.) Grund für diese geradezu aberwitzige Fristverkürzung war, dass der Finanzminister die Mauteinnahmen dringend brauchte, um mit seinem Haushalt das EU-Defizitkriterium nicht erneut zu verfehlen: "Eichel brauchte die Milliarden. Dem Verkehrsministerium war deutlich gemacht worden, dass Einnahmeausfälle bei der Maut Kürzungen im eigenen Etat zur Folge hätten." (S. 25)
Parallel zu der Verkürzung der Laufzeit wurde der Schwierigkeitsgrad des Projekts erhöht. Um einer Anfechtung der Ausschreibung zu entgegen, wurde Toll Collect gezwungen, den unterlegenen Bieter Ages (Vodaphone) mit in das Konsortium aufzunehmen. Als Gegenleistung für diese Zumutung handelte Toll Collect erhebliche Zugeständnisse heraus, nämlich eine sehr weitgehende Beschränkung möglicher Vertragsstrafen für Terminüberschreitungen oder anderer Leistungsmängel. Das war die (mangelnde) Grundlage für das spätere öffentliche Gezerre um die Vertragsstrafen.
Laut dem Spiegel-Bericht sind die Hauptakteure angesichts der heraufziehenden Bundestagswahl (am 22.9.2002) sehenden Auges in das Desaster marschiert: "Die Politik sah die Probleme – und stellte sich stur, blind und taub. Wahlkampf in Zeiten leerer Kassen ist kein Kinderspiel. Allzu störrische Expertenratschläge kamen da im Sommer 2002 eher ungelegen. Das Verkehrsministerium verlangte bereits im Frühjahr 2002 von den Betreibern der Technik eine schriftliche Festlegung – und bekam sie. In einem 'Last and final offer' vom 30. April 2002 akzeptierten die Konzerne Daimler und Telekom eine zwölfmonatige Entwicklungsphase. Obendrein versprachen sie, 'dass wir zu einem früheren Starttermin durchaus in der Lage sind'. Diese Absichtserklärung, die damals bis heute jeder Grundlage entbehrte, war für die Ministerialen auch deshalb so wichtig, weil sie zur Grundlage der anstehenden Haushaltsaufstellung wurde." (S. 25f.) "Als Eichel am 19. Juni 2002 dem Bundeskabinett seinen Haushaltsentwurf für 2002 vorstellte, fanden sich darin bereits Einnahmen von rund 1,3 Milliarden Euro aus der Maut. Er hatte einen Start des Systems zum 1. Juli 2003 unterstellt." (S. 25)
Darin zeigt sich, dass die Verantwortlichen bei Toll Collect nicht nur Opfer des immensen politischen Drucks waren, den ihre – ihrerseits unter gewaltigem Druck stehenden – Auftraggeber auf sie ausübten. Infolgedessen zögert auch die Opposition, einen Untersuchungsausschuss einzurichten: "Die Unionschefin zögert. Sie will sich nicht ohne Not mit den Konzernbossen anlegen, die erkennbar Mitschuld an dem Desaster trifft. Denn auch die Manager waren letztlich an einer schnellen Einigung interessiert. Auch sie wollten Vertrag noch vor der Wahl unterzeichnen. Bei einem Sieg der CDU hätten die Verhandlungen noch einmal begonnen, mit offenem Ausgang", schreibt der Spiegel. "Ob ein neuer CDU-Minister die ganzen Mauscheleien und Geheimabsprachen gedeckt hätte, war mehr als fraglich. Und selbst ein neuer SPD-Minister hätte Monate gebraucht, um sich in das Thema einzuarbeiten, fürchteten die Bosse." (S. 26)
Was lässt sich daraus lernen? Erstens, dass unsinnige Führungsentscheidungen meist nicht aus Jux und Tollerei getroffen werden, sondern als Reaktion auf den unglaublichen Druck, unter dem die Akteure stehen oder sich selber stellen. Zweitens, dass aus dem Zusammentreffen unterschiedlichster Einzel- und Gruppeninteressen ein Gebräu entstehen kann, das fast unausweichlich in den Abgrund führt, wenn keiner der Akteure den Mut besitzt, der Realitätsverweigerung die Stirn zu bieten – und den persönlichen Preis dafür zu bezahlen. Drittens und vielleicht wichtigstens: Dass die Realität, gleich wie hoch der Druck auf einzelnen Akteuren sein mag und wie unabweisbar ihre Gründe sein mögen, sich keinen Deut um das versammelte Wunschdenken schert. Was nicht machbar ist, ist nicht machbar – gleich wie die Beschlüsse und Verträge lauten. Viertens schließlich, dass solche Führungsfehler verdammt teuer werden können – wer auch immer derjenige ist, bei dem am Ende die Rechnung hängenbleibt. In diesem Fall sind es 750 Millionen Euro, auch wenn man nur die Differenz zwischen dem von den Experten geschätzten 24-Monats-Termin 1.10.2004 und dem tatsächlichen Einführungstermin 1.1.2005 zugrundelegt.
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