Alles in allem eine spannende und sehr anschauliche Einführung in Alfred Adlers individualpsychologische Methodik und Vorgehensweise, die sich mehrfach zu lesen lohnt – auch wenn ihr / mir der Blick über den Einzelfall hinaus fehlt.
Ein Systematiker war er leider nicht, der Wiener Dr. med. Alfred Adler (1870 - 1937), und so vermissen wir schmerzlich eine authentische Darstellung von Theorie und Technik der von ihm begründeten Individualpsychologie. Dafür muss er ein sehr einfühlender Beobachter gewesen sein, mit der Fähigkeit, aus kleinsten Äußerungen punktgenau die private Logik eines Menschen zu erschließen und auf diesem Weg in riesigen Schritten seine Charakterstruktur zu erfassen. Und so eignet sich der in diesem kleinen Buch gewählte Ansatz einer umfangreichen Fallstudie für ihn wohl besonders gut, seine "Technik", Methodik und Vorgehensweise nachvollziehbar zu machen. Aber es werden auch die Grenzen dieses Vorgehens spürbar.
Grundlage der gesamten Darstellung ist die autobiographische Lebensgeschichte einer Wiener Schneiderstochter, die von den frühesten Erinnerungen bis zum Tode ihres Vaters in ihrer Adoleszenz reicht. Die Entstehung des Berichts ist nicht ganz klar; Adler schreibt im Vorwort: "Die Lebensbeschreibung hat mir ein Zufall in die Hand gespielt. Ich kenne weder die Verfasserin, noch weiß ich, wie viel etwa daran bearbeitet wurde. Ein mir persönlich bekannter Wiener Schriftsteller überbrachte sie mir als interessante Leistung eines begabten Mädchens, an der nur unwesentliches geändert wurde." (S. 14)
Wolfgang Metzger problematisiert dies in seinem Vorwort; für ihn passt das hohe Ausdrucksvermögen des Mädchens nicht so recht mit dessen einfacher Herkunft zusammen; er vermutet, dass ein mündlicher Bericht mitstenografiert und später stilistisch überarbeitet zu Papier gebracht worden ist. Dies ist deshalb wichtig, weil für Adlers Vorgehensweise die persönliche Ausdrucksweise als diagnostisches Merkmal des Lebensstils von entscheidender Bedeutung ist. Jede ungewollte Verfärbung, wie sie bei der Wiedergabe durch einen Dritten unvermeidlich ist, müsste da zu erheblichen Störungen und Irritationen führen. Offenbar hatte Adler jedoch an der Authentizität des Materials keinen Zweifel. Und die Konsistenz der privaten Logik, die er bei seiner schrittweisen Analyse aufdeckt, reduziert das Quellenproblem von einem prinzipiellen auf ein wissenschaftlich-philologisches. In acht Vorlesungen im "Internationalen Verein für Individualpsychologie" verlas Adler schrittweise den Lebensbericht und gab seine Kommentare dazu – oft schon nach einzelnen Sätzen oder Halbsätzen. Vor allem am Anfang ist beeindruckend, wie viel Adler aus scheinbar nebensächlichen Formulierungen herausholt, die der normale Leser (bzw. ich) wahrscheinlich überhaupt nicht registriert hätte.
Im weiteren Verlauf geht dieser Reiz zunehmend verloren: Der Lebensstil des Mädchens ist relativ klar; seine Entwicklung immer neuer Zwangsideen als Instrument, sich seinen Lebensaufgaben zu entziehen und die Familie zu beherrschen, bestätigt nur noch das schon früh entworfene Bild, bringt aber nicht mehr allzu viel Neues. Hier hätte mir ein Stück Systematik – z.B. der Vergleich mit anderen Krankheitsbildern / Lebensstilen und die Diskussion von Unterschieden und Gemeinsamkeiten – mehr gebracht.
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