Die Umsetzungsberatung

Rezensionen

Erziehung durch Ermutigung und logische Folgen statt mit Lob und Strafe

Dreikurs, Rudolf; Grey, Loren (1973):

Kinder lernen aus den Folgen

Wie man sich Schimpfen und Strafen sparen kann (Engl. Orig.: A Parents Guide to Child Discipline, 1968, 1970)

Herder (Freiburg) 1991, 35. Aufl. 2005; 140 S.; 7,90 Euro


Nutzen / Lesbarkeit: 9 / 9

Rezensent: Winfried Berner, 17.08.2005

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Wertvolle Anregungen für Führung und Konfliktmanagement liefert – ausgerechnet – ein altbewährter Erziehungsratgeber. Seine zentralen Themen sind Ermutigung einerseits, andererseits die Anwendung der "logischen Folgen" als Alternative zu Sanktionen.

Die Besprechung eines aus den späten 60-er Jahren stammenden Erziehungsratgebers in der Rubrik Führung bzw. Konfliktmanagement bedarf der Begründung, auch wenn es sich um ein bewährtes, fundiertes Werk handelt, das mittlerweile in der 35. deutschsprachigen Auflage erscheint. Denn natürlich ist es nicht ohne weiteres zulässig, Erziehungsrezepte, und seien sie auch noch so schlüssig und wirksam, auf die Beziehungen zwischen Erwachsenen zu übertragen. Wenn ich hier dennoch dafür plädiere, die Anwendbarkeit einiger zentraler Gedanken dieses Buches auch für Führung und Konfliktmanagement zu prüfen, dann liegt der Grund genau in einigen Parallelen zwischen Erziehung und Führung, welche in diesem Buch der Individualpsychologen Rudolf Dreikurs und Loren Grey sichtbar werden.

Der wichtigste Unterschied zwischen Führung und Erziehung scheint zu sein, dass Erwachsene immer und prinzipiell als gleichwertige Partner anzusehen und zu behandeln sind. Sie mögen weniger Erfahrung, weniger Kompetenz, weniger Entscheidungsbefugnisse und einen geringeren Ecklohn besitzen als ihre Vorgesetzten, dennoch sind sie als Menschen gleichwertig und deshalb mit Respekt und Achtung zu behandeln. Dreikurs und Grey würden dem sicherlich nicht widersprechen, sondern nur hinzufügen: Das Gleiche gilt auch für Kinder.

Der zweite Unterschied, den man zwischen Erziehung und Führung sehen kann, ist, dass Erziehung in ihrem Anspruch weit über Führung hinausgeht: Sie will "die Persönlichkeit des Kindes formen", während Führung in aller Regel schon dann zufrieden ist, wenn Mitarbeiter ihre Leistung bringen und sich kooperativ verhalten. Nun kann man sich bei jenem hehren pädagogischen Anspruch fragen, ob er nicht eine groteske Überschätzung der eigenen Einflussmöglichkeiten in Tateinheit mit einer völligen Verdrängung der Erziehungsrealität darstellt. In jedem Fall ist aber auch dieser Unterschied in der Theorie größer als in der Praxis: Letzten Endes zielen Erzieher wie Vorgesetzte darauf, das Verhalten von Menschen zu beeinflussen – und werden, falls überhaupt, genau daran gemessen. Auch die "Vermittlung von Werten" ist keineswegs eine exklusive Besonderheit der Erziehung – anderenfalls könnte man sich alle "Value Statements", Leitbilder und Führungsgrundsätze schenken.

Auch wenn damit keine Gleichsetzung vorgenommen werden soll, scheint es mir vertretbar und sogar sinnvoll, aus Erziehungsratgebern, so sie denn etwas taugen, auch für die Führung zu lernen (und umgekehrt). Das Werk von Dreikurs und Grey bietet dafür besonders günstige Voraussetzungen, weil sich die beiden nicht auf platte "Tipps und Tricks" konzentrieren, sondern das Verhältnis von Eltern bzw. Erziehern und Kindern neu durchdenken und daraus durchaus einige sehr kluge und grundlegende Schlussfolgerungen ableiten, die sowohl in der Theorie als auch für die Praxis weiterführen.

Im 1. Kapitel erläutern Dreikurs und Grey ihre zentrale These, dass Erziehung in der heutigen Zeit nicht mehr nach den gleichen Prinzipien funktionieren kann wie sie jahrhundertelang funktioniert hat. Denn die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen haben sich fundamental verändert: Wir leben nicht mehr in einer autoritär-hierarchischen Gesellschaftsstruktur, in denen die Autoritäten Gehorsam verlangen und notfalls erzwingen können. Deshalb werden auch autoritär-hierarchische Erziehungsprinzipien von Kindern und Jugendlichen immer weniger akzeptiert: "Die Kinder nehmen die Urteile ihrer Eltern nicht mehr als absolut an. Ja, in vielen Fällen schenken sie ihnen überhaupt nur wenig Beachtung. Die Eltern werden in einer Weise aufgefordert, ihre Handlungen zu rechtfertigen, wie es von ihnen in der Vergangenheit nicht erwartet wurde." (S. 10) (Parallelen zum Thema Führung sprechen Dreikurs und Grey nicht an, aber sie drängen sich förmlich auf.)

"Heute, mit dem Heraufkommen der Demokratie können die früher Unterdrückten offen rebellieren: die Frauen, die Farbigen, die Arbeiter, die Armen und die Kinder rebellieren offen gegen autoritäre Herrschaft. In einer Demokratie kann man keinem Einzelwesen mehr seine Würde und seinen Wert absprechen oder rauben. (...) Hinter allen Formen des Aufstands steckt ein ähnliches Verlangen: als Gleicher anerkannt zu werden." (S. 12 f.) Dementsprechend lehnen sich Kinder und Jugendliche gegen elterliche Anweisungen auf oder entziehen sich, oder sie verstricken ihre Eltern in endlose Machtkämpfe, in denen die Eltern früher oder später unterliegen: "Die meisten Eltern müssen erkennen, dass das Grundthema in dieser lästigen Altersstufe Gleichheit und Freiheit lautet und dass die Rechte, welche die Kinder heute verlangen, jene sind, die alle anderen Gruppen unserer Gesellschaft anstreben. Gleichzeitig handelt es sich nicht um eine vereinzelte Erscheinung, sondern um eine, die sich überall in der Welt bemerkbar macht, selbst in Ländern mit Diktaturen." (S. 15)

Da aber eine "antiautoritär" geprägte Führungs- bzw. Erziehungsverweigerung auch keine Lösung ist, stellt sich die brennende Frage, wie ein Erziehungsverständnis aussehen kann, das nicht den überkommenen Weg der Durchsetzung von Anweisungen geht und dennoch bewusst auf Erziehung setzt. Im kurzen dritten Kapitel "Grundsätze der neuen Wege" skizzieren Dreikurs und Grey deren zentrale Prinzipien: "Die herkömmliche autokratische Methode, Kinder durch Druck von außen zu etwas zu bewegen, muss durch Anreiz von innen ersetzt werden. (...) Das Grundprinzip ist, miteinander als Gleiche umzugehen, eine Beziehung herzustellen, die auf gegenseitiger Achtung beruht. Unsere Kinder wollen als uns Gleiche anerkannt werden, nicht an Größe, Geschicklichkeit und Erfahrung, sondern in ihrem Recht und ihrer Fähigkeit, selbst zu entscheiden, statt einer höheren Macht nachzugeben. Die meisten Fehler beim Umgang mit Kindern rühren vom Mangel an gegenseitiger Achtung her, die notwendig ist im Umgang mit Gleichen." (S. 36) Und sie benennen auch gleich das Hauptproblem einer Erziehung unter veränderten Rahmenbedingungen: Es ist, "wie man nicht streitet, ohne nachzugeben. (...) Die beste Formel ist, Kinder mit Güte und Festigkeit zu behandeln. Güte drückt die Achtung vor dem Kind aus, Festigkeit weckt Achtung beim Kind." (S. 37)

Im kurzen 4. Kapitel stellen Dreikurs und Grey vier zentrale Prinzipien dieses Erziehungsmodells dar. Allen voran die Ermutigung, die Kindern hilft, bei der Entwicklung ihrer Fähigkeiten Durststrecken durchzustehen: "Ein Kind braucht Ermutigung wie eine Pflanze Wasser und Sonnenschein." (S. 42) Das setzt bei den Erziehern die Bereitschaft voraus, Risiken einzugehen, aber auch, Teilerfolge zu sehen und die Auseinandersetzung mit Aufgabe wichtiger zu nehmen als das Ergebnis: "Lob während der Ausführung der Arbeit wird ihm zu der Einsicht verhelfen, dass die Arbeit in sich der Mühe wert ist." (S. 42) Ein weiteres wichtiges Prinzip ist das Ersetzen von Lohn und Strafe durch die Anwendung der logischen Folgen, die im 6. und 7. Kapitel ausführlich erläutert wird, und das Prinzip der Nichteinmischung: "Das Kind braucht Aufmerksamkeit und Anerkennung, aber nicht, wenn es sie durch Missverhalten und bewussten Trotz gewinnen will. Predigten, Erklärungen und Ratschläge sind im Allgemeinen nutzlos, da das Kind wahrscheinlich weiß, dass es unrecht tut. Durch Nichteinmischung kann man es von der Nutzlosigkeit seines störenden Verhaltens überzeugen." (S. 43 f.)

Unter der kryptischen Überschrift "Die gesellschaftlichen Methoden" erläutern Dreikurs und Grey im 5. Kapitel "mehrere wichtige Gebote und Verbote, die die Eltern praktisch auswendig lernen können, um beim Umgang mit Kindern mehr Wirkung zu erzielen". Dazu zählen: "Lerne, wann du nicht sprechen sollst", "Drohe deinem Kind nicht", "Vermeide Wettstreit zwischen den Kindern", "Bemitleide das Kind nicht", "Vermeide übertriebene Fürsorge", "Übertreibe die Ängste deines Kindes nicht" und "Benutze den Familienrat".

Das 6. und 7. Kapitel, die zusammen mehr als zwei Drittel des Buchumfangs ausmachen, sind ganz der Anwendung der "logischen Folgen" gewidmet, was die Autoren so begründen: "Ermutigung und logische Folgen sind zwei der wichtigsten Techniken, die Eltern zur Verbesserung der Beziehungen zu ihren Kindern anwenden können. Wichtiger noch: sie ersetzen die überholten Traditionen von Lohn und Strafe, die sich als immer wirkungsloser erweisen" (S. 53) Der Grundgedanke der logischen (oder natürlichen) Folgen geht auf den Philosophen Herbert Spencer zurück, der die Meinung vertrat, "dass kein Mensch willentlich etwas tun wird, von dem er glaubt, dass es ihm schadet" (S. 53). Natürlich tun wir im Alltag viele Dinge, die uns letztlich schaden, weil wir ihre negativen Folgen nicht erkennen – aber wir korrigieren dies sehr rasch, sobald wir diese Folgen bemerken. Deshalb ist es ein fataler Fehler, Menschen – gleich welchen Alters und welcher persönlichen Reife – permanent vor den Folgen ihres eigenen Handelns zu bewahren. Dies ist nicht Ausdruck von Liebe und Fürsorge, sondern eine gefährliche Irreführung, die für Kinder, aber auch für Erwachsene, weitaus bedrohlichere Folgen haben kann als eine vergeigte Prüfung (wegen unterlassener Vorbereitung) oder ein geplatzter Termin (wegen zu späten Aufbruchs). Statt Kinder zu bestrafen oder ständig zu bedrängen, genügt es völlig, damit aufzuhören, sie von den natürlichen Folgen ihres Handelns zu "beschützen".

Im 6. Kapitel erläutern und illustrieren Dreikurs und Grey die Grundsätze dieses Konzepts; das 8. Kapitel "Konfliktlösung durch die Folgen" bietet eine umfangreiche Sammlung von Fallstudien und Bespielen. Das ist insofern nötig und nützlich, als das Konzept der logischen Folgen verführerisch einleuchtend, seine praktische Umsetzung aber nicht ganz frei von Fallstricken ist. Denn natürlich geht es weder darum, Kinder lebensbedrohlichen Gefahren auszusetzen, damit sie sie logischen Folgen ihrer Unvorsichtigkeit spüren, noch mit klammheimlicher Freude dabei zuzusehen, wie sie ihre "gerechte Strafe" erfahren. Vielmehr geht es um so simple Dinge wie, damit aufzuhören, solange zu zetern und zu drängeln, bis Herr Sohn oder Frau Tochter doch den Schulbus versäumt haben – und sie dann unter noch lauterem Gemecker mit dem Auto zur Schule zu fahren. Und auch hier sind Parallelen zum Führungsalltag von Dreikurs und Grey nicht beabsichtigt, aber dennoch kaum zu übersehen.

Schlagworte:
Führung, Konfliktmanagement, Erziehung, Ermutigung, Disziplin, logische Folgen, Gleichwertigkeit, Sanktionen

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