Eine ebenso spannende wie beeindruckende Erzählung, die dem Leser deutlicher macht als er jemals wollte, dass unsere gegenwärtige Zivilisation nicht evolutionsstabil ist und daher sowohl dem Menschen als auch der Welt zum Verhängnis zu werden droht.
Das große Thema dieses Buches ist das gleiche wie in Daniel Quinns Romanen "Is(h)mael" (1994) und "My Ishmael" (1997; deutsch: "Ismaels Geheimnis"): Es geht um die Rolle des Menschen auf der Welt und vor allem darum, dass unsere "zivilisierte" Kultur eine unausgesprochene und weitgehend unverstandene Lebensform verfolgt, die evolutionär instabil und daher zum Scheitern verurteilt ist. Doch die Art, wie Quinn diese seine zentrale Botschaft diesmal verpackt, unterscheidet sich grundlegend von "Ishmael" und "My Ishmael". In diesen beiden Büchern führte ein weiser Lehrer (der zufällig ein ausgewachsenes Gorilla-Männchen war) zwei Schüler in seine – zutiefst beeindruckenden – Einsichten ein. Dass der eine Schüler ein frustrierter Intellektueller ist und die andere ein aufgewecktes zwölfjähriges Mädchen, eröffnete genügend Möglichkeiten, die gleichen Kerngedanken auf so grundverschiedene Art und Weise zu erzählen, dass man beide Bücher mit Gewinn und ohne das Gefühl lästiger Wiederholungen lesen kann (siehe Rezension "Ismael").
"The Story of B" folgt einem anderen, sehr viel spannenderen Plot. Hier erhält ein Ordensbruder – Typ: aufgegebener Hoffnungsträger – von seinem Generaloberen den Auftrag, herauszufinden, ob ein aufsehenerregender Prediger, der in das Beobachtungsfeld des Ordens geraten ist, der "Antichrist" sei. Er spürt diesen Lehrer, der sich "B" nennt, in Deutschland auf, hört dessen Reden und Vorträge und findet sich davon in einer Art und Weise angesprochen, die ihn erst zu dessen aufmerksamem Zuhörer, dann zu seinem Schüler und schließlich, als der Prediger vom eigenen Orden ermordet wird, zum Nachfolger des "B" werden lässt. Auch wenn diese Rahmenhandlung ungleich spannender ist als die der Ishmael-Erzählungen, spannt sie letztlich nur den Rahmen für die gleiche Grundbotschaft: Dass unsere Zivilisation dabei ist, die Grundlagen des Lebens auf dieser Erde und der Artenvielfalt zu vernichten, und damit dazu verurteilt ist, an ihrem eigenen Erfolg zugrundezugehen.
Es wäre nicht sinnvoll, hier die Handlung nachzuerzählen und damit der Geschichte die Spannung zu nehmen. Es lohnt sich aber, hier einige zentrale Gedanken "B's" bzw. Quinns wiederzugeben, die in einem 87 Seiten umfassenden Anhang "The Public Teachings" systematischer und prägnanter als in den bisherigen Büchern zusammengefasst sind. Das sind insgesamt fünf Vorträge, deren erster "The Great Forgetting" darauf aufmerksam macht, dass die Geschichte der Menschheit nicht erst mit der landwirtschaftlichen Revolution vor rund 10.000 Jahren begonnen hat, sondern schon drei Millionen Jahre davor. Doch jene "Vorgeschichte", die vor der landwirtschaftlichen Revolution lag, ist heute vergessen – nicht nur, weil es davon kaum Zeugnisse gibt, sondern weil in diesen Jahrmillionen nach der Überzeugung unserer Kultur im Grunde nichts passiert ist und sie daher zu Recht in Vergessenheit gerieten. Nach Auffassung von "B" bzw. Quinn hingegen ist diese lange Zeitspanne für uns insofern äußerst bedeutsam, als die Menschheit – oder genauer: die zahllosen Stammesgesellschaften, die in jener Zeit lebten – eine Vielzahl von evolutionsstabilen Lebensformen entwickelt hatten. Sie erlaubten es ihnen, in Einklang mit den Gesetzen der Natur zu leben; Lebensformen, die dies nicht taten und sich infolgedessen als nicht evolutionsstabil erwiesen, wurden entweder aufgegeben oder starben aus.
Diese Vielfalt evolutionsstabiler Lebensformen wurde ausgelöscht durch eine im Kern einheitliche Lebensform, die Quinn als "totalitäre Landwirtschaft" bezeichnet. Dieser Begriff klingt zunächst ruppig und polemisch, erweist sich aber im weiteren Verlauf als erschreckend treffend, denn ihr zentraler Dreh- und Angelpunkt besteht in einer radikalen Ausweitung der Lebensmittelproduktion, die zu einem ebenso radikalen Anwachsen der Population führte. Während die Stammesgesellschaften alle dem "Law of Limited Competition" folgten, also Tiere zwar für ihren eigenen Nahrungsbedarf jagten, aber niemals darauf zielten, sie auszurotten, machte sich die Kultur der totalitären Landwirtschaft die Erde im wahrsten Sinne des Wortes untertan: Sie rottete nicht nur jene Tiere aus, die sie bedrohten, sondern auch viele Tiere und Pflanzen, die ihrer Nahrungsmittelproduktion als "Schädlinge" oder "Unkraut" im Wege standen: "We hunt down our competitors, we destroy their food, and we deny them access to food. That indeed is the whole puropse and point of totalitarian agriculture. Totalitarian agriculture is based on the premise that all the food in the world belongs to us, and there is no limit whatsoever what we may take for ourselves and deny all to others." (S. 260) Die Folge ist ein Schwinden der biologischen Vielfalt, das immer stärkere Ausmaße annimmt und perspektivisch die Zukunft des Lebens auf diesem Planeten bedroht.
Dass die Folgen dieser totalitären Landwirtschaft nicht nur anderen Arten zusetzen, sondern auch dem Menschen selbst, verdeutlicht Quinn in dem Kapitel "The Boiled Frog". Während die Bevölkerungsdichte über drei Millionen Jahre nur sehr langsam wuchs – sie verdoppelte sich im Schnitt alle 19.000 Jahre –, begann sie mit Beginn der landwirtschaftlichen Revolution immer rasanter zu wachsen und verdoppelte sich in immer kürzeren Abständen. Das führte und führt zu einem immer rasanteren Anwachsen des Stress'. Das begann mit einer immer stärkeren Differenzierung der Gesellschaften: Während die Stammesgesellschaften weitgehend egalitär waren – entweder es hungerte niemand, oder es hungerten alle –, führte die Entstehung von Staaten, Dynastien und professionellem Militär zu einer Polarisierung: Reichtum und Luxus auf der einen Seite, Armut, Elend und innere Leere auf der anderen. Fehden zwischen benachbarten Stämmen hatte es wohl immer gegeben, doch mit dem Militär entwickelten sich daraus Kriege. Korruption und Sklavenhandel sind ebenfalls neue "Errungenschaften".
In den Jahrhunderten rund um die Zeitenwende entstanden die (westlichen und östlichen) Erlösungsreligionen, die den Menschen predigten, dass ihr beschwerliches Erdenleben nur eine Durchgangsstation sei, auf der sie sich durch einen tugendhaften Lebenswandel ihre Erlösung verdienen mussten. Der Glaube an Götter und Geister war auch in Stammesgesellschaften verbreitet, und sie begleiteten das Leben der Menschen. Doch zum ersten Mal in der Geschichte war es notwendig, den Menschen einen Sinn des Lebens jenseits ihres Lebens zu verheißen – im Grunde eine Bankrotterklärung für das, was ihnen dieses Leben zu bieten hat(te). – Für gläubige Menschen ist es sicherlich harter Tobak, Religion als "Stresssymptom" zu interpretieren. Doch wenn man die Hinwendung zu Erlösungsreligionen (auch) als Ausdruck für ein Bedürfnis nach Trost und Sinnstiftung versteht, wäre dies auch eine plausible Erklärung für das Erstarken des Islamismus in unserer Zeit.
Quinn listet die Stresssymptome auf, die sich bei der immer höher werdenden Bevölkerungsdichte anhäuften: verheerende Kriege, Verbrechen als Lebensform, Korruption, Sklaverei, Revolten, Hungersnöte und Seuchen, Drogen, Aufstände ... Für unsere Zeit sagt er den Zusammenbruch der Kultur (cultural collapse) voraus: "The frog is dead–-and we can't imagine what this means for us and our children. We're terrified." (S. 275) Das kann man als Beschreibung des gegenwärtigen Zustands der Welt für etwas übertrieben haben, wo es uns – zumindest hier in den wohlhabenden Ländern – doch gar nicht so schlecht geht. Doch bei einer etwas globaleren und langfristigeren Betrachtung kann man kaum leugnen, dass er mit seiner Beschreibung der Entwicklung einen Punkt hat.
Im dritten Vortrag "The Collapse of Values" bringt "B" dann die aus seiner Sicht gute Nachricht: Die "Cultural Catastrophe" betrifft nicht die Menschheit insgesamt, sondern nur unsere Kultur, das heißt jene Kultur, deren Vision ist bzw. war: "The world was made for Man, and Man was made to conquer and rule it." (S. 279) Nach seiner Überzeugung geht unser nicht evolutionsstabiler Lebensstil seinem Ende entgegen: "It comes down to this: In our present numbers and enacting our present dreams, the human race is having a lethal impact upon the world. Lakes are dying, forests are dying, tha land itself is dying–-for reasons directly traceable to our activities. As many as a hundred and forty species are vanishing every day–-for reasons directly traceable to our activities ..." (S. 282) – Ich muss zugeben, ich tue mir schwer, es als eine gute Nachricht zu sehen, dass dieser Zusammenhang nicht die ganze Menschheit betrifft, sondern "nur" unsere Kultur; immerhin sind das über 99,9 Prozent der Erdbevölkerung. Aber ich tue mir auch schwer, die von Quinn dargelegte Entwicklung ernsthaft zu bestreiten.
Die beiden verbleibenden Vorträge sind im Wesentlichen Vertiefungen der bereits wiedergegebenen Kernaussagen. In "Population: A Systems Approach" untermauert Quinn die These, "that (...) populations is a function of food availability." (S. 294) Die Konsequenz: Jeder Versuch, die Bevölkerungsexplosion einzudämmen, solange die Nahrungsmittelproduktion ausgeweitet wird, ist aussichtslos: "With more food available, we soon have more people–-as predicted by the laws of ecology. With more people, we need more food. With more food, we soon have more people. With more people, we need more food. With more food, we soon have more people." (S. 296) Der fünfte Vortrag "The Great Remembering" versucht, die Regelmechanismen der verlorengegangenen Stammeskulturen zu rekonstruieren und beantwortet zuletzt die Frage, ob "B" der Antichrist ist.
Resümierend muss ich feststellen: Das Buch macht es mir nicht unbedingt leichter, optimistisch in die Zukunft zu blicken. Denn wer die Steuerungsmechanismen unseres politischen Systems auch nur halbwegs versteht, für den ist klar, dass es ungeheuer schwierig werden wird, den jetztigen Zustand unserer Welt(un)ordnung in eine evolutionsstabile Lebensform (oder mehrere) umzuwandeln. Dennoch halte ich dieses Buch für absolut lesenswert, jedenfalls für Menschen, die überhaupt bereit sind, sich Gedanken über die Zukunft der Menschheit und unseres angeschlagenen Ökosystems zu machen. Dass das Buch in Englisch ist, muss dafür kein Hindernis sein, denn Quinns Sprache ist gut lesbar, mit der einzigen Einschränkung, dass die Darstellung von historischen, ökologischen und evolutionsbiologischen Zusammenhängen ein paar Vokabeln voraussetzt, die im Business Englisch seltener verwendet werden – was entweder den gelegentlichen Griff zum Wörterbuch notwendig macht oder die (nach meiner Erfahrung durchaus begründete) Hoffnung, dass einzelne fehlende Wörter das Verstehen des Gesamtzusammenhangs nicht verhindern können.
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