Ein erfrischend unkonventioneller, pfiffiger und lesenswerter Artikel, der sich einmal nicht (primär) mit der Frage befasst, was man tun sollte, um ein guter Führer zu sein, sondern unter welchen äußeren Bedingungen sich Führungsstärke entfalten kann
In der Theorie ist schon sehr lange klar, dass der Erfolg jeder Interaktion – und damit auch der von Führung – von der Wechselwirkung von Person(en) und Situation geprägt ist. In der Praxis der Führungsseminare und -bücher wird das zuweilen auch etwas mürrisch bestätigt, doch den Rest der Zeit konzentriert man sich darauf, was der Einzelne tun kann, muss oder sollte, um erfolgreich zu führen. Das hat insofern auch seine Berechtigung, als das eigene Handeln ja das Einzige ist, was eine Führungskraft direkt beeinflussen kann: Die Situation und die anderen beteiligten Personen sind gegeben und entweder gar nicht oder nur auf dem Umweg über das eigene Handeln zu verändern. Dennoch würde es wohl helfen, wenn Führungskräfte diese situativen Einflussfaktoren besser verstünden – und sei es auch nur, um die Rahmenbedingungen des eigenen Handelns realistischer einschätzen zu können und keiner Kontrollillusion zu erliegen, das heißt der Überschätzung der eigenen Einflussmöglichkeiten (und demgemäß des eigenen Versagens, wenn es nicht geklappt hat).
Der Remscheider Psychologe und HR-Berater Michael Paschen, übrigens Koautor des "Bochumer Inventars zur berufsbezogenen Persönlichkeitsbeschreibung" (BIP), hat den Mut, einmal den oft vernachlässigten Aspekt auszuleuchten, wie die Situation, das heißt wie die gegebenen Rahmenbedingungen die Entfaltung von Führungsstärke begünstigen oder erschweren. Doch bevor er dazu kommt, nennt er "zwei ganz maßgebliche persönlichkeitsbezogene Bedingungen, die die erfolgreiche Wirksamkeit als Führer befördern." (S. 47). Das sind zum einen Vertrauen, welches er in "Zutrauen" (das heißt die Vermutung von Kompetenz) und "Integrität und Humanismus" unterteilt, zum andere die "Breite des Rollenspektrums", das heißt die Fähigkeit, "gegenüber unterschiedlichen Mitarbeitern unterschiedliche Rollen anzunehmen." (S. 48)
Paschen nennt leider keine Quellen für diese Hervorhebung. Nach meiner praktischen Erfahrung bin ich zwar sehr geneigt, ihm zuzustimmen, aber das ist kein Wahrheitsbeweis. Voll zustimmen würde ich auch seinem ebenso sympathischen wie realistischen Kommentar zu den zwei Aspekten des Vertrauens: "Im Zweifel ist übrigens (man möchte fast sagen: leider!) Zutrauen wichtiger als Integrität. Wenn Menschen sich entscheiden müssen, folgen sie lieber dem selbstbewussten Starken, selbst wenn man von der Reinheit seiner Motive nicht überzeugt ist, als dem integren Schwachen." (S. 47) Diese pragmatische Priorisierung dürfe übrigens evolutionsbiologisch begründet sein, denn im Zweifel ist es für die eigenen Zukunftsperspektiven vermutlich erfolgversprechender, sein Schicksal einem kompetenten Führer anzuvertrauen, selbst wenn seine Motive zweifelhaft sein könnten, als einem, der (nur) integer und human ist. Paschens Schlussfolgerung: "Der erste persönlichkeitsbezogene Rat an Führungskräfte lautet dementsprechend: 'Bewirke, dass man Dir vertraut! Bewirke, dass man Dir zutraut, die verheißenen Ziele zu erreichen, und bewirke, dass man Dir glaubt, dass Du Gutes im Sinn hast!" (S. 47)
Kern des Artikels aber sind die (situativen) "Bedingungen, um Führungskraft zu entfalten". Paschen nennt insgesamt vier wesentliche Einflussfaktoren der Situation (S. 48f.):
- "Je größer die Not, desto leichter entfaltet sich FührungsKraft"
- "Je bildhafter das Ziel, desto leichter ..."
- "Je heterogener und konfliktärer das Team, ..."
- "Je weniger Struktur ..."
Paschens Ausführungen haben mich immer wieder an Gedanken des Augsburger Organisationspsychologie-Professors Oswald Neuberger erinnert, wie er sie zum Beispiel in seinem Artikel "Führen als widersprüchliches Handeln" (1983) entwickelt hat. So schreibt Paschen: "Viele Instrumente und Systeme nehmen im Unternehmen den Führungskräften Führungsarbeit ab: Ein ausgeklügeltes variables Vergütungssystem (...), eine im Unternehmen kommunizierte und verankerte Strategie (...) [sowie] die Unternehmenskultur (S. 49). Neuberger hätte das vor 20 Jahren schon bestätigt und lediglich hinzugefügt, dass es im Interesse der Führungskraft liege, sich genau diese Freiräume zu erhalten, weil genau sie ihre Macht und ihren Einfluss begründeten – gegenüber Mitarbeitern und Kollegen ebenso wie gegenüber dem Unternehmen. Geistesverwandt mit Neuberger liest sich auch Paschens Feststellung: "Führungserfolg wird (wenn man diese Rahmenbedingungen in Betracht zieht) damit immer eine schwer zu kalkulierende Größe bleiben: Plötzliche Veränderungen der Strukturen und Rahmenbedingungen können Leuten Wirksamkeit verleihen oder Wirksamkeit entziehen, auch wenn ihre Persönlichkeit dabei unverändert bleibt. Man erinnere sich, wie Bundeskanzler Schröder – entsprechend unserer ersten Aussage 'Je größer die Not, desto leichter entfaltet sich FührungsKraft' – erfolgreich an Führungs-Kraft und Wirksamkeit gewann, als Dresden vom Hochwasser heimgesucht wurde (S. 49 f.).
Und so lautet Paschens Resümee: "In der Komplexität dieser Einflussfaktoren liegt die Erklärungsschwäche des persönlichkeitsfokussierten Ansatzes: Erfolgreiche und wirksame Führer waren und sind nämlich oft sehr unterschiedliche Charaktere, die sich nicht so einfach in ein Profil bringen lassen." (S. 50) Doch auch wenn dieser Aussage in der Sache kaum zu widersprechen ist: Hier wird mir der Eindruck, den sie hinterlässt, zu beliebig. Auch wenn es zweifellos richtig ist, dass erfolgreiche Führer sehr unterschiedliche Charaktere sind, folgt daraus keineswegs, dass beliebige Charaktere erfolgreiche Führer sein können.
Auch wenn bestimmte Rahmenbedingungen, wie Paschen überzeugend darlegt, die Entfaltung von Führungskraft begünstigen, bedarf es doch in jeder dieser Situationen einer geeigneten Persönlichkeit – beispielsweise des Mutes und der Gestaltungskraft –, um die in der Situation liegende Führungschance auch zu nutzen. So ist es sicherlich kein Zufall, dass der zitierte Gerhard Schröder zwar in krisenhaften Situationen (also Paschens Situationstypen 1 und 3) erfolgreich war, in den Situationstypen 2 und 4 eine relativ schlechte Figur machte. Die Lage der Nation hätte ja durchaus die Bedingung 4 "Je weniger Struktur ..." exzellent erfüllt und unerschöpflichen Raum für "bildhafte Ziele" gegeben, doch offenbar lag Schröders Stärke mehr im Mut als im Gestaltungsvermögen: Er enttäuschte, als es darum gegangen wäre, einen überzeugenden Ausweg aus den komplexen Problemen zu weisen und daraus ein bildhaftes Ziel zu formen.
Meines Erachtens sind Paschens situative Bedingungen alle richtig, doch er übersieht, dass "große Not", "mangelnde Struktur" und "ein heterogenes und konfliktäres Team" zugleich Herausforderungen an die Führungspersönlichkeit sind. Denn in solchen Situationen tauchen die meisten Menschen einfach ab und hoffen, dass jemand anders die Verantwortung übernimmt. Nur wenige haben den Mut, unter solchen Bedingungen ins Risiko zu gehen, und nur wenige haben die Gestaltungskraft, emotional ansprechende und zugleich rational tragfähige Lösungskonzepte zu entwickeln. Und so unterschiedlich die Charaktere von "Führern" auch ansonsten sein mögen: Vielleicht verbindet sie genau der Mut, in risikoreichen Situationen Position zu beziehen, und die Fähigkeit, Komplexität zu reduzieren und eine schlüssige Orientierung zu vermitteln. Doch in der Tat kommen solche Fähigkeiten – und damit bin ich wieder bei Paschen – am ehesten unter den von ihm benannten situativen Bedingungen zum Tragen.
|