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Rezensionen

Wenig erhellender Klassiker

Le Bon, Gustave (1895):

Psychologie der Massen

Mit einer Einführung von Peter R. Hofstädter

Kröner (Stuttgart); 156 S.; 10,30 Euro


Nutzen / Lesbarkeit: 4 / 7

Rezensent: Winfried Berner, 11.12.2006

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110 Jahre nach seinem ersten Erscheinen ist dieser berühmte Werk, mit dem Le Bon 1895 die Massenpsychologie begründete, nur noch für Wissenschaftshistoriker von Interesse, da es zum besseren Verständnis der Psychodynamik von Massen nur wenig beiträgt

Es mag respektlos wirken, ein vielzitiertes historisches Werk 110 Jahre nach Ersterscheinung und 98 Jahre nach Veröffentlichung der deutschen Übersetzung kritisch zu besprechen, zumal wenn es auch nach so langer Zeit immer noch greifbar ist, während viele zeitgenössische Publikationen (nicht immer zu Unrecht) oft schon nach 2, 3 oder 5 Jahren aus dem Buchhandel verschwinden. Aber der Sinn einer Rezension kann ja nicht darin liegen, sich wider die eigene Überzeugung der herrschenden Meinung anzuschließen. Obwohl dies durchaus als massenpsychologischer Effekt durchgehen könnte: Wenn alle Welt dieses Buch richtungsweisend findet, kann ich doch nicht als Einziger ... – doch! Ich bekenne, dass ich mit diesem renommierten Werk wenig anfangen kann. In meinem durchaus noch ausbaufähigen Verständnis von Massenpsychologie hat mich dieses Buch nicht weitergebracht. Und ein Vergnügen war die Lektüre auch nicht.

Sicher muss man historische Bücher aus dem Geist ihrer Zeit verstehen. Deshalb will ich mich auch nicht darüber mokieren, dass der französische Arzt und Forscher Gustave Le Bon (1841 – 1931) in einem sehr biologistischen Verständnis die Rasse als zentralen Einflussfaktor auf die Massenpsychologie postuliert oder dass er immer wieder antidemokatische und andere polit-polemische Spitzen in seine Untersuchung einflicht. Aber den "Zeitwert" eines historischen Werks bemisst sich daran, ob es uns heute noch wesentliche Einsichten, Anregungen und Impulse für das Verständnis seines Gegenstands liefert. Im konkreten Fall, so könnte man meinen, hat die Nachwelt Le Bon diese Aufgabe nicht allzu schwer gemacht, denn die Massenpsychologie ist wohl die Disziplin, die in den letzten hundert Jahren am meisten vernachlässigt wurde und in der die Psychologie und dementsprechend die geringsten Fortschritte gemacht hat. Dennoch ist die Ausbeute, wenigstens in meiner Wahrnehmung, enttäuschend.

Der Hauptgrund dafür ist, dass Le Bon wenig Aufmerksamkeit und Mühe darauf verwendet, die psychologischen Prozesse in (größeren und kleineren) Menschenmassen zu beschreiben, zu verstehen und ihre emotionale Dynamik nachvollziehbar zu machen. Er analysiert, in- und deduziert, spekuliert, doch trotz aller analytischen Stringenz und Gliederungssorgfalt gelingt es ihm nicht, "unverständliche Welt in verständliche Welt zu verwandeln", was letztlich ja Sinn und Zweck jeglicher Erklärung ist oder sein müsste. Stattdessen sucht er sein Heil – sehr intellektuell-französisch – in einer analytisch-logischen Zergliederung seines Gegenstands im Sinne der antiken "Ars distinguendi". Seine Gliederung erinnert mich eher an einen Kommentar zum allgemeinen Schuldrecht als einer hermeneutischen Annäherung an ein faszinierendes Forschungsgebiet. Dabei reiht Le Bon zahllose Feststellungen über das Wesen, den Charakter und die Psychologie der Masse(n) aneinander, ohne sie wirklich herzuleiten oder mit Belegen zu untermauern, sodass ich mich immer wieder gefragt habe: Woher weiß er das alles? Warum ist er sich da so sicher? Und warum soll ich das glauben?

Die "Psychologie der Massen" gliedert sich in drei "Bücher" (im Sinne von Teilen oder Hauptabschnitten): Im ersten geht es um "Die Massenseele", im zweiten um "Die Meinungen und Glaubenslehren der Massen", das dritte bietet die "Einteilung und Beschreibung der verschiedenen Arten von Massen". Um die (Zer)Gliederungsfreudigkeit Le Bons zu illustrieren, hier einige Auszüge aus dem Inhaltsverzeichnis. Das erste Buch untergliedert sich weiter wie folgt: "1. Kapitel: Allgemeine Kennzeichen der Massen – Das psychologische Gesetz von ihrer seelischen Einheit", "2. Kapitel: Gefühle und Sittlichkeit der Massen" (darin "§ 1 Triebhaftigkeit, Beweglichkeit und Erregbarkeit der Massen" / "§ 2 Beeinflussbarkeit und Leichtgläubigkeit der Massen" / "§ 3 Überschwang und Einseitigkeit der Massen" / "§ 4 Unduldsamkeit, Herrschsucht und Konservatismus der Massen" / "§ 5 Sittlichkeit der Massen") – "3. Kapitel: Ideen, Urteile und Einbildungskraft der Massen" (mit "§1 Die Ideen der Massen" / "§ 2 Die Urteile der Massen" / "§ 3 Die Einbildungskraft der Massen") und schließlich "Kapitel 4: Die religiösen Formen, die alle Überzeugungen der Massen annehmen". Ich erspare mir und den Lesern hier die Wiedergabe der Gliederung der anderen beiden Bücher.

Dieses sezierende Trennen von Aspekten, die für das Verstehen der Dynamik eines sozialen Systems nicht zu trennen sind, macht es ihm fast unmöglich, die "Psychologie der Massen" wirklich zu verstehen. Letztlich bleiben ihm – und damit auch seinen Lesern – die emotionalen Abläufe in Massen fremd und, bei aller Faszination, offenbar auch ein Stück unheimlich. Was er sogar selbst formuliert: "Die Massen sind so etwas wie die Sphinx der antiken Sage: man muss die Fragen, die ihre Psychologie uns stellt, lösen, oder darauf gefasst sein, von ihnen verschlungen zu werden." (S. 71)

Letztlich folgt Le Bon einer Denktradition von Mose und Platon bis zu Descartes und Rousseau, welche "die Massen" generell als primitiv, irrational, manipulierbar und insgesamt geistig wie ethisch minderwertig ansieht, und zugleich als unberechenbar, tückisch und gefährlich, weil zu exzessiver Gewalt bereit und fähig. Es scheint, als sei es zu allen Zeiten ein Bedürfnis der Intellektuellen und "besseren Kreise" gewesen, sich dem Pöbel überlegen zu fühlen – doch genau dieses Streben nach Überlegenheit wirkt als Blockade für die Fähigkeit zu verstehen. Zwar versetzt Le Bon diesem Überlegenheitsstreben einen kräftigen Schlag, indem er betont, dass eine Masse von Akademiemitgliedern um keinen Deut weiser entscheide als eine von Dienstboten, und dass auch die Urteile von Geschworenen und Parlamentsversammlungen sich kaum veränderten, wenn ihnen mehr Vertreter der höheren Stände angehören. Aber letztlich trägt auch diese Feststellung (oder Behauptung) nur dazu bei, die unheimliche, nivellierende Macht der Massen noch mehr zu bekräftigen. Wie dämonisch muss ihre Kraft sein, wenn sich nicht einmal die Besten diesem Sog entziehen können!

Andererseits ist es vielleicht genau diese unheimliche, leicht gruselige Aura, die immer wieder hinter Le Bons Bemühen um Rationalität und Logik hervorschimmert, welche auch nach einem guten Jahrhundert immer noch die Anziehungskraft dieses Werkes ausmacht. Ich kann mir gut vorstellen, dass seine "Psychologie der Massen" auch heute noch Intellektuelle, die sich ihrer Besonderheit versichern wollen, weit stärker anspricht als Organisationspsychologen, die ihre Mechanismen verstehen und sie möglicherweise in betrieblichen Veränderungsprozessen – oder auch bei der Vermittlung politischer Veränderung – gestaltend beeinflussen wollen. Wenn man aus Le Bons Klassiker für heutige Annäherungen an dieses ebenso heikle wie wichtige Thema etwas lernen kann, dann, dass man mit einer Dämonisierung der Massen nicht weiterkommt. Ein besseres Verständnis massenpsychologischer Prozesse können wir wohl nur erreichen, wenn wir den Mut haben, bei uns selber hinzusehen, wie sich unser eigenes Denken und Handeln verändert, wenn wir – etwa als Zuschauer im Stadion oder an einem Konzert oder als Teilnehmer an einer Konferenz oder einer politischen Versammlung – Teil einer Masse sind. Auf solch introspektivem Weg könnten wir Hypothesen generieren, die in einem zweiten Schritt empirisch untersucht werden könnten. Denn eine Verbreiterung der empirischen Basis wäre die Voraussetzung, um die "Psychologie der Massen" 110 Jahre nach Erscheinen dieses berühmten Werks endlich aus der Dunkelkammer intellektueller Spekulationen zu befreien.

Ergiebiger als Le Bons Text fand ich die neue Einführung, die der Alfred Kröner Verlag der 15. Auflage 1982 gegönnt hat: Statt des in älteren Auflagen etwas ermüdend und sehr "geisteswissenschaftlich" einführenden Dr. Helmut Dingeldey zeichnet nunmehr der Sozialpsychologe Prof. Dr. Peter R. Hofstätter (1913 – 1994) für die Einführung verantwortlich, der vor einem halben Jahrhundert noch eine "Kritik der Massenpsychologie" veröffentlicht hat ["Gruppendynamik", rororo rde, 1957]. Seine immerhin 22 Seiten lange Einführung liest sich, wie vieles, was Hofstätter geschrieben hat, sehr gut und flüssig. Er ordnet Le Bons Best- und Longseller biographisch, historisch und geistesgeschichtlich ein und kommt sodann in den Abschnitten "Gruppen – nicht Massen" und "Risiko und Verantwortung" auf seine sozialpsychologische Kritik der Massenpsychologie zurück. Dabei kritisiert er zu Recht, dass Le Bon die Empfehlung von Francis Bacon ignoriert habe, Gegenbeispiele für seine Thesen zu sammeln, das heißt, die "Fälle, in denen ein Effekt nicht in Erscheinung tritt, obwohl er auf Grund der Erfahrung mit ähnlichen Fällen erwartet wird." (S. XXXI) Daraus leitet er eine spannende These ab: "Hätte Le Bon die Situationen genauer betrachtet, in denen aus mehreren Menschen keine 'psychologische Masse' wird, wäre er wahrscheinlich zum Begründer der Gruppendynamik geworden." (S. XXXII)

Schlagworte:
Massenpsychologie, Großgruppen, Gruppendynamik

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