Ein großartiges Buch, das zu neuem Nachdenken anregt. Streitbar und eloquent, aber zugleich mit großer Sorgfalt und gedanklicher Präzision untermauert der Evolutionsbiologe Dawkins seine These, dass eine Welt ohne Religion eine bessere Welt wäre.
Obwohl ich größte Hochachtung vor den intellektuellen wie den stilistischen Qualitäten von Richard Dawkins habe, bin ich an dieses Buch mit einem gewissen Unbehagen herangegangen: Was kann dabei herauskommen, wenn sich ein renommierter Evolutionsbiologe und Wissenschaftsautor mit Gott und Religion befasst? Mein Unbehagen wurde nicht unbedingt geringer, als mir klar wurde, dass der Titelbegriff "delusion" eine psychiatrische Bedeutung hat: Langenscheidts Großwörterbuch bietet als Übersetzungen an: "1. Irreführung, Täuschung; 2. Wahn, Selbsttäuschung, Verblendung, Irrtum, Irrglauben". Dawkins meint das offenkundig auch so: Im Vorwort nimmt er Bezug auf das Penguin English Dictionary, das delusion definiert als "false belief or impression", sowie auf das Microsoft Word-Wörterbuch, das den Begriff als "a persistent false belief held in the face of strong contradictory evidence, especially as a symptom of psychiatric disorders" erläutert (S. 5). Nun hat die Evolutionsbiologie vor allem in den USA erheblichen Stress mit religiösen Fundamentalisten, die mit viel Geld und allen Tricks zu erzwingen versuchen, dass der biblische Schöpfungsmythos zur Grundlage des Biologieunterrichts gemacht wird. Aber rechtfertigt das einen – vermutlich – polemischen Gegenschlag, noch dazu im Umfang von 400 Seiten?! Nur die nachdrückliche (und mehrfache) Empfehlung eines guten Freundes veranlassten mich, mir dieses Buch näher anzuschauen.
Meine Vorbehalte hielten keine 30 Seiten. Dass es sich lohnen könnte, seinen Gedanken wenigstens für eine Weile zu folgen, davon überzeugte mich Dawkins schon auf Seite 1 des Vorworts: "Imagine, with John Lennon, a world with no religion. Imagine no suicide bombers, no 9/11, no 7/7, no Crusades, no witch-hunts, no Gunpowder Plot, no Indian partition, no Israeli/Palestinian wars, no Serb/Croat/Muslim massacres, no persecution of Jews as 'Christ-killers', no shiny-suited bouffant-haired televangelists fleecing gullible people of their money ('God wants you to give till it hurts'). Imagine no Taliban to blow up ancient statues, no public beheadings of blasphemers, no flogging of female skin for the crime of showing an inch of it." (S. 1 f.) Das kann man, wenn man möchte, als suggestive Rhetorik abtun, ebenso wie den – für mich durchaus beängstigenden – Nachsatz, "that John Lennons magnificent song is sometimes performed in America with the phrase 'and no religion too' expurgated. One version even has the effrontery to change it to 'and one religion too'." (S. 2) Doch ich fürchte, es ist nur ein kleiner Schritt vom Verfälschen eines Kunstwerks zum Sprengen von Buddha-Statuen. Dennoch ist die Existenz religiöser Fundamentalisten keine Widerlegung der Religion(en).
Voll erwischt hat mich Dawkins zum ersten Mal in dem Abschnitt "Undeserved respect" von Kapitel 1, das den Titel "A deeply religious non-believer" trägt: "A widespread asumption, which nearly everybody in our society accepts – the non-religious included – is that religious faith is especially vulnerable to offence and should be protected by an abnormally thick wall of respect, in a different class of respect than any human being should pay to any other." (S. 20) Davon muss ich mich in der Tat angesprochen fühlen: Ich kann nicht leugnen, dass ich – bisher – mit religiöser Begründung Dinge durchgehen ließ, die mir mit jeder anderen Begründung absolut inakzeptabel erschienen wären. Allem Anschein nach stehe ich damit nicht allein. Viele von uns haben ein gewisses Verständnis für den Aufruhr in der islamischen Welt wegen jener dänischen Mohammed-Karikaturen. Wir machen uns ernsthafte Gedanken, ob muslimischen Frauen und Mädchen nicht das Recht zugestanden werden sollte, im öffentlichen Dienst Kopftücher zu tragen und sich als Schüler vom Sportunterricht und von Schulausflügen fernzuhalten. In den USA klagen radikale Christen auf das Recht, im Namen der Religionsfreiheit Homosexuelle verunglimpfen und Abtreibung als Mord bezeichnen zu dürfen. Und wir Deutschen nehmen es hin, dass sich Bischöfe mit beleidigenden Werturteilen in politische Debatten einmischen und allgemeine Richtlinien für die Gesellschaft erzwingen wollen, die keineswegs nur ihre Vereinsmitglieder betreffen. Und wir lassen ihnen durchgehen, dass sie dabei dogmatisch Wahrheiten behaupten, für die sie nicht den Ansatz eines Beweises erbringen.
Völlig zu Recht hat Dawkins 1989 die Fatwa gegen den Schriftsteller Salman Rushdie so kommentiert: "If the advocates of apartheid had their wits about them they would claim (...) that allowing mixed races is against their religion, a good part of the oppositon would respectfully tiptoe away. And it is no use claiming that this is an unfair parallel because apartheid has no rational justification. The whole point of religious faith, its strength and chief glory, is that it does not depend on rational justification. The rest of us are expected to defend our prejudices. But ask a religious person to justify their faith and you infringe 'religious liberty'." (S. 22 f.) Allein dieser Gedankengang und die darin enthaltene Ermutigung, nicht mehr aus Respekt vor "religiösen Gefühlen" beliebigen Unsinn und beliebige Unmenschlichkeiten hinzunehmen, war den Kauf des Buches wert. Aber das war erst der Anfang.
Mit britischer Eloquenz (und bisweilen jenseits der Grenzen meines englischen Wortschatzes) treibt Dawkins seine Argumentation voran. "The God Hypothesis" ist sein zweites Kapitel überschrieben, in dem er unter anderem "The poverty of agnosticism" zu entlarven trachtet. Und in der Tat: Ich muss eingestehen, dass mein eigenes Bekenntnis zum Agnostizismus auch eine Strategie der Konfliktbegrenzung gegenüber gläubigen Mitmenschen war. (Und gestatte mir nach der Lektüre dieses Kapitels, von ihnen dieselbe Toleranz gegenüber meiner Ungläubigkeit zu erwarten wie sie von mir gegenüber ihrer Gläubigkeit.) Ohne Zweifel hat er auch Recht, wenn er darauf besteht, dass die beiden alternativen Theorien, dass es keinen Gott gibt oder dass es einen gibt (oder gar mehrere), keineswegs gleich wahrscheinlich sind, bloß weil man keine von ihnen mit letzter Sicherheit ausschließen kann. Die Existenz Gottes – im Sinne eines übernatürlichen Wesens, das die Welt und die Menschen geschaffen hat, auf deren gottgefälliges Verhalten Wert legt und zuweilen steuernd in ihre Schicksale eingreift – ist für ihn eine wissenschaftliche Hypothese, die prinzipiell ebenso entscheidbar ist wie die Hypothese, dass es winzige unsichtbare Teekannen gibt, die die Sonne umkreisen.
Das ist ein spannender Ansatz, der mich indes nicht völlig überzeugt. Denn für eine wissenschaftliche Hypothese ist es unabdingbar, dass hinreichend klar ist, was die darin verwendeten Begriffe bedeuten. Bei fliegenden Teekannen scheint mir das in ausreichendem Maße klar, doch die Operationalisierung von "Gott" finde ich ebenso unklar sein wie die von "übernatürlich" und "Wesen". Die "God Hypothesis" würde sich demnach darauf reduzieren, dass es ein "Etwas" gibt, das außerhalb der Naturgesetze von Zeit zu Zeit auf unser Schicksal und unsere Lebensbedingungen einwirkt. Damit nähert sie sich der Frage, ob es parapsychologische Phänomene gibt – und inwieweit die tatsächlich endgültig außerhalb der Naturgesetze liegen oder nur temporär außerhalb unseres derzeitigen Verständnisses derselben. Hier bleibe ich Agnostiker: Ich halte übernatürliche Wesen / Kräfte für extrem unwahrscheinlich, kann sie aber nicht definitiv ausschließen. Doch finde ich die Klärung solcher Fragen nicht vordringlich, weil die Anzahl und Relevanz derartiger Phänomene, denen ich in meinen bisherigen 53 Jahren begegnet bin, sich in engen Grenzen hält. Folgen kann ich Dawkins wieder, wenn er mit Bertrand Russell darauf hinweist, dass die Beweislast nicht diejenigen haben, welche die Existenz unsichtbarer Teekannen in Zweifel ziehen, sondern diejenigen, die sie behaupten. Und dass es keinen Grund gibt, von dieser Regel im Bereich der Religion eine Ausnahme zu machen.
Im 3. Kapitel "Arguments for God's existence" zerpflückt Dawkins mit präziser Analytik sämtliche "Gottesbeweise", deren er habhaft werden konnte. Das Kapitel endet nach 36 Seiten mit der für gebildete Leser wenig überraschenden Erkenntnis, dass ein belastbarer Gottesbeweis kaum zu führen, jedenfalls bislang nicht gelungen ist. Dafür ermöglicht das Kapitel eine kleine Stilstudie: Dawkins argumentiert glasklar, mit großer Sorgfalt und wissenschaftlicher Redlichkeit: Soweit ich erkennen kann, lässt er weder "unangenehme" Gegenargumente aus noch baut er sie rhetorisch so auf, dass er sie hinterher leicht abschießen kann. Andererseits kann und will er sich die eine oder andere sarkastische Bemerkung nicht verkneifen, wenn ihm bestimmte Argumente aus dem religiösen Lager besonders hanebüchen erscheinen. Der Grad an Respekt, mit dem er die einzelnen Beweisversuche diskutiert, variiert sehr stark in Abhängigkeit von der Qualität der vorgebrachten Argumente. Das äußert sich zuweilen auch in beißendem Spott. Das macht den Text kurzweilig und amüsant zu lesen, sofern man Dawkins' Überzeugungen nahesteht – ich kann mir aber lebhaft vorstellen, dass es die Lektüre für gläubige Leser zuweilen ärgerlich bis empörend macht.
"Why there is almost certainly no God", ist das 4. Kapitel überschrieben. Darin argumentiert Dawkins, dass die Annahme eines Gottes weder notwendig noch nützlich ist, um die Komplexität des Universums oder die des Lebens auf der Erde zu erklären. Hier wird die Verbindung zwischen seinem eigentlichen Fachgebiet, der Evolutionsbiologie, und dem Thema dieses Buches besonders deutlich. Wie er überzeugend darlegt, konnte die unglaubliche Differenziertheit des Lebens auf dieser Erde durchaus ohne das "Intelligent Design" eines Schöpfergottes entstehen, nämlich über einen graduellen und nicht zielgerichteten Evolutionsprozess, der schlicht und einfach das begünstigte, was sich besser bewährte. Vermutlich erfordert es einige Vertrautheit mit der Evolutionsbiologie, um sich vorstellen zu können, wie auf diese Weise aus primitiven Einzellern hochkomplexe Lebewesen entstehen können – doch als ein sich über Jahrmillionen erstreckender Prozess mit unendlich vielen Verästelungen und zahlreichen Irrwegen (als einer von denen sich der Mensch auch noch erweisen könnte) ist das völlig plausibel. Einzig die Entstehung des Lebens selbst ist auf diese Weise nicht zu erklären. Nach Dawkins war das ein Ereignis von extremer Unwahrscheinlichkeit – doch unsere Existenz sowie die unserer Mitgeschöpfe spricht dafür, dass es stattgefunden hat. Seine Unwahrscheinlichkeit spiegelt sich nach Dawkins' Auffassung darin wider, dass es in der unendlichen Vielzahl der Gestirne dieses Universums nur ganz wenige, vielleicht sogar nur diesen einzigen gibt, auf dem Leben existiert. Dawkins räumt durchaus ein, dass es noch viele Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, die wir – bislang oder für immer – nicht wissen und nicht verstehen, doch er hält es mit dem glasklaren Satz des amerikanischen Genetikers Jerry Coyne: "If the history of science shows us anything, it is that we get nowhere by labelling our ignorance 'God'." (S. 133f.)
Mit einer spannenden Folgefrage befasst sich Kapitel 5 "The roots of religion": Wenn es tatsächlich keinen Gott / keine Götter geben sollte, wie kommt es dann, dass der Glauben an höhere Wesen universell ist, das heißt bei so gut wie allen Völkern dieser Erde verwurzelt ist? Ein Gottesbeweis ist diese große Verbreitung sicherlich nicht, wohl aber ein irritierendes Faktum, das der Erklärung bedarf. Im Prinzip gibt es drei mögliche Erklärungen für Verhaltensmuster, die solch eine hohe Verbreitung haben: Entweder haben sie einen direkten adaptiven Wert, helfen also ihren Trägern, ihre Gene weiterzuverbreiten, oder sie sind ein "außerplanmäßiger" Nebeneffekt solch eines adaptiven Mechanismus', oder aber sie sind fremdbestimmt, das heißt die Folge einer erfolgreichen Manipulation durch andere Organismen, die auf diese Weise ihre eigenen Gene erfolgreich verbreiten. Als Beispiel für solch erfolgreiches "Trittbrettfahren" führt Dawkins die Erkältung an, die nicht deshalb universell ist, weil sie uns in irgendeiner Weise nützt, sondern weil ein cleverer Virus sich auf unsere Kosten reproduziert: "The common cold is universal to all human peoples in much the same way as religion is, yet we would not want to suggest that colds benefit us." (S. 165) Die marxistische "Opium-für-das-Volk"-Theorie ist solch ein Erklärungsmodell – mit dem kleinen Unterschied, dass sie nicht die Manipulation durch eine andere Art unterstellt, sondern durch Artgenossen.
Doch mit solchen Finstere-Mächte-Erklärungsmodellen hat Dawkins nichts im Sinn. Und da auch ein direkter reproduktiver Nutzen der Religion nicht zu erkennen ist, ist sein bevorzugtes Erklärungsmodell "Religion as a by-product of something else." (S. 173) Dahinter verbirgt sich bei genauerem Hinsehen nicht eine einzelne Hypothese, sondern eine ganze Klasse möglicher Hypothesen, wessen Nebenprodukt Religion eigentlich sein könnte. Dawkins diskutiert mehrere davon. Seine bevorzugte Theorie ist, dass Religion ein Nebeneffekt der hohen menschlichen Lernfähigkeit ist. Offenkundig hat es sich in der Evolution bewährt, dass Kinder nicht jede negative Erfahrung selbst machen müssen, sondern dazu in der Lage sind, von Erwachsenen zu lernen, und zwar nicht nur durch Nachahmung, sondern auch durch die Übernahme von Lebensregeln ("Do's and don't's"). Besonders beeindruckbar sind sie, wenn ihnen bestimmte Regeln von Autoritätspersonen in ernstem, eindringlichem Ton ans Herz gelegt werden. Es macht dabei keinen Unterschied, ob die Mahnung lautet: "Iss keine unreifen roten Beeren!" oder: "Hast du auch dein Abendgebet gemacht? Sonst ist der liebe Gott sehr traurig über dich!" Die menschliche Fähigkeit, die Regeln von Autoritätspersonen unhinterfragt zu übernehmen, ist ein nützliches Überlebensprogramm – aber sie ist inhaltsneutral und kann daher auch dazu dienen, unsinnige, nutzlose oder schädliche Lebensregeln zu tradieren.
In meinen Augen liefert dieser Gedankengang ein schlüssiges Erklärungsmodell dafür, wie Religion überliefert wird (und erklärt nebenbei auch, weshalb Religionsgemeinschaften und andere Ideenlehren so großes Interesse daran haben, Einfluss auf die Erziehung der Kinder zu bekommen). Doch er erklärt nur, weshalb die allermeisten Mitglieder einer Kultur dieselben (religiösen wie sonstigen) Grundüberzeugungen teilen – er erklärt nicht, wie Religionen entstehen, und er erklärt auch nicht, wieso Religion in praktisch allen Kulturen dieser Welt vorkommt. Einen Ansatzpunkt hierfür könnte Susan Blackmores Theorie der "Meme" (als Grundbausteine von Kultur, Tradition und Überlieferung) bieten, die Dawkins kurz referiert. Es könnte mit von Alfred Adler beschriebenen Minderwertigkeitsgefühl des Menschen zu tun haben, dass bestimmte Meme besonders gerne geglaubt werden und sich deshalb besonders erfolgreich verbreiten – wie etwa, dass es übernatürliche Mächte gibt, dass es ein Weiterleben nach dem Tod gibt, dass uns ein (all)mächtiger Gott Schutz und Hilfe bietet, aber auch Gehorsam verlangt und bei Unbotmäßigkeit zornig werden kann, dass wir uns durch ein gottgefälliges Leben Vorteile für das Jenseits verschaffen können, etc. Die Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich zitierte gerade in einem Spiegel-Interview Sigmund Freuds Worte: 'Es ist ein menschliches Grundbedürfnis, wieder Kind zu sein und die schützende Hand des Vaters über sich zu spüren.'" (Spiegel 27/2007, S. 149)
"The roots of morality: Why are we good?", ist das 6. Kapitel überschrieben; "The 'Good' Book and the changing moral Zeitgeist" das siebente. Die zentrale Aussage, die Dawkins sehr detailreich belegt, ist, dass die Bibel und andere für heilig gehaltene Schriften keineswegs jene Quelle verbindlicher moralischer Orientierung sind, für die sie von vielen Menschen gehalten werden. Vielmehr enthält sie eine Vielzahl von gewalttätigen, grausamen und empörend ungerechten Geschichten, die kaum als Fundament einer Ethik taugen. Keineswegs die schockierendste davon ist die auch heute noch als Beleg für vorbildliche Gottesfürchtigkeit zitierte Darstellung von der Bereitschaft Abrahams, seinen Sohn Isaak auf Gottes Geheiß zu ermorden – die heute zur sofortigen Einweisung in eine geschlossene Einrichtung führen würde. Sobald man aber beginnt, auszuwählen und zu interpretieren, ist nicht mehr die Bibel die Quelle der Moral, sondern es sind mehr oder weniger willkürlich daraus abgeleiteten Deutungen. Sie mögen sich zur Erhöhung ihrer Autorität auf die Schrift berufen, in Wirklichkeit sind sie ebenso subjektiv und willkürlich wie die unterschiedlichen Auslegungen des Koran, mit denen sowohl gewalttätige Islamisten als auch aufgeklärte Muslime ihre jeweiligen Lebensstile legitimieren. Damit zerplatzt die These, dass Religion, selbst wenn es keinen Gott geben sollte, doch als moralisches Fundament unserer Gesellschaft unentbehrlich sei.
Die gute Nachricht ist, dass ein solches religiöses Fundament der gesellschaftlichen Moral auch gar nicht erforderlich zu sein scheint, weil uns die Evolution mit "Moral Minds" (Marc D. Hauser, Rezension folgt) ausgestattet hat. Offenbar hat es sich für uns Menschen bewährt, nicht brachial und rücksichtslos die eigenen Interessen durchzusetzen, sondern mit anderen zu kooperieren und uns einen Ruf als redlicher, vertrauenswürdiger Partner aufzubauen, selbst wenn dies den Preis hat, auf den einen oder anderen kurzfristigen Vorteil zu verzichten. Das macht eine moralische Erziehung zwar ebensowenig überflüssig wie Gesetze, Gerichte und die Polizei, aber es relativiert die Befürchtung, dass ohne Religion die moralischen Grundfesten unserer Gesellschaft zusammenbrächen.
Das Einzige, was ich etwas ermüdend an diesem Buch finde, ist, dass Dawkins sich immer wieder seitenlang mit religiösen Eiferern, Kreationisten und anderen christlichen Fundamentalisten auseinandersetzt – so auch in den abschließenden drei Kapiteln seines Buchs, in denen er Konsequenzen und Schlussfolgerungen aus seinen Ausführungen diskutiert. Vielleicht unterschätze ich das Problem eines aufkommenden christlichen Fundamentalismus ja: Es ist schon beängstigend, mit welcher Ignoranz, Aggressivität und Brutalität diese reich gesponsorten "American Taliban", wie Dawkins sie nennt, zu Werke gehen. Doch fürchte ich, dass deren Verbohrtheit nicht geringer wird, wenn man sich im Detail mit ihr und ihren Trägern beschäftigt. An diesem Punkt wirkt Dawkins auf mich ein wenig verbissener als ich ihn sonst aus seinen Büchern kenne.
Einen wichtigen Punkt hat er indes, wenn er kritisiert: "Christianity, just as much as Islam, teaches children that unquestioned faith is virtue." (S. 306) Vehement hält er dagegen: Faith is an evil precisely because it requires no justification and brooks no argument. Teaching children that unquestioned fath is a virtue primes them (...) to grow into potentially lethal weapons for future jihads or crusades." (S. 308) Auch wenn das ein bisschen über das Ziel hinausschießt, muss man einräumen, dass die Forderung nach unhinterfragtem Glauben eine Selbstimmunisierungsstrategie ist, die es ermöglicht, selbst den absurdesten Unsinn zum "Geheimnis des Glaubens" zu erklären. Heftig kritisiert Dawkins deshalb auch die religiöse Indokrination von Kindern sowie die Unsitte, zwischen christlichen und muslimischen Kindern zu unterscheiden, als ob diese Kinder kraft Geburt dem Einflussbereich einer Religionsgemeinschaft zugefallen wären. Er plädiert stattdessen dafür, von den Kindern christlicher, jüdischer, muslimischer Eltern zu sprechen, sie ohne religiöse Indoktrination zu erziehen und ihnen die Entscheidung für oder gegen eine Religion selbst zu überlassen, sobald sie alt genug dafür sind.
Insgesamt ein großartiges Buch, das mich dazu angeregt hat, noch einmal völlig neu über Gott / Götter, Glauben und Religion nachzudenken, und das mich dazu veranlasst hat, einige meiner Denkgewohnheiten zu korrigieren. Und was kann man Besseres über ein Buch sagen? (Eine deutsche Übersetzung unter dem Titel "Der Gotteswahn" ist für September 2007 bei Ullstein angekündigt.)
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