In einer Computersimulation zeigen Hammond und Axelrod, dass Kooperation und Altruismus auch ohne Reziprozität entstehen können, sofern die Akteure regelmäßig interagieren und ihre Ähnlichkeit anhand beobachtbarer Merkmale einschätzen können.
Auch zwischen knallharten Egoisten kann eine stabile Kooperation überall dort entstehen, wo beide Beteiligten davon einen größeren Nutzen haben als wenn jeder seine Interessen für sich alleine verfolgte: Das ist das Prinzip der Reziprozität. Deshalb verträgt sich die soziobiologische Theorie des "egoistischen Gens" auch mühelos mit der Kooperationstheorie: Sie sagt keineswegs einen gnadenlosen Kampf aller gegen alle voraus, sondern zeigt im Gegenteil, dass sogar die Kooperation von Rivalen und über Artgrenzen hinweg nutzbringend für die Verbreitung der eigenen Gene sein kann. Die Allgegenwart von Kooperation wirft daher die Frage auf, was eigentlich die Minimalbedingungen für Kooperation sind: Welche Voraussetzungen müssen mindestens gegeben sein, damit Kooperation entstehen und sich in einem egoistischen Umfeld behaupten kann?
Neben der Reziprozität, also dem wechselseitigen Nutzen, gibt es in der Biologie einen zweiten hinreichenden Grund für Kooperation und sogar Altruismus, nämlich Verwandtschaft. Da nahe Verwandte einen Teil des eigenen Erbmaterials teilen, können Lebewesen nicht nur durch egoistisches Verhalten den Anteil ihrer Gene am Genpool künftiger Generationen mehren, sondern auch durch die Unterstützung von Verwandten. Die Unterstützung von Geschwistern zum Beispiel ist biologisch genau dann sinnvoll, wenn deren Nutzen von einer Ressource mehr als doppelt so hoch ist wie der eigene. Darüber hinaus können Familienclans, die zusammenhalten und sich unterstützen, wie ein "Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit" gegenüber den Eventualitäten des Lebens wirken. Allerdings gibt es hier das Trittbrettfahrer-Problem: Noch besser abschneiden sollte ein Individuum, das zwar den Schutz des Clans in Anspruch nimmt, aber nichts oder nur wenig zurückzahlt. Da das aber für alle Individuen gilt, sind Verbünde immer in der Gefahr, an individuellem Egoismus zu zerbrechen.
In der Praxis funktioniert die Unterstützung von Verwandten jedoch nur dann, wenn Lebewesen mit ausreichender Sicherheit herausfinden können, mit wem sie überhaupt verwandt sind. Dies kann zum Beispiel über äußerliche Kennzeichen geschehen, das heißt über erbliche, beobachtbare, aber zunächst willkürliche Charakteristika, aber auch über ständige Interaktion – der sogenannte "Stallgeruch-Effekt", der wiederum durch eine hohe Standorttreue begünstigt wird. Mit einer komplexen Computersimulation zeigen Hammond und Ross, dass, für sich alleine genommen, keiner von beiden Mechanismen ausreicht, um eine stabile Kooperation zu gewährleisten, dass aber ihr Zusammenwirken ausreicht, um diese auch unter schwierigen Bedingungen auszulösen. Die Interaktionsdichte für sich alleine hilft bis zu einem gewissen Grade, "but only if the level of viscosity is very high, and if the environment is benign enough to allow a given benefit to be provided at low cost." (S. 334) Noch schwächer wirken äußerliche Kennzeichen, solange sie für sich alleine auftreten.
Das ändert sich grundlegend, wenn beide Variablen gemeinsam auftreten: "Our final model, the Viscosity and Tag Model, achieves high levels of cooperation by the mechanism of combining environmental structure and individual capacity. (...) Adding tags to viscosity increases the level of cooperation at any given level of environmental austerity, and that tags allow a given level of altruism to be maintained in more austere environments. (...) The success of altruism in the Viscosity and Tag Model is robust to a wide range of other parameter changes and variations of the model." (S. 336) Unter diesen Bedingungen setzten sich in der Simulation mit mehr als 76 Prozent Populationsanteil klar die "bedingten Altruisten" durch.
Dabei kam es zu einem hochinteressanten Effekt, der zeigt, dass man sowohl in der Evolutionsbiologie als auch im sonstigen Leben die erzielten Vorteile nicht zu kurzfristig betrachten darf: Der bedingte Altruismus war in der Simulation zunächst nicht das Modell mit der maximalen Darwin'schen Fitness, gemessen an der Zahl der überlebenden Nachkommen in der nächsten Generation. Zunächst schienen die konsequenten Egoisten das Spiel für sich zu entscheiden. Das änderte sich erst, als sich in der Simulation dank der hohen Ortsfestigkeit der Akteure Regionen von egoistischen und Regionen von altruistischen "Stämmen" bildeten: "Regions of contingent altruists tend to produce more offspring than do regions of egoists. This is because contingent atruists have, on average, more grandchildren, and so tend to have higher fitnes in this sense" (S. 338).
Hammond und Axelrod fassen ihre Ergebnisse wie folgt zusammen: "In sum, our results show that contingent altruism (based on tags and viscosity together) can invade, spread, and can resist invasion even when cooperation is expensive and reciprocity is not possible. Thus, tags and viscosity together provide a powerful mechanism to overcome dilemmas of cooperation, supporting high levels of cooperation with minimal requirements. Although the combination of tags and viscosity is highly effective, we show that neither alone can evolve robust cooperation in austere environments." (S. 338) In neueren Arbeiten haben die Autoren diesen Erkenntnisse auf das Thema Ethnozentrismus angewandt und festgestellt, dass er über diese Mechanismen entstehen und sich selbst stabilisieren kann (siehe hierzu Robert Axelrods Website).
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