Die Umsetzungsberatung

Rezensionen

Soziale Gleichwertigkeit – die Herausforderung unserer Zeit

Dreikurs, Rudolf (1971):

Selbstbewusst – Die Psychologie eines Lebensgefühls

(Originaltitel: Soziale Gleichwertigkeit – die Herausforderung unserer Zeit);

dtv (München) 1995; 243 S.; 10,00 Euro


Nutzen / Lesbarkeit: 9 / 7

Rezensent: Winfried Berner, 15.04.2008

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Im Jahr vor seinem Tod erschienen, ist dieses Buch das Vermächtnis von Rudolf Dreikurs: Ein Werk, das hilft, die Konflikte unserer Zeit besser zu verstehen und eine Lösungsperspektive zu erkennen. Nicht einfach zu erschließen, aber sehr lesenswert.

Was hat den Verlag bloß geritten, den treffenden Originaltitel "Soziale Gleichwertigkeit – Die Herausforderung unserer Zeit" in die ebenso banale wie irreführende Überschrift "Selbstbewusst – die Psychologie eines Lebensgefühls" zu ändern? Wer das Buch kauft, um etwas für sein Selbstbewusstsein zu tun, kann sich einer Enttäuschung sicher sein, denn darauf geht Dreikurs allenfalls indirekt ein, und leicht umsetzbare praktische Tipps hierzu gibt er erst recht nicht. Doch auch als vorinformierter Leser habe ich mir mit dem Buch ungewöhnlich schwer getan. Monatelang habe ich es in meiner Aktentasche durch die Gegend getragen, immer wieder einzelne Abschnitte gelesen, zuweilen sehr angesprochen, stand zuweilen aber auch ratlos vor der Frage: Was um Himmels will uns der Dichter damit sagen? Wäre es nicht das letzte Werk von Rudolf Dreikurs, einem renommierten Individualpsychologen, der die Gedanken seines Lehrers Alfred Adler (1870 – 1937) kongenial weiterentwickelt hat, hätte ich es wohl längst zur Seite gelegt. Erst beim zweiten Lesen, als ich mehr auf die übergeordnete Argumentationslinie achtete, wurde mir klar, dass es sich nicht nur um ein bedeutendes Werk der Individualpsychologie handelt, sondern wohl um ein Schlüsselwerk zum Verständnis unserer Epoche.

Der Psychiater und Pädagoge Rudolf Dreikurs – 1897 in Wien geboren, 1937 vor den Nazis in die USA geflüchtet, 1972 in Chicago gestorben – trug wesentlich dazu bei, Adlers Individualpsychologie in den USA und in Israel zu verbreiten. Sein Buch, in die Zeit der Studentenrevolte und der Anti-Vietnamkriegs-Bewegung hineingeschrieben, widmet sich der Frage: Wie können Eltern und Kinder, Männer und Frauen, Lehrer und Schüler, Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Schwarze und Weiße und generell die unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppierungen zu einem neuen Verhältnis finden? Wie können sie es schaffen, sich aus ihren verbissenen Machtkämpfen zu lösen und zu einer Kooperation zu gelangen, die von einem respektvollen Miteinander statt von einem entwertenden Kleinkrieg geprägt ist? Und was kann die Individualpsychologie hierzu an Erkenntnissen und Hilfen beitragen?

Dreikurs' programmatische Antwort war in dem ursprünglichen Titel prägnant zusammengefasst: "Soziale Gleichwertigkeit – die Herausforderung unserer Zeit". Seine zentrale These ist, dass es in einer demokratisch gewordenen Gesellschaft nicht mehr möglich ist, autoritär zu erziehen oder autoritär zu führen. Es ist schlicht die Legitimation dafür verloren gegangen, private wie gesellschaftliche Beziehungen auf Über- und Unterordnung aufzubauen: Das wird heute von denen, denen eine untergeordnete Position zugewiesen werden soll, nicht mehr akzeptiert; sie lehnen sich dagegen auf. Der Versuch, dennoch die alte (Über-)Ordnung zu erzwingen, führt laut Dreikurs unweigerlich dazu, dass sich sowohl Individuen wie gesellschaftliche Gruppen in ebenso unproduktiven wie aufreibenden Machtkämpfen verstricken: Machtkämpfe zwischen Ehepartnern, zwischen Frauen und Männern, Eltern und Kindern, Schülern und Lehrern, Vorgesetzten und Mitarbeitern, Gewerkschaften und Arbeitgebern, aber auch zwischen ganzen Weltregionen.

Gegenüber den beginnenden 70-er Jahren, als Dreikurs dieses Buch schrieb, hat sich die gesellschaftliche Konfliktlage erheblich verändert, aber Machtkämpfe haben wir nach wie vor in Hülle und Fülle. Viele der damals "heißen" Konflikte haben sich in "kalte" Konflikte verwandelt, die nun nicht mehr mit missionarischem Eifer, sondern mit kühler Berechnung vorangetrieben werden – etwa durch Parteien, Lobbies und Interessenverbände. Einige, wie etwa das Verhältnis der Geschlechter, haben sich wohl sogar entspannt, weil es in vielen Beziehungen im Sinne der Gleichwertigkeit gelöst wurde. Andererseits sind zahlreiche neue Machtkämpfe hinzugekommen: etwa zwischen dem Islamismus und dem westlichen Lebensmodell, zwischen den aufstrebenden Wirtschaftsmächten (mit China an der Spitze) und den alten Beherrschern der Weltwirtschaft. Weitere zeichnen sich um die Konfliktfelder Energie, Ernährung und Umwelt ab. Auch Herausforderungen wie Armutsmigration, Parallelgesellschaften, jugendliche Neonazis und die Bandlieus muss man wohl dazu rechnen.

Den einzigen Ausweg aus all diesen destruktiven Machtkämpfen sieht Dreikurs darin, die sozialen Beziehungen sowohl zwischen Individuen als auch zwischen gesellschaftlichen Gruppen prinzipiell auf der Basis von Gleichwertigkeit zu gestalten: als respektvolle, gleichberechtigte Dialoge, die vorhandene Unterschiede weder leugnen noch ignorieren, auch eigene Überzeugungen und Bedürfnisse nicht zur Disposition zu stellen, aber bei aller Unterschiedlichkeit einen Konsens statt einer einseitigen Durchsetzung anstreben. Das ist ein kühner und visionärer Gedanke, über den es sich auch heute, beinahe 40 Jahre nach Entstehung des Buches, nachzudenken und zu streiten lohnt. Zumal Dreikurs ein kaum widerlegbares Argument auf seiner Seite hat, nämlich, dass autoritäre Strukturen in den allermeisten Lebensbereichen schlicht nicht mehr funktionieren. Auch wenn momentan in Erziehung und Gesellschaft mal wieder Versuche zur Restauration autoritärer Strukturen unternommen werden, dürfte sich auf lange Sicht doch die Einschätzung des alten Dreikurs bestätigen, dass sie ihre Legitimation und daher auch ihre Akzeptanz verloren haben. Doch der Kampf um eine gleichwertige Verfassung privater, beruflicher und gesellschaftlicher Beziehungen ist sicher noch lange nicht ausgestanden; er wird uns wohl noch auf Jahrzehnte beschäftigen, was insofern keine gute Nachricht ist, als dies eine Fortdauer der allgegenwärtigen Machtkämpfe und entsprechend langsame Fortschritte bei der Lösung drängender gesellschaftlicher und weltpolitischer Probleme verheißt.

Um sein Postulat der sozialen Gleichwertigkeit psychologisch herzuleiten, schlägt Dreikurs einen weiten Bogen – so weit, dass er mir beim ersten Lesen verloren hat. Doch lohnt sich die Anstrengung, seinem weitgespannten Gedankengang zu folgen. Dreikurs beginnt sein Buch mit der "Entdeckung des Selbst" (Teil I) und den "Grundlagen des geistigen und emotionellen Lebens" (Teil II), in denen er wesentliche Grundgedanken der Individualpsychologie vermittelt. Das ist insofern keine Verfehlung des Themas, als Dreikurs seine Argumentation auf zentrale Konzepte der Individualpsychologie aufbaut. Sie sieht den Menschen in erster Linie als ein soziales Wesen, das ohne andere Menschen nicht leben kann und dessen wesentliches Streben daher das nach Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft und nach einem angemessenen Platz in dieser Gemeinschaft ist. Im Gegensatz zu früheren Jahrhunderten geben sich Menschen heute jedoch nicht mehr mit einem untergeordneten Platz zufrieden: Sie wollen heute gleichwertiger Teil ihrer Gemeinschaft sein, werden davon aber keineswegs nur von den Verteidigern der alten Ordnung abgehalten, sondern haben auch selbst Schwierigkeiten, ihrem eigenen Anspruch gerecht zu werden: "Wir haben durch die Entwicklung zur Demokratie politische Freiheit erlangt, haben uns aber nicht von den Fesseln einer autokratischen Tradition zu befreien vermocht. Wir sind freie Menschen mit der alten Sklavenmentalität, denn wir können uns die Freiheit nicht vorstellen und machen keinen Gebrauch von ihr, wenn wir sie besitzen." (S. 53)

Im III. Teil "Die Dynamik des Konflikts in den zwischenmenschlichen Beziehungen" geht Dreikurs in drei Kapiteln auf den "Kampf zwischen den Generationen", auf "Konflikte innerhalb der Familie" und den "Kampf zwischen den Geschlechtern" ein. Das enthält viele interessante Gedanken und ist sehr nachvollziehbar geschrieben, sodass man kaum umhin kommt, beim Lesen auch die eigene Lebenssituation und die eigenen Lebenserfahrungen im Lichte von Dreikurs' Überlegungen zu durchdenken. Auch wenn sich die Frontlinien seit Erscheinen des Buches wohl etwas verschoben haben, kann ich mich nicht erinnern, jemals eine so treffende Analyse der Konfliktlage gelesen zu haben. Und es ist vielleicht auch ein wenig tröstlich zu erkennen, dass wenigstens ein Teil der Konflikte, die man selber erlebt (hat), Reflexionen eines übergeordneten historischen Konflikts sind.

Der IV. Teil ist etwas intergalaktisch "Der Mensch in seiner Welt" überschrieben. Darin führt Dreikurs in weitere Grundgedanken der Individualpsychologie ein, beginnend mit einem Kapitel über "Das biologische, soziale und kosmische Minderwertigkeitsgefühl des Menschen" über "Der Mensch und die Natur", "Die wissenschaftliche Revolution" bis zu "Der Mensch und die Gesellschaft". Manches davon scheint mir ein bisschen breit ausgeholt, auch habe ich Zweifel, ob es mehr als eine anregende Metapher ist, die Heisenberg'sche Unschärferelation auf soziale Systeme zu übertragen. Andererseits sind gerade seine Erläuterungen zum Minderwertigkeitsgefühl ein Schlüssel sowohl zum Verständnis der gegenwärtigen Probleme als auch zu deren Überwindung: "Das Empfinden sozialer Minderwertigkeit hindert den Menschen daran, im Gefühl von Würde und Selbstachtung als Teil des Ganzen zu handeln." (S. 169)

Der letzte Teil V "Konflikte und ihre Lösung" schließt den Bogen. Zunächst fasst Dreikurs noch einmal in einem Kapitel den "Prozess der Polarisation" zusammen: "Unsere Kulturperiode wird durch den Missbrauch der demokratischen Freiheit charakterisiert. Die Gesellschaft ist zerrissen. Jeder versucht, zu seinen eigenen Rechten zu kommen, und missachtet die Rechte anderer. Die demokratische Freiheit aller, zu tun, was sie wollen, verleiht den Unterschieden zwischen den verschiedenen Gruppen von Rasse, Geschlecht und Alter eine überhöhte Bedeutung." (S. 215) Zum Kampf zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern bemerkt er: "Wir haben hier immer dieselbe Situation: Wo eine kämpferische und feindselige Haltung zugrunde liegt, gelingt es keinem, zu einem Nutzen zu kommen. Viele Konflikte innerhalb unserer Gesellschaft können nur durch demokratisches, auf gegenseitige Achtung gegründetes Vorgehen beigelegt werden." (S. 221f.)

Doch die gesellschaftliche Entwicklung schien Dreikurs eher in die Gegenrichtung zu gehen, und das hat sich in den Jahren seit Erscheinen des Buches leider fortgesetzt: "Die Macht wird dann mit einer geradezu unglaublichen Fähigkeit ausgeübt, den Schein demokratischen Vorgehens zu wahren. Außerordentlich geschicktes Manipulieren durch scheinbar gewissenhaftes Einhalten der Regeln erlaubt dominierenden Gruppen, ihre Kontrolle auszuüben." (S. 222f.) Dreikurs wird noch deutlicher: "Wir kennen alle die akzeptierten Prozeduren, die unsere gegenwärtige 'Demokratie' verabscheuungswürdiger machen als jede autokratische Schaustellung der Macht. Autokratie kommt meist ohne Heuchelei aus. Die Vorspiegelungen, zu denen es unvermeidlich kommt, wenn man demokratische Prinzipien beansprucht, sie aber nicht verwirklicht, bringen das ganze demokratische Leben in Verruf. Wir haben kaum Grund, uns zu wundern, wenn die Feinde der Demokratie sich angesichts des Bildes, das wir der Welt bieten, nicht allzu beeindruckt zeigen." (S. 224)

Doch schon in diesem Kapitel skizziert er, in welche Richtung eine Lösung gehen müsste: "Wir müssen wahrscheinlich auch unser Denken über die Herrschaft der Mehrzahl berichtigen. (…) Wenn die Majorität einer Minderheit ihren Willen aufdrängt, akzeptiert die kleinere Gruppe den Majoritätsentschluss nur ungern, und es ist sogar möglich, dass sie sich dagegen auflehnt. Auf diese Weise kommen wir also nie zur Übereinstimmung, sondern immer nur zu neuen Machtverlagerungen. Es werden mehr oder weniger subtile Machenschaften angewandt, um es zu vermeiden, sich Majoritätsbeschlüssen fügen zu müssen. (…) Wir halten das Majoritätsprinzip für ein gegebenes Faktum, weil wir keinen besseren Weg kennen, gegensätzliche Ansichten und Interessen in Einklang zu bringen. Die Ursache dieses Unvermögens ist unser Mangel an demokratischer Leitung. Wo sie vorhanden ist, wirkt sie auf unsere Verhandlungsfähigkeit und auf unser Vermögen ein, zu einer relativen Klärung zu gelangen, bis eine gemeinsame Aktionsgrundlage gefunden ist. (…) Wenn das Verhältnis zwischen Ordnung und Demokratie geklärt und die Verwechslung zwischen Demokratie und Anarchie, Freiheit und Willkür, Gleichheit und Gleichförmigkeit behoben ist, sollte es den Führenden in einer Demokratie möglich sein, mit den Opponenten zu einer Übereinstimmung zu kommen. Dann entscheidet der Wert einer Ansicht, nicht die Macht oder Zahl derer, die sie vertreten." (S. 224f.) Was, nebenbei gesprochen, nahe bei dem liegt, was Rupert Lay in Fortführung der scholastischen Tradition eine "rationale Konsensbildung" nennt.

Die "Lösung von Konflikten durch demokratisches Vorgehen" erläutert Dreikurs im vorletzten Kapitel. Sein Ziel ist dabei das Bemühen, "Übereinstimmung an die Stelle des Kampfes aller gegen alle zu setzen." (S. 226) Seine vier Schritte lohnt es sich wiederzugeben:
"1. Konflikte können nur beigelegt werden, wenn einer den anderen achtet.
2. Um Konflikte zu lösen, müssen wir genau feststellen, was der eigentliche springende Punkt ist, der auf den ersten Blick oft gar nicht in Erscheinung tritt.
3. Konflikte können nur durch die Übereinstimmung aller beigelegt werden.
4. Die Basis eines gemeinsamen Vorgehens kann nur erreicht werden, wenn beiden oder allen Parteien sowohl Verantwortlichkeit als Teilnahme an den zu fällenden Entscheidungen zuerkannt werden." (S. 227)

Leider verwendet Dreikurs nur rund acht Seiten darauf, diese vier Schritte zu erläutern. Schade, darüber hätte ich gern mehr gelesen. Schon diese wenigen Seiten spiegeln seine ungeheure Erfahrung wider und sind ausgesprochen erhellend. Etwa, wenn er mit Bezug auf Eric Bernes "The Games People Play" erläutert, dass jeder Konflikt, und sei er noch so erbittert, "ein Übereinkommen der Gegner fordert" (S. 231). "Wir müssen uns klar machen, dass innerhalb jeder Beziehung volle Kooperation und volle Kommunikation stattfinden. (...) Überlegen wir einmal, um was es bei einem Dialog geht. Wenn man nur die Rolle eines Schauspielers abliest, ist der Dialog sinnlos. Er hat nur dann einen Sinn, wenn wir beide Teile lesen. Unglücklicherweise kennen wir alle nur die Worte, die unser Gegner spricht. Wie kann er (…) so ungerecht sein? Wir überschauen die Rolle, die wir spielen, nie vollkommen. Wenn wir die Beschwerde einer Mutter, eines Ehemanns, eines Chefs oder eines Arbeiters hören, sollten wir immer fragen: 'Und was haben Sie in der Sache getan?' Nur wenn wir hören, wir sie sich verhielten, ist das Benehmen ihres Partners oder Gegners leicht zu erkennen. Wenn wir unsere Rolle ändern, muss unser Gegner seine Rolle ebenfalls aufgeben. Das ist das Geheimnis unserer Macht und die Quelle unserer Schwierigkeiten. Wenn wir uns über 'ihn' oder 'sie' beklagen, bellen wir den falschen Baum an. Es gelingt uns nicht, unsere Rolle und unsere Fähigkeit zu erkennen, die Lage zu ändern. Wir sind in jedem Konflikt nicht nur das Opfer, sondern der Handelnde (S. 232) Und: "Viele Menschen fragen sich, wie ein gegenseitiges Übereinkommen herzustellen sei. Wir brauchen es aber gar nicht erst 'herbeiführen'; es ist, was immer wir tun, schon vorhanden." (S. 234) Ausgesprochen ermutigend ist, was er zu dem berühmten "eigenen Anteil" an Konflikten sagt: "Wenn wir uns nicht mehr einbilden, arme Opfer zu sein, können wir unglaubliche Kraft entwickeln." (S. 233)

Man mag diesen wohlwollenden, partnerschaftlichen Ansatz als Strategie zur Lösung großer gesellschaftlicher und internationaler Konflikte für naiv halten, weil die zu sehr von Lobbyisten und skrupelloser Interessenpolitik verseucht sind, um noch für vernünftige Problemlösungen zugänglich zu sein. Einen Versuch wäre es dennoch wert, solange unsere Alternativen nicht besser sind als die Methoden, mit denen wir es heute probieren. Doch selbst wenn er dafür nicht taugen sollte, eröffnet es doch eine Perspektive für all jene unzähligen Konflikte des Alltags, in denen wir mit etwas gutem Willen und wechselseitiger Achtung durchaus noch vernünftig – und das heißt vor allem: respektvoll und auf gleicher Ebene – miteinander reden können: in Partnerschaft und Familie ebenso wie in Unternehmen und in gesellschaftlichen und sozialen Organisationen.

Von wie vielen Betriebsräten habe ich im Laufe meiner mittlerweile 25 Beratungsjahre schon die Klage gehört, dass sie von der Geschäftsleitung nicht ernst genommen, nicht als "Partner auf gleicher Augenhöhe" respektiert würden! Und wie häufig nutzten diese Betriebsräte ihre betriebsverfassungsrechtlichen Möglichkeiten, um ihre respektvolle Behandlung zu erzwingen – was in aller Regel schon deshalb scheiterte, weil sich die über ihr eigenes Echo erschrockene Arbeitgeberseite in ihre Schützengräben zurückzog und nach listenreichen Durchsetzungsstrategien sann, um die "Störenfriede" auf der Gegenseite doch noch in die Knie zu zwingen. Auch wenn Dreikurs kaum Beispiele aus dem betrieblichen Bereich bringt: Das ist genau der Machtkampf, den er beschreibt. Und wenigstens in einigen Fällen habe ich selbst erlebt, dass eine im betrieblichen Interesse sinnvolle Konsenslösung schnell gefunden war, wenn es erst einmal gelungen war, den Anliegen des Betriebsrats ernsthaft zuzuhören und zu einem respektvollen gegenseitigen Umgang zu finden. Allerdings war es meistens nicht ganz einfach, dorthin zu kommen.

Und so hat dieses Buch, auch wenn das gar nicht sein Ziel ist, auch einen unerwarteten Nutzen für das Change Management: Im Rückblick auf meine unzählige Veränderungsprojekte ist mir bewusst geworden, dass die erfolgreichsten Projekte tatsächlich genau diejenigen waren, in denen es gelungen ist, die Beziehungen zu allen beteiligten Personen und Gruppierungen auf der Basis von Achtung und Gleichwertigkeit zu gestalten. Das mündet keineswegs in endlose Kuhhändel und faule Kompromisse, sondern macht es im Gegenteil erst möglich, vernünftig über das sachlich Notwendige zu reden – und die getroffenen Entscheidungen dann auch zügig und reibungsarm umzusetzen. Vermutlich ist vieles von dem, was wir im Change Management unter der Überschrift "Widerstände" verhandeln, weniger die Reaktion der Betroffenen auf die sachlichen Ziele und Inhalte des Projekts, sondern einer jener Machtkämpfe, die sich gegen eine mehr oder weniger autoritäre, die Gleichwertigkeit der Beteiligten missachtende Vorgehensweise richten. So betrachtet, wäre Dreikurs' Vermächtnis "nebenbei" und unbeabsichtigt auch noch ein Schlüsselwerk für das Change Management.

Schlagworte:
Gleichwertigkeit, Konflikte, Konfliktbewältigung, Machtkämpfe, Individualpsychologie, Partizipation, Einbeziehung, Widerstände

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