Die Umsetzungsberatung

Rezensionen

Reflexivität als neues Paradigma (nicht nur) für die Finanzmärkte

Soros, George (2008):

The New Paradigm for Financial Markets

The Credit Crisis of 2008 and What it Means

Public Affairs (New York); 184 S. (XXIV, 160); 14,95 Euro


Nutzen / Lesbarkeit: 9 / 7

Rezensent: Winfried Berner, 14.08.2008

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Soros nutzt die derzeitige Krise an den Finanzmärkten, um den Nutzen und die Aussagekraft seiner Reflexivitätstheorie zu demonstrieren. In der Tat hilft die Theorie, die Lage besser zu verstehen, doch zugleich schließt sie eindeutige Vorhersagen aus.

Man könnte enttäuscht sein über das, was der ungarisch-amerikanische Hedgefonds-Manager, Großspekulant und Philanthrop George Soros hier als "The New Paradigm for Financial Markets" vorstellt. Denn im Grunde besagt seine "Theory of Reflexivity" nur, dass die Entwicklung der Finanzmärkte (wie die Entwicklung sozialer Systeme generell) aus prinzipiellen Gründen niemals voll vorhersagbar ist. Das Modell der klassische Makroökonomie, wonach die Märkte einen Gleichgewichtszustand von Angebot und Nachfrage anstreben, den sie lediglich mit dem vielbeschworenen "Random Walk" umspielen, ist nach seiner Überzeugung schlicht falsch: "Markets never reach the equilibrium postulated by economy theory." (S. X) Vielmehr seien das Denken und Handeln der Marktteilnehmer zwei Ebenen, die so eng miteinander verflochten sind, dass keine objektive Analyse und Erkenntnis möglich sei. Das eine, die vorausgegangenen Aktionen der Marktteilnehmer, beeinflusst das andere, nämlich die Analysen und die daraus abgeleiteten Erwartungen für künftige Entwicklungen, und dieses wiederum beeinflussen das nachfolgende Handeln der Akteure. Auf diese Weise können sich Analyse und Aktion wechselseitig selbst verstärken, mit der Folge, dass es immer wieder zu systematischen Übertreibungen in beide Richtungen komme, den "Boom-Bust-Zyklen". Es gibt im Marktgeschehen also keinen archimedischen Punkt, von dem aus man die Welt objektiv analysieren, geschweige denn aus den Angeln heben könnte. Was die Marktteilnehmer sowohl in Boom- als auch in Crash-Phasen als Ausdruck ihrer instinktiven Voraussicht halten, nämlich das weitere Steigen bzw. Fallen der Kurse, ist also kein Vorhersehen eines unabhängiges Ereignisses, sondern nur das Echo ihres eigenen Handelns: "Misinterpretations of reality and other kinds of misconceptions play a much bigger role in determining the course of events than generally recognized." (S. 11)

Kybernetiker werden nun die Achseln zucken und darauf hinweisen, dass das genau das ist, was sie seit einem halben Jahrhundert als positive und negative Rückkopplungsschleifen bezeichnen. Systemtheoretiker werden müde gähnend daran erinnern, dass selbstreferenzielle Systeme bereits seit einer Weile bekannt sind. (Was Soros auch einräumt und bis auf Bertrand Russells Typentheorie zurückverfolgt.) Ökonomen könnten süffisant daran erinnern, dass Soros' Theorie, die er vor Jahren bereits in seinem Buch "The Alchemy of Finance" vorgestellt hat, in der Fachwelt keine große Resonanz gefunden hat. Doch auch wenn diese Einwände nicht völlig unberechtigt sind, scheinen sie mir in zweierlei Hinsicht zu kurz zu greifen. Der eine ist zugegebenermaßen so pragmatisch, dass man ihn schon fast amerikanisch nennen könnte. Und dennoch: Es gibt wenige Kybernetiker, Systemtheoretiker und Ökonomen, die mit ihren Theorien so reich geworden sind wie Soros. Und die ihre Theorien mit so viel persönlichem Risiko dem Feedback der Realität ausgesetzt haben. Der andere lautet: Viel von dem gegenwärtigen Chaos in den Finanzmärkten hat wohl tatsächlich damit zu tun, dass viele Akteure im Gegensatz zu Soros nicht verstanden haben, dass sie sowohl beim Aufblasen der Blasen als auch bei deren Platzen dem Echo ihres eigenen Handelns hinterherlaufen. Ganz so banal scheint Soros' Punkt daher doch nicht zu sein. Und gerade die Ökonomen haben wenig Grund zu Spott und Hohn, sind sie doch mit ihren Angebots- und Nachfragekurven weder dazu in der Lage, Krisen wie die derzeitige zu erklären noch sie vorherzusagen – geschweige denn dazu, ihnen vorzubeugen.
 
Eine zentrale Ableitung aus Soros' Reflexivitätstheorie ist, dass eindeutige Vorhersagen prinzipiell unmöglich sind: "The distinguished feature of reflexivity is that it introduces an element of uncertainty into the participants' thinking and an element of indeterminacy into the situation in which they participate." (S. 30f.) Weil sich Marktanalyse und Markthandeln sich wechselseitig beeinflussen und auf diese Weise auch auf die "Fundamentaldaten" zurückwirken, können sich sowohl positive als auch negative Trends verstärken und sich so sowohl zu gigantischen Blasen hochschaukeln als auch in die Depression herunterziehen können. Soros spitzt diesen Gedanken noch zu, indem er das "Postulat der radikalen Fehlbarkeit" (postulate of radical fallibility) einführt: "… the idea that all human constructs are flawed in one way or the other, although the flaws may not become apparent until a construct has been in existence for a while." (S. 155) Das klingt indes negativer als es von Soros gemeint ist. Er geht davon aus, dass es zahlreiche "fertile fallacies" gibt, also fruchtbare Täuschungen: "I contend that all cultures are build on fertile fallacies. They are fertile because thay flourish and produce positive results before their deficiencies are discovered; they are fallacies because our understanding of reality is inherently imperfect. We are, of course, capable of acquiring knowledge; but if that knowledge proves useful we are liable to overexploit it and extend it to areas where it no longer applies. That is when it becomes a fallacy." (S. 34f.) Vielleicht ist das sogar der Schlüssel zu Soros' außerordentlichem Erfolg als Spekulant: Handeln im Bewusstsein der eigenen Fehlbarkeit – aber auch der Möglichkeit, Irrtümer zu erkennen und sie zu korrigieren. Damit wäre seine Theorie tatsächlich auf alle wesentlichen Lebensentscheidungen anwendbar.
 
Je länger man in diesem Buch liest, desto mehr fragt man sich, wer dieser George Soros eigentlich ist: ein reich gewordener Spekulant, der auf seine alten Tage den Philosophen gibt, oder ein Wahrheitssucher und Weltverbesserer, der die Gelegenheit hatte und nutzte, seine erkenntnistheoretischen Überlegungen an den Finanzmärkten zu testen. Die Doppelgesichtigkeit dieses Mannes wird dadurch noch unterstrichen, dass dieses Buch zwei biographischen Skizzen enthält: Im ersten Teil, in dem er seine Theorie der Reflexivität vorstellt und an den Finanzmärkten demonstriert, finden wir eine "Autobiography of a Failed Philosopher"; der zweite Teil, in dem er der momentanen Krise und deren Konsequenzen nachgeht, stellt dem die "Autobiography of a Successful Speculator" gegenüber. Dabei entsteht der Eindruck, dass Soros ein Austausch der Adjektive im Grunde seines Herzens lieber wäre.
 
Das philosophische Interesse ist jedenfalls das ältere. Die "Biographie eines gescheiterten Philosophen" beginnt mit den Sätzen: "I have always been interested in philosophy. From an early age, I wanted to know who I was, the world into which I was born, the meaning of my life, and, even more, when I became aware of it, the prospect of my death. I started reading classical philosophers early in my teens, but the really important period came during the Nazi occupation of Hungary in 1944 and afterwards, when I emigrated to England in 1947." (S. 12) So schreibt kein neureicher Möchtegern-Philosoph; man spürt: Hier überwiegt das philosophische Interesse das ökonomische. Die Erfahrung mit zwei totalitären Diktaturen – auf die Nazis folgte in Ungarn die russische Okkupation – sorgte dafür, dass bei Soros die Philosophie Karl Poppers auf furchbaren Boden fiel, nicht zuletzt seine Gedanken über "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde", die Soros nun auch mit seiner Stiftung voranzubringen sucht.
 
Dennoch ist Soros alles andere als ein strenggläubiger Popper-Jünger. Er setzt sich kritisch mit dessen Gedanken auseinander und widerspricht nachdrücklich dessen Modell von der (methodischen) Einheit der Wissenschaften. Soros hält es für einen grundlegenden Irrtum, genauer: für die Überdehnung einer an sich gescheiten Idee, Poppers wissenschaftstheoretisches Modell des kritischen Rationalismus auch auf die Sozialwissenschaften ausdehnen zu wollen. Popper selbst habe gezeigt, dass entgegen ihrem eigenen Anspruch weder die Psychoanalyse noch der Marxismus "wissenschaftliche" Theorien seien. Doch er sei nicht weit genug gegangen und habe nicht erkannt, dass dies nicht bloß ein Mangel dieser beiden Theorien sei, sondern das Scheitern an der prinzipiellen Unmöglichkeit, im Bereich der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften Theorien zu entwickeln, die verlässliche Vorhersagen zulassen. Dem steht nach Soros' überzeugung genau die "Reflexivität" entgegen, das heißt die nicht eliminierbare wechselseitige Beeinflussung von Analyse, eigenem Handeln und künftiger Entwicklung der Realität. Verlässliche Vorhersagen sind nach seiner Meinung im Bereich der Sozialwissenschaften prinzipiell nicht möglich, weil jede tatsächliche oder vermeintliche Erkenntnis auf die Welt zurückwirkt, die sie zu beschreiben sucht, und da umgekehrt die Entwicklung der Realität Rückwirkungen auf unserer Denken hat.
 
Es hat etwas Verblüffendes, sich in einem Buch über die Finanzmarktkrise plötzlich mitten in wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Überlegungen wiederzufinden. Aber ist hat seine Logik, wenn man diese Krise, wie George Soros, als Ausfluss eines falschen Paradigmas ansieht. Doch nicht nur die momentane Kredit- und Immobilienblase ist Ausfluss dieses falschen Paradigmas; darunter liegt nach Soros' Überzeugung noch eine weitaus größere Superblase, die uns noch erheblich zu schaffen machen wird: "We are in the midst of a financial crisis the like of which has not been seen since the Great Depression of the 1930s. To be sure, it is not the prelude to another Great Depression. History does not repeat itself." (S. 81) Als deren tiefere Ursache sieht er einen weit grundlegenderen Denkfehler an: "It consists of an excessive reliance on the market mechanism. President Ronald Reagan called it the magic of the marketplace. I call it market fundamentalism." (S. 91)
 
Drei sich gegenseitig verschärfende Entwicklungen blasen nach Soros diese Superblase auf: Erstens der langfristiger Trend zur Kreditexpansion, zweitens die Globalisierung der Finanzmärkte und drittens die zunehmende Geschwindigkeit der "Finanzinnovationen" bei gleichzeitigem Abbau von Regulierungen. Das habe die Konsequenz, dass sich die Krise nicht mehr auf ein Finanzmarkt-Segment beschränkt, sondern das gesamte Finanzsystem erfasse: "This is the first time since the Great Depression that the international financial system has come close to a genuine meltdown. That is the crucial difference between this financial crisis and previous ones." (S. 100) Der Verlauf dieser Superblase wird nach Soros' Erwartung nicht seinem Boom-Bust-Modell folgen, "because there are no normal, near-equilibrium conditions to return to. We are facing a period of greatly increased uncertainty where the range of possible outcomes is much broader than in normal times. The greatest uncertainty revolves around the response of the U.S. authorities to predicament that confronts them." (S. 157)
 
An anderer Stelle nennt Soros noch einen vierten Faktor, der die Lage zusätzlich brisant macht: Durch die jüngsten Interventionen der Notenbanken und anderer halbstaatlicher Institutionen zur Rettung angeschlagener Banken von Bear Stearns über Northern Rock bis hin zur IKB und der Sachsen-LB konnten zwar manifeste Bankenzusammenbrüche verhindert werden, doch dadurch sind "asymmetric incentives" (S. 118) entstanden: Marktteilnehmer können davon ausgehen, dass existenzbedrohende Verluste wenigstens teilweise "verstaatlicht" werden, während die Gewinne hochriskanter Anlagestrategien weiterhin den Aktionären und dem Management zufließen. Dies schafft einen Anreiz zum Eingehen hoher Risiken und zur Nutzung überdimensionaler Hebel. Unter ungünstigen Umständen kann dies damit enden, dass Notenbanken, Solidaritätsfonds und selbst reiche Industriestaaten irgendwann nicht mehr dazu in der Lage sind, entstandene Verluste aufzufangen. Wie nahe wir diesem Punkt bereits sind, hat sich nach Erscheinen des Buchs gezeigt, als der Plan, die angeschlagenen US-Hypothekenbanken Freddie Mac und Fannie Mae zu verstaatlichen, fallengelassen wurde, weil dies auf einen Schlag die – ohnehin exorbitant hohen – Staatsschulden der USA verdoppelt hätte.
 
Soros macht deutlich, dass auch hier das Prinzip der Reflexivität gilt, sodass es falsch wäre, an die Unausweichlichkeit einer Katastrophe zu glauben: "The future depends on the policy responses the financial crisis will provoke." (S. 153f.) Da sieht er allerdings dringenden Handlungsbedarf: "Clearly an unleashed and unhinged financial industry is wreaking havoc with the economy: It needs to be reined in. Credit creation by its nature is an reflexive process. It needs to be regulated in order to prevent excesses." (S. 142) Dabei schreckt er vor sehr weitgehenden Eingriffen nicht zurück: "The idea that risk management can be left to the participants was an aberration. There are systemic risks that need to be managed by the regulatory authorities. To be able to do so they must have adequate information. The participants, including hedge funds and souvereign wealth funds and other unregulated entities, must provide that information even if it is costly and cumbersome. The costs pale into insignificance when compared to the cost of a breakdown." (S. 143) Über die Auswirkungen ist er sich völlig im Klaren – und hat auch keine Scheu, sie auszusprechen: "Controlling leverage will reduce both the size and the profitability of the financial industry, but that is what the public interest demands." (S. 145)
 
Nach Soros' Überzeugung stehen wir am Ende einer Ära: "I contend that it means the end of a long period of relative stability based on the United States as the dominant power and the dollar as the main international reserve currency. I foresee a period of political and financial instability, hopefully to be followed by the emergence of a new world order." (S. 155) An diesem Punkt ist ihm durchaus bang, doch er rät dringend dazu, vor den anstehenden Problemen nicht die Augen zu verschließen: "We have to make decisions without having sufficient knowledge at our disposal. (…) But we have not learned how to govern ourselves. As a consequence, we live in great uncertainty and grave danger. We need to gain a better understanding of the situation in which we find ourselves. It is difficult to accept that uncertainty. It is tempting to try and escape it by kidding ourselves and each other, but that is liable to land us in greater difficulties." (S. 159)

Schlagworte:
Weltwirtschaft, Finanzmärkte, Finanzmarktkrise, Globalisierung, Derivate

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