Die Umsetzungsberatung

Rezensionen

Eher Prüfungsvorbereitung als praktische Handlungsanleitung

Bloss, Michael; Ernst, Dieter (2008):

Derivate

Handbuch für Finanzintermediäre und Investoren

Oldenbourg (München, Wien); 299 S.; 39,80 Euro


Nutzen / Lesbarkeit: 6 / 7

Rezensent: Winfried Berner, 31.12.2008

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Trotz aller Fachkompetenz der Autoren unbefriedigend, weil der Text meist genau dort endet, wo es für die praktische Anwendung spannend würde. Dadurch eher eine Ansammlung folgenlosen Detailwissens als eine wirkliche Orientierungshilfe für Investoren

Wenn ein Bauer einen Teil seiner künftigen Ernte schon heute zu einem festen Preis an einen Händler verkauft, schließt er damit ein Warentermingeschäft, einen "Forward" oder "Future", ab. Dessen entscheidendes Merkmal ist, dass das "Erfüllungsgeschäft", also die Lieferung der Ware) zeitlich deutlich getrennt liegt von dem "Verpflichtungsgeschäft", d.h. dem Vertragsschluss. Solch ein Termingeschäft kann für beide Seiten eine ausgesprochen sinnvolle Sache sein. Denn beide wissen nicht, wie die Ernte ausfallen wird und wie dann die Preise sein werden. Wenn sie einen Teil ihres Gesamtbedarfs über einen Terminkontrakt abdecken, erzielten sie zwar wahrscheinlich nicht den besten möglichen Preis, aber sie haben Planungssicherheit. Mit dem anderen Teil können sie dann auf bessere Preise im Spätsommer spekulieren. Halten wir schon einmal als erste Erkenntnis fest: Terminkontrakte haben nicht zwangsläufig mit Spekulation zu tun. Sie und andere Derivate können ein vernünftiges Instrument der Risikoabsicherung sein; umgekehrt kann es eine riskante Spekulation sein, völlig auf sie zu verzichten und alles auf die Karte "Bessere Preise im Herbst" zu setzen.

Allerdings können Derivate zur Spekulation genutzt werden. Falls der Händler zum Beispiel mit einer schlechten Ernte rechnet, könnte er sehr viel mehr Weizen "auf Termin" kaufen als er selber braucht. Wenn er Recht behält, kann er damit sehr viel Geld verdienen – möglicherweise so viel, dass er auf die Idee kommt, sich ganz auf den Handel mit Warentermingeschäften zu konzentrieren. Falls er sich hingegen geirrt hat und die Ernte gut ausfällt, sitzt er auf einem Weizenberg, den er weit unter Einkaufspreis verschleudern muss. Was seine Zukunftsplanung ebenfalls erheblich beeinflussen könnte. Deshalb kauft er sich vielleicht besser nur Optionen, die ihn zwar berechtigen, aber nicht verpflichten, den Weizen im Herbst abzunehmen. Trotzdem: Wir beginnen, die Risiken von Derivaten zu ahnen.

Noch aggressiver wäre es, wenn sich der Händler über Futures und Optionen so viel Weizen sichern würde, dass die Müller und Bäcker seiner Region gezwungen wären, bei ihm zu kaufen, und er die Preise diktieren könnte. Dann wäre auch sein Ernterisiko deutlich reduziert, zumal die verbleibenden "freien" Lieferanten vermutlich die Chance nutzen würden, ebenfalls die Preise zu erhöhen, um selbst auch von der künstlichen Verknappung des Weizens zu profitieren. Allerdings ist der erforderliche Kapitaleinsatz für solch aggressive Spekulationen mit Derivaten sehr hoch. Deshalb funktionieren sie nur in sehr engen Märkten und für begrenzte Zeit. Nach einer beginnen die Bauern, wegen der hohen Preise immer mehr Weizen anzubauen, bis die "Weizenblase" schließlich platzt – ein Beispiel dafür, wie Spekulationen mit Derivaten stabile Märkte aus dem Gleichgewicht bringen können.
 
Wie groß ist das maximale Volumen solcher Derivate in einem gegebenen Markt? Man möchte meinen, es könne höchstens so groß sein wie der jeweilige Markt: Wenn alle Bauern ihre Ernte auf Termin verkauft haben, scheint das theoretische Maximum erreicht. Aber das ist doppelt falsch. Erstens könnten schlaue Bauern ja auch auf die Idee kommen, Weizen "leer zu verkaufen", also mehr Weizen zu verkaufen, als ihre eigenen Felder hergeben, und sich die Differenz günstig bei Nachbarn zu verschaffen, die nicht so schlau wie sie waren. Auf den zweiten Blick wird klar, dass man gar keine Felder besitzen muss, um Weizen leer verkaufen zu können; es genügt, eine verlässliche Bezugsquelle zu haben. So könnten auch der Dorfpfarrer, der Lehrer und der Vorsitzende des Raiffeisen-Lagerhauses auf die Idee kommen, in das offenkundig florierende Weizentermingeschäft einzusteigen.
 
Noch wichtiger ist aber ein zweiter Grund: Unser Händler muss ja nicht unbedingt warten, bis seine Terminkontakte mit der physischen Lieferung des Weizens erfüllt werden. Er kann die Kontrakte auch weiterverkaufen an Anleger, die sich davon einen Gewinn versprechen, oder an Investmentgesellschaften, die sie zu Commodity-Fonds bündeln ("Verbriefung") und darum herum überdies ein paar hübsche Zertifikate konstruieren, die sie zur Absicherung ihres eigenen Risikos von Banken an ebenso ahnungslose wie gierige Privatkunden verkaufen lassen. Ein- und derselbe Sack Weizen, dessen Inhalt noch nicht einmal gewachsen und gereift ist, kann so zum Gegenstand mehrerer, theoretisch sogar beliebig vieler Terminkontrakte, Optionen und anderer Derivate werden.
 
Trotzdem stockt einem der Atem, wenn man beiläufig im "Spiegel" liest, dass das Gesamtvolumen aller Derivate, die 2007 weltweit gehandelt wurden, beim Elffachen (!!) des Weltsozialprodukts lag. Angesichts dieses Volumens ist offensichtlich, dass es hier nicht allein nur um Absicherung gehen kann, sondern auch und vor allem um (multiple) Absahnung. Was sich auch darin äußert, dass die Futures und Optionen in den allermeisten Fällen nicht mehr durch die physische Lieferung der Waren erfüllt werden, sondern durch ein "Cash Settlement". Ähnlich wie bei Kettenbriefkampagnen kommt über die verschiedenen Stufen des Derivatehandels keine nennenswerte neue Wertschöpfung hinzu, sondern nur immer neue Umverpackungen. Wir beginnen zu ahnen, weshalb der Großinvestor Warren Buffett Derivate als "finanzielle Massenvernichtungswaffen" bezeichnet hat.
 
Doch nicht um die finanzwirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Aspekte von Derivaten geht es in diesem Buch, sondern alleine um ihre technische Seite. Nach einer Einführung in Aufbau und Funktionsweise von Terminbörsen befassen sich die 17 Kapitel vor allem mit Optionen, Futures, Waren- und Devisentermingeschäften, mit nicht-börsengehandelten Derivaten (wie Swaps), Kreditderivaten wie den CDO's, die das Weltfinanzsystem gerade an den Rand des Abgrunds gebracht haben, mit "Derivaten zur Strukturierung komplexer Portfolios" und schließlich mit der "Margin", das heißt der Sicherheitsleistung, die für die meisten Termingeschäfte zu hinterlegen ist. Nur am Rande gestreift werden Zertifikate, obwohl es sich auch bei ihnen in vielen Fällen um Derivate oder aus Derivaten konstruierte (und oft hochkomplexe und in geradezu tückischer Weise undurchschaubare) Wertpapiere handelt.
 
Die beiden Autoren, ein Wertpapierspezialist der Commerzbank und ein Professor der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen, wissen zwar sehr viel, aber sie erklären es nicht sehr gut. Sie entwickeln keine Geschichte, aus der für den Leser eine schlüssige und leicht zu erinnernde Gesamtlogik entsteht, sondern reihen Informationen aneinander, die man sich als Leser ebenso verzweifelt wie vergeblich zu merken versucht. Und sie beantworten ständig Fragen, die der Leser gar nicht hatte. Als Beispiel die Unterabschnitte von Kapitel 4 "Preisbildung von Optionen":
 
4.1. Wie erfolgt die Preisbildung von Optionen in der Theorie?
4.2. Welche Werttreiber beeinflussen die Optionspreisbildung?
4.3. Was bedeuten die "Greeks"?
4.4. Was versteht man unter einer Put-Call-Paritität?
4.5. Wie wird der Optionspreis nach dem Black-Scholes-Modell bestimmt?
4.6. Wie wird der Optionspreis nach dem Binomial-Modell bestimmt?
4.7. Handelbare Optionspreise
 
Falls Sie diese Liste nicht wirklich bis zu Ende gelesen haben, haben Sie am eigenen Leib erlebt, was ich meine: Diese Punkte gehören zwar alle ohne jeglichen Zweifel zum Thema, aber es interessiert Sie und mich nicht wirklich, weil es weder Ihre noch meine Fragen sind, die da beantwortet werden, sondern nur eine Gliederung, um viele, viele Informationen geordnet unterzubringen. Sehr geordnet, aber leider auch fast folgenlos, jedenfalls ohne bleibende Spuren in meinem Gedächtnis.
 
Dabei würde schon der erste Punkt Fragen über Fragen aufwerfen. Wenn wir verstanden haben, wie die Optionspreisbildung in der Theorie funktioniert, wäre doch ausgesprochen spannend zu erfahren, wie sie in der Praxis aussieht und vor allem, wie hoch die theoretischen Preise mit den praktischen korrelieren. Mindestens ebenso spannend wäre, was die Theorie macht, wenn die Praxis ihr nicht zu folgen bereit ist. Konkret, wenn in der Praxis niemand bereit ist, den theoretisch gebildeten Preis zu bezahlen, was nützt uns dann ein theoretisch noch so gebildeter Preis? Aus wissenschaftlicher Sicht wäre die betreffende Theorie der Preisbildung dann als falsifiziert anzusehen, doch an dieser empirischen Überprüfung dieser Theorie wie auch des Black-Scholes- und des Binomialmodells sind die Autoren anscheinend gar nicht interessiert; sie beschränken sich darauf, die Modelle zu referieren, und lassen den Leser mit der praktischen Anwendung allein.
 
Alleine gelassen fühlte ich mich von den Autoren auch, als ich mich, gerüstet mit ihrem Wissen (bzw. dem, was ich davon behalten hatte), in das Optionsschein-Center von Onvista und später im Info-Broker der Commerzbank einloggte. Schon auf die Frage, ob ich einen Standard- oder einen Discount-Optionsschein suchte, wusste ich keine Antwort – und fand sie auch nicht in dem Buch. Auch bei der Entscheidung, ob die gefundenen Optionsscheine standardmäßig nach "Omega" sortiert werden sollten, ließen mich Bloss und Ernst Rat-los. So gut wie keine Hilfe geben sie dem Interessenten bei der Frage, worauf er als Investor denn nun achten sollte, um Nutzen aus Derivaten zu ziehen, und was er auf keinen Fall tun sollte (bzw. was er als Berater seinen Kunden empfehlen und wovon er ihnen abraten sollte).
 
Allzu oft bricht das Buch genau dort ab, wo sich der Leser die Frage stellt: "Und was mache ich jetzt damit?" Beispielsweise erklären sie die (meisten) gängigen Kennzahlen für Optionen (die sogenannten "Greeks"), doch sie sagen kein Wort dazu, wie man diese Kennzahlen interpretiert und welche Schlüsse man aus ihnen ziehen kann oder sollte. Als Beispiel hier die Erläuterung des "Gamma": "Während das Delta die Abweichung des Optionspreises anzeigt, informiert das Gamma darüber, um wie viel sich das Delta einer Option verändert, wenn sich der Kurs des zugrunde liegenden Basiswerts um eine Einheit verändert. Das Gamma ist das 'Delta vom Delta' und kann somit als zweite Ableitung aus dem Optionspreis oder die erste Ableitung des Deltas gesehen werde[n]. Das Gamma misst folglich die Steigung des Delta." (S. 46) Das ist ein bisserl kompliziert, und es ist sicher von Vorteil, wenn man sich aus Schulzeiten noch an den zweiten Diffenzialquozienten erinnert. Aber nun müsste doch erläutert werden, was man aus diesem Gamma ablesen kann und worauf man dabei achten sollte. Stattdessen kommt das "Rho": "Das Rho informiert, wie start sich der Wert einer Option bei einer Änderung des Zinssatzes um einen Prozentpunkt ändert. Rho ist bei einem Long Call und einem Short Put immer positiv. Rho ist bei einem Long Put und bei einem Short Call immer negativ." (S. 46) Auch hier keine weitere Erläuterung zur praktischen Anwendung. Es folgt das "Theta". Diese Zahlen – einschließlich des ominösen Omega – sind beispielsweise auf der Website der ING DiBa besser erklärt.
 
Schade: Die Autoren haben offenkundig erhebliche Erfahrung im Umgang mit Derivaten – umso bedauerlicher, dass sie ihre Leser nur an ihrem Wissen, kaum aber an dieser Erfahrung teilhaben lassen. Am Ende des Buches hat der Leser eines ganz sicherlich nicht erlangt: einen Grundstock an praktischem Handlungswissen, das ihn dazu befähigen würde, mit einem klaren Blick auf Chancen und Risiken erste geordnete Experimente mit Derivaten zu machen. Dem Anspruch des Untertitels, ein "Handbuch für Finanzintermediäre und Investoren" zu sein, wird das Buch damit nur teilweise gerecht. Für den Praktiker nützlicher sind das Glossar, das Stichwortverzeichnis und die diversen aufgeführten Eckdaten zu den (wie ich vermute) wichtigsten Derivaten und Handelssystemen. Da das allerdings Informationen sind, die rasch veralten können, wäre die Angabe von Internet-Adressen nützlich, von denen man sich den aktuellsten Stand holen kann.
 
Insgesamt wirkt das Ganze auf mich eher wie ein Handbuch zur Prüfungsvorbereitung als wie ein praktischer Ratgeber für Investoren und deren Berater. Bei der Prüfungsvorbereitung hilft sicher auch, dass die Unterüberschriften – siehe oben – schon wie Prüfungsfragen formuliert sind und dass dem Ganzen im Anhang noch mal ein Katalog mit 70 "Fragen und Aufgaben" beigegeben ist. Gerade wenn das Buch (auch) für Ausbildungszwecke dienen soll, wäre eine Diskussion der volks- und weltwirtschaftlichen "Nebenwirkungen" von Derivaten wünschenswert gewesen. Denn sonst erzieht man Fachidioten, die zwar ihre Maschinerie bedienen können, aber keinerlei Sensibilität dafür haben, was sie und ihre Kollegen damit anrichten (können).
 

Schlagworte:
Geldanlage, Derivate, Optionen, Futures

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