Die Umsetzungsberatung

Rezensionen

Weshalb wir wesentliche Entwicklungen nicht vorhersehen können

Taleb, Nassim Nicholas (2008):

Der Schwarze Schwan

Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse

Hanser (München); 442 S.; 24,90 Euro


Nutzen / Lesbarkeit: 8 / 8

Rezensent: Winfried Berner, 24.06.2009

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Ein sehr wortreiches, aber auch sehr lehrreiches Buch, das sich auf sehr lebendige Weise mit den Folgen äußerst unwahrscheinlicher, aber extrem folgenschwerer Ereignisse befasst, die jede Planbarkeit und Vorhersehbarkeit der Zukunft zunichte machen.

Alle Welt redet auf einmal von Schwarzen Schwänen – Nicholas Nassim Talebs Metapher für extrem unwahrscheinliche, aber zuweilen halt doch auftretende Ereignisse von großer Tragweite, die jede Kontinuität sprengen – und damit auch jede Vorhersagbarkeit künftiger Entwicklungen. Der 11. September 2001 war ein solches Ereignis, die deutsche Wiedervereinigung, aber auch der Siegeszug des Computers, der des Internet und der von Google.

Charakteristisch für solche "schwarzen Schwäne" ist, dass sie im Nachhinein oft sehr leicht erklärbar, ja geradezu zwingend erscheinen. Dies liegt aber, wie Taleb behauptet, nicht daran, dass sie tatsächlich vorhersehbar waren, sondern daran, dass wir Menschen die Fähigkeit besitzen und ausgiebig von ihr Gebrauch machen, das Unvorhersehbare im Nachhinein in logisch klingende Geschichten einzuspinnen, sodass es uns vorhersehbar erscheint – und damit seine Bedrohlichkeit verliert. Jede Form von Geschichtsschreibung, einschließlich der Wirtschaftsgeschichte, besteht nach seiner Auffassung nur darin, eine nachträgliche logisch klingende Geschichte in einen Gang der Ereignisse hineinzuflechten, den niemand vorhergesehen hat und den aufgrund gelegentlich aufgetretener "schwarzer Schwäne" auch niemand vorhersehen konnte. Dieser Gedanke erinnert an das Diktum von Sigmund Freud, wonach jede Krankengeschichte, im Nachhinein betrachtet, eine geradezu zwingende Logik aufweise – was aber keineswegs bedeute, dass man irgendwo am Anfang oder in der Mitte dieser Geschichte dazu in der Lage gewesen wäre, den weiteren Verlauf vorherzusagen.
 
Doch sind es nicht nur Weltereignisse, die auf unvorhersehbare Weise den Gang der Geschichte wenden – auch im Leben des Einzelnen gibt es immer wieder "Schwarze Schwäne": unvorhergesehene Glücks- wie Unglücksfälle sowie unzählige unerwartete Wendepunkte, die irgendwo dazwischen liegen. Wohl jeder findet, wenn er auf sein Leben zurückschaut, solche ungeplanten und unplanbaren Ereignisse, die seinem Leben eine andere Richtung gegeben haben.
 
Die gewichtigste Konsequenz aus dieser Erkenntnis bringt Taleb schon im Prolog auf den Punkt: "Dass wir Ausreißer nicht vorhersagen können, bedeutet angesichts ihres großen Anteils an der Dynamik der Ereignisse, dass wir den Lauf der Geschichte nicht vorhersagen können." (S. 5) Und noch auf der gleichen Seite: "Da Schwarze Schwäne sich nicht vorhersagen lassen, müssen wir uns auf ihre Existenz einstellen (statt so naiv zu sein, sie vorhersagen zu wollen)." Damit ist eigentlich das Wesentliche gesagt – die restlichen 437 Seiten sind Erläuterung. Eine eloquente, amüsante, anekdotische, wortreiche, zuweilen ärgerliche Erläuterung, manchmal ein wenig platt, zwischendurch auch mal blühender Unsinn ("Der wissenschaftlichen Lehrmeinung zufolge ist das Gedächnis wie ein serielles Aufnahmegerät, wie eine Diskette", S. 97) und in manchen Witzeleien hart an der Grenze der Pöbelei ("Wir Menschen haben den größten Kortex, danach kommen die Bankmanager, die Delfine …", S. 112), in vielen Passagen aber intelligent und zum Nachdenken anregend – und dennoch vor allem Erläuterung dieser zentralen These.
 
Natürlich ist nicht alles neu, was der umfassend belesene Taleb in diesem "Essay" schreibt – wie sollte es auch? Für mich hat es trotzdem den unschätzbaren Nutzen, dass es meinen Blick auf Risiken, Zufallsverteilungen und Wahrscheinlichkeiten erheblich verändert und geschärft hat. Vor allem die Unterscheidung von "milder und wilder Zufälligkeit" (S. 55) ist von größter theoretischer wie praktischer Bedeutung. In jenen Teilen der Realität, die Taleb bildhaft "Mediokristan" nennt, gibt es zwar auch Zufälligkeiten, aber gemäß dem "Gesetz der großen Zahl" gleichen sie sich aus: Auch der schwerste Mann der Welt wird das Durchschnittsgewicht von 1.000 Menschen nicht wesentlich verändern. In "Extremistan" hingegen genügt ein einziger Ausreißer, um das Gesamtbild von Grund auf zu verändern: Ein einziger Bestseller kann mehr verkaufte Exemplare zählen als zehntausend andere Bücher zusammen.
 
Laut Taleb spielen sich aber wesentliche Teile unseres Lebens in Extremistan ab – mit gravierenden Konsequenzen für die Planbarkeit der individuellen wie der kollektiven Zukunft. In Mediokristan gilt (näherungsweise) die Gaußsche Normalverteilung; für die Beschreibung der Zufälligkeiten in Extremistan ist sie völlig unbrauchbar. Und zu den größten Dummheiten der Menschheit zählt für ihn, die Logik der Normalverteilung und auf ihr basierende Prognosemodelle auch auf Extremistan anzuwenden. Denn auf diese Weise erzeugt man nicht nur grob fehlerhafte Prognosen, so wie unsere Wirtschaftsforschungsinstitute im Herbst und Winter 2008, sondern wiegt sich in einer trügerischen Sicherheit. Wertvoller Stoff zum Nachdenken – gerade angesichts der jüngsten Turbulenzen der Weltwirtschaft, aber auch, was unseren Umgang mit der Umwelt angeht! Denn wenn Taleb Gedanken richtig sind, welche Konsequenzen hätte dies für Gentechnik, Kernenergie und andere Technologien, deren "Schwarze Schwäne" wir nicht vorhersehen können?
 
Nachtrag 28.2.2010:
 
In Nikolaus Pipers Buch "Die große Rezession" (siehe Rezension) findet sich folgende Passage: "Die Zukunft ist auf eine fundamentale Weise unsicher. Viele der modernen Finanzprodukte gehen von der Annahme aus, dass man hinsichtlich der Zukunft zumindest eine Wahrscheinlichkeit angeben kann, dass ein bestimmtes Ereignis eintritt. Schon Keynes konnte aber beschreiben, warum diese Wahrscheinlichkeiten einem auf die Dauer nichts nützen: "Mit unsicherem Wissen will ich nicht einfach nur die Dinge, die mit Sicherheit bekannt sind, von denen unterscheiden, die nur wahrscheinlich sind. Ein Roulettespiel hat in diesem Sinne also nichts zu tun mit Unsicherheit. (...) Die Lebenserwartung eines Menschen ist nur ein wenig unsicher. Selbst das Wetter ist nur auf moderate Weise unsicher. Ich verwende den Begriff in dem Sinne, in dem die Möglichkeit eines Krieges in Europa unsicher ist oder der Zinssatz in 20 Jahren. Es gibt keine wissenschaftliche Methode, um über diese Dinge eine berechenbare Wahrscheinlichkeit zu formulieren. Wir wissen es einfach nicht." (Piper 2009, S. 160)
 
Piper macht keine Angaben, aus welchem Werk dieses Keynes-Zitat stammt. Da Keynes aber schon 1946 gestorben ist, ist nicht anzunehmen, dass er diesen Gedanken - einschließlich der Beispiele! - von Taleb übernommen hat. Auch ohne Taleb ein Plagiat unterstellen zu wollen, ist doch festzuhalten, dass "sein" zentraler Gedanke schon vor mehr als einem halben Jahrhundert von Keynes formuliert worden ist. Ich reduziere die Bewertung daher um einen Punkt.

Schlagworte:
Erkenntnistheorie, Wahrscheinlichkeit, Überraschungen, Unvorhersagbarkeit, Risikomanagement, Zufall, Gaußsche Normalverteilung, Prognosen

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