Wir haben weit weniger Kontrolle über unser Geschick als wir glauben. Statt uns trügerischen Kontrollillusionen hinzugeben, sollten wir die Ungewissheit als Tatsache akzeptieren, verstehen und uns bei unseren Entscheidungen mutig auf sie einlassen.
Lassen Sie sich nicht, wie es mir beinahe ergangen wäre, von dem chaotischen Cover abschrecken – es würde Ihnen eine ebenso kurzweilige wie lehrreiche Lektüre entgehen! Der Zweitausendeins-Versand, zu dem der Tolkemitt Verlag gehört, hat traditionell exzellente Werbetexter, doch wenn man dieses Cover sieht, bekommt man den bösen Verdacht, sie müssten bei dienstlichen Verfehlungen zur Strafe das Coverdesign machen – und würden sich dafür durch Covers wie das vorliegende rächen.
Doch das Buch hinter dem verhunzten Cover ist ausgesprochen gelungen, sowohl inhaltlich als auch stilistisch. Warum können (oder wollen) deutschsprachige Wissenschaftler nicht so schreiben wie dieses Professoren-Trio, das sich aus einem Griechen, einem in Indien geborenen Britisch-Amerikaner und einem mittlerweile in Singapur lebenden Inder zusammensetzt, die sich am INSEAD in Fontainebleau gefunden haben? Die drei haben offensichtlich keine Angst davor, dass man ihnen sowohl die Begeisterung anmerkt, die sie für ihr Thema entwickeln, als auch den Spaß, den sie bei seiner Erarbeitung hatten. Und es gelingt ihnen, sowohl das eine als auch das andere auf ihre Leser zu übertragen.
Das zentrale Thema dieses Buchs ist das Glück, und zwar im doppelten Sinne des Wortes: Sowohl im Sinne von "Glück gehabt" als auch von "glücklich sein". Die deutsche Sprache macht ja keinen Unterschied zwischen "luck" und "happiness", und die Autoren erweitern dieses ungleiche Geschwisterpaar mit dem englischen Titel "Dance With Chance" noch um ein drittes Geschwisterchen. Den Beziehungen zwischen diesen Facetten von Glück geht ihr Buch nahe, und zwar auf der Basis der empirischen Wissenschaften und der mathematischen Statistik.
"Tanz mit dem Glück" besteht aus zwei Hauptteilen: Im ersten zeigen Makridakis und Kollegen, wo wir überall Kontrollillusionen erliegen; im zweiten Teil erläutern sie, wie wir damit umgehen können, dass wir auf viele Dinge weniger Einfluss haben als geglaubt: "Wenn man realistisch bleibt und sich keine Illusionen macht, alles kontrollieren zu können, gewinnt man mehr an tatsächlicher Kontrolle über sein Leben. Wir nennen das das 'Paradox der Kontrolle'. Mit dem Glück zu tanzen meint, anzuerkennen, dass der Zufall eine entscheidende Rolle in unserem Leben spielt, dass wir ihn zwar nicht beeinflussen, aber seine Vorteile nutzen können, indem wir uns gegen seine negativen Auswirkungen wappnen." (S. 12)
In den ersten Kapiteln nehmen die Autoren die empirisch falsche Annahme auseinander, dass wir unser Schicksal beherrschen könnten, wenn wir uns nur strikt an die Empfehlungen unserer Ärzte, Finanzberater und Management-Gurus halten. Anhand harter Fakten zeigen die drei, dass sich das Vertrauen in alle drei Gruppen von Beratern als Kontrollillusion erweist: Wir glauben nur, die jeweiligen Themen damit bestmöglich im Griff zu haben, sind in Wirklichkeit aber weit davon entfernt.
Wer regelmäßig an medizinischen Vorsorgeuntersuchungen teilnimmt, lebt demnach nicht länger als der, der es nicht tut, läuft aber permanent die Gefahr einer "falsch positiven" Diagnose. Wer den Empfehlungen von Finanzberatern folgt, hat nur deren Gebühren sicher, keineswegs aber die verheißene Überrendite; er wäre besser beraten, seine Anlagen nach Zufall auszuwählen. Und wer unternehmerischen Erfolgsrezepten von Reengineering über "In Search of Excellence" bis "Good to Great" folgt, betreibt damit eher nutzlosen Aktionismus als die Zukunft seines Unternehmens zu sichern. Ein erheblicher Teil der von Peters / Waterman bzw. Collins / Porras als vorbildlich identifizierten Unternehmen ist inzwischen weit zurückgefallen; die "Vorbilder" von gestern zählen äußerst selten zu den heutigen Spitzenreitern ihrer Branche.
Die pragmatische Empfehlung der drei INSEAD-Professoren dürfte in der Dienstleistungsbranche wenig Freude auslösen: Sie raten, sich von Ärzten fernzuhalten, sofern man nicht ernsthaft krank ist – und von Finanzberatern und Management-Gurus auch dann. Doch auch ohne fremde Hilfe können wir mit dem gutgemeinten Versuch, unser Schicksal zu kontrollieren, alles nur noch schlimmer machen. Nach den Terrorakten vom 11. September 2001 sind mehr Menschen an den indirekten als an den direkten Folgen der Anschläge gestorben: Aus Angst vor weiteren Anschlägen reisten sie mit dem Auto statt mit dem Flugzeug – und verunglückten dabei, wie die sprunghaft angestiegenen Unfallzahlen beweisen. Statt uns mit aller Macht um Kontrolle zu bemühen, raten Makridakis und Kollegen, sollten wir uns damit abfinden, dass unsere Zukunft in wesentlichen Aspekten weder vorhersehbar noch beherrschbar ist. Wenn wir das akzeptierten, könne der "Tanz mit dem Glück" beginnen.
Dabei machen sie auf eine merkwürdige Asymmetrie aufmerksam: Wir tun uns mit der Vergangenheit gedanklich sehr viel leichter als mit der Zukunft. Die kanadische Psychologin Janet Bavelas hat das in einem originellen Experiment gezeigt: Sie bat "eine Gruppe von Studenten, sich vorzustellen, einer ihrer Professoren würde für ein Forschungssemester nach Europa gehen. Was würde der Professor ihrer Meinung nach dieses Jahr im Ausland machen? Eine zweite Gruppe von Studenten sollte sich vorstellen, dass derselbe Professor gerade von seinem Forschungssemester zurückgekehrt sei." (S. 191) Man sollte meinen, dass die Ergebnisse ziemlich ähnlich seien, aber das war keineswegs so: "Tatsächlich fielen die Angaben zu der vorgestellten vergangenen Reise detailreicher aus, während die Geschichten über die zukünftige Reise eher skizzenhaft und vage bleiben." (S. 191) Daraus leiten sie die Empfehlung ab, Zukunftsfragen in die Vergangenheit zu transponieren, also beispielsweise nicht zu fragen: Was sollte ich tun, um meine Ersparnisse zu vermehren, sondern sich in die Zukunft zu versetzen und im fiktiven Rückblick zu fragen: Ich habe meine Rücklagen zum Großteil verloren – was habe ich falsch gemacht? Und umgekehrt: Meine Rücklagen sind zu einem stattlichen Vermögen angewachsen – was habe ich richtig gemacht?
Was Prognosen so schwierig macht, ist, dass wir es im Leben mit zwei fundamental unterschiedlichen Arten von Ungewissheit zu tun haben. Makridakis und Kollegen nennen sie anschaulich "U-Bahn-Ungewissheit" und "Kokosnuss-Ungewissheit". Viele alltägliche Variablen streuen, so wie die Pünktlichkeit der U-Bahn, vorhersehbar um einen Mittelwert und lassen sich daher problemlos statistisch verwursten. Diese Art von Ungewissheit ist manchmal ein bisschen nervig, aber sie macht keine wirklichen Probleme. Fundamentale Probleme macht uns die "Kokosnuss-Ungewissheit": Es ist extrem unwahrscheinlich, dass uns eine auf den Kopf fällt, wenn aber doch, hinterlässt das nicht nur einen tiefen Eindruck, sondern es ändert alles, was danach kommt, und zwar von Grund auf – wie aktuell die Atomkatastrophe in Japan zeigt. Und bei der Prognose solcher Ereignisse hilft uns keine Statistik.
Als Strategie zum Umgang mit dieser fundamentalen Ungewissheit empfehlen sie ihre "Triple A-Methode": Akzeptieren – Abschätzen – Ausweiten. "Als Erstes müssen wir akzeptieren, dass es Ungewissheiten gibt, ob uns das gefällt oder nicht. Sie zu ignorieren, ist keine Option. Damit akzeptieren wir auch, dass es keine sicheren Vorhersagen gibt." (S. 233) Für das Abschätzen raten sie, nach vergleichbaren Fällen zu suchen: "Viele glauben, dass das, was sie prognostizieren wollen, einzigartig sei, wie zum Beispiel die Kursentwicklung einer neuen Aktie oder die Verkäufe eines Romans eines unbekannten Autors. In diesem Falle raten wir: Ignorieren Sie die Einzigartigkeit. Sehen Sie sich stattdessen die Verlaufsgeschichte neuer Aktien und die Verkaufszahlen von Erstlingsromanen im Allgemeinen an." (S. 235) Mit Ausweiten schließlich meinen sie: "Haben Sie die Spannweite möglicher Prognosen ermittelt, verdoppeln Sie sie." (S. 236) Spätestens danach dürfte klar sein, dass im Grunde alles passieren kann – mit einer Tendenz zu dem, was in ähnlichen Fällen am häufigsten passiert. Fundamentale Überraschungen vorbehalten.
Dass künftige Ergebnisse einfach nicht vorhersehbar sind, bedeutet auch, dass Innovation und Scheitern untrennbar zusammengehören: Wer nicht riskiert zu scheitern, wird kaum einen Durchbruch zustande bringen.
Schließlich konfrontieren uns die drei Professoren mit einer Erkenntnis, die viele Leser verwirren oder gar erschrecken dürfte. Nämlich, "dass man, um eine gute Intuition zu entwickeln, vorher sehr viel denken muss." (S. 244) Das ist harter Tobak für alle, die glauben oder hoffen, dass es die bequeme Alternative zu der Mühsal des Denkens wäre, sich einfach seiner Intuition zu überlassen. Dabei ist das meiste von dem, was die Umgebung für ein besonderes Talent oder gar eine Ausnahmebegabung hält, schlicht die Folge von 10 Jahren (bzw. mindestens 10.000 Stunden) Training. Wobei nicht allein die Quantität des Trainings zählt, sondern auch die Qualität, und hier, neben dem "Mitwachsen" des Anspruchsniveaus, vor allem die Qualität des Feedbacks.
Ein beängstigendes Beispiel ist der Vergleich zwischen einem Tennisprofi und dem diensthabenden Arzt in der Notaufnahme eines Krankenhauses. Beide müssen ständig schnell und intuitiv Entscheidungen treffen, doch während der Tennisspieler zu jedem Schlag sofort ein glasklares Feedback erhält und dadurch sein Können zur Meisterschaft entwickeln kann, tappt der Notarzt weitgehend im Dunkeln. Er "erfährt nie genau, wie es den Patienten, die er weiterleitet, später ergangen ist. Bei manchem weiß er zumindest, dass er in einer anderen Abteilung des Krankenhauses weiterbehandelt wurde. Manche wurden in andere Krankenhäuser überwiesen, und wieder andere … – er weiß es einfach nicht. Das einzige Feedback, das er bekommt, ist das von Ärzten, die sich über falsch überwiesene Patienten beschweren." (S. 251) Trotz regelmäßigen "Trainings" be- oder verhindert hier der Mangel an spezifischem Feedback die Leistungssteigerung.
Doch auch bei dem Tennisprofi entscheidet nicht allein der Trainingsfleiß, ob er es bis an die Spitze schafft. Makridakis, Hogarth und Gaba vergleichen seinen Karriereweg mit einem extrem teuren Lotterielos (10 Jahre Quälerei), das angesichts zahlreicher ähnlich einsatzfreudiger Konkurrenten trotzdem nur eine begrenzte Gewinnchance hat. Doch das stimmt nur, wenn es um die Weltrangliste, den Nobelpreis oder einen Oskar geht; es gilt nicht für die Qualität der medizinischen Versorgung. Denn hier geht es ja nicht um die Weltrangliste, sondern um ein stabil hohes Qualitätsniveau an. Das aber ist eher dem Typus der U-Bahn-Ungewissheit zuzurechnen und sollte durch ein gutes Qualitätsmanagement-System mit systematischem und schnellem Feedback durchaus erreichbar sein.
Wenn es um Entscheidungen im Angesicht von Ungewissheit geht, empfehlen die Autoren, zwischen wichtigen Routineentscheidungen – wie der Einstellung neuer Mitarbeiter oder der Zuweisung durch die Notaufnahme – und einmaligen wichtigen Entscheidungen zu unterscheiden. Bei Routineentscheidungen raten sie, sich von Kontrollillusionen zu lösen und zu akzeptieren, dass simple, aber erfahrungsbasierte Entscheidungsroutinen empirisch erfolgreicher sind als menschliche Einzelfallentscheidungen. Auf diese Weise könnten wir uns das "Paradox der Kontrolle" zunutze machen: "Auf Kontrolle zu verzichten, bringt oft mehr Kontrolle." (S. 282)
Bei schwierigen Einzelentscheidungen ist ihr Rat, nicht einfach intuitiv zu entscheiden, sondern nachzudenken – sowohl über die Sache als auch über die eigenen Emotionen und deren Botschaften. Man sollte "emotionale Reaktionen als 'Daten' oder Informationen betrachten, die man zusammen mit anderen Informationen für seine Entscheidung auswertet. Anders ausgedrückt: Registrieren und bedenken Sie sorgsam die emotionalen und alle anderen Erwägungen für ihre Entscheidung." (S. 280) Außerdem solle man die Entscheidung, wenn möglich, reifen lassen: "So profitiert man von der Beobachtung, wie sich eine Entscheidung in Abhängigkeit von der Stärke der Gefühle verändern kann. Noch einmal 'darüber zu schlafen', bevor man eine Entscheidung fällt, ist nicht umsonst zur Redewendung geworden." (S. 280)
Das ist am Ende eines Buchs über Glück, Ungewissheit und Kontrollillusionen ein überraschend "normaler", ja scheinbar banaler Rat. Aber langsam: Haben wir nicht noch im Ohr, dass man uns allenthalben das genaue Gegenteil rät? Gute Manager entscheiden doch angeblich schnell?! Und sind nicht intuitive Entscheidungen ohnehin die besten? Ganz so banal scheint der Rat von Makridakis und seinen Kollegen doch nicht zu sein. Doch liegt er recht nahe bei dem, was viele Menschen bei wichtigen Entscheidungen ohnehin tun – auch wenn die Umgebung sie dann zuweilen für ihr Zaudern schilt. Aber ganz so verkehrt ist das wohl doch nicht, auch wenn es eigene und fremde Nerven strapaziert …
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