Die Umsetzungsberatung

Rezensionen

Bahnbrechendes Interventionskonzept, nicht sehr gut erklärt

Farrelly, Frank; Brandsma, Jeffrey M. (2009):

Provokative Therapie



Springer (Berlin, Heidelberg, New York) 1986, 2. Aufl. 2009; 263 Seiten; 44,95 Euro


Nutzen / Lesbarkeit: 7 / 7

Rezensent: Winfried Berner, 18.09.2013

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Frank Farrellys Provokative Therapie überzeugt mich mehr als sein Buch über sie. So lebendig und anschaulich es in den zahlreichen Fallbeispielen und Geschichten ist, so wenig liefern die theoretischen Ausführungen ein schlüssiges Therapiekonzept.

Schade, dass der freche Charme der Provokativen Therapie in der geschriebenen Form nur eingeschränkt zur Geltung kommt. Zuweilen blitzt er durch, vor allem in den teilweise geradezu unglaublichen Fallbeispielen, aber ich glaube, wenn ich dieses Buch "unvorbereitet" in die Hand bekommen hätte, ohne zuvor durch die Videoaufzeichnung eines Farrelly-Workshops auf ihn und seinen unorthodoxen Ansatz aufmerksam geworden zu sein, hätte ich es etwas ratlos wieder zur Seite gelegt, ohne dessen bahnbrechenden Charakter erkannt zu haben.

Außer der Individualpsychologie kenne ich keinen Therapieansatz, der den Patienten so ernst nimmt und sich zugleich weniger von dessen Symptomatik beeindrucken lässt wie die Provokative Therapie. Frank Farrelly packt den Patienten nicht in Watte, als ob er zerbrechlich wäre, und denkt überhaupt nicht daran, seine Spielchen mitzuspielen und seinen Marotten mit wertschätzender Andacht zu folgen. Stattdessen provoziert er ihn, allerdings nicht auf aggressive, entwertende Weise, sondern auf eine sehr zugewandte Art. Dabei ist er, wie die vielen Beispiele zeigen, teils saugrob, teils ironisch, teils charmant, teilweise geradezu komödiantisch, etwa indem er die Problemlage maßlos übertreibt oder indem er vornehme Umschreibungen in die derbe "Sprache der Umkleidekabine" übersetzt, bis es dem Patienten zu bunt wird und er empört und erzürnt dagegenhält – und genau dadurch den ersten Schritt dazu macht, sich zu behaupten und Verantwortung für sich selbst zu übernehmen.

Ein didaktisches Meisterwerk ist dieses Buch leider nicht, und auch kein systematisches Lehrbuch – eher der Versuch, einen neuartigen, völlig unorthodoxen Therapieansatz auf nachvollziehbare Art und Weise darzustellen. Dass das Buch nicht besser geworden ist, liegt neben der teilweise holprigen und ungenauen Übersetzung wohl auch daran, dass der in diesem Frühjahr 82-jährig verstorbene Frank Farrelly kein Theoretiker und auch kein Systematiker war, sondern ein genialer Praktiker, der den Mut hatte, Dinge ganz anders zu machen als sie die herkömmlichen Psychotherapieschulen lehren, und der dann wohl einfach, ermutigt vom eigenen Erfolg, auf dem eingeschlagenen Weg immer weiter gegangen ist.

So hat er immer größere Meisterschaft entwickelt, ohne sich groß darum zu scheren, was eigentlich die Erfolgsfaktoren seines Vorgehens sind und aus welchen Gründen es therapeutisch so wirksam ist. Kein Wunder, dass Farrelly seine Ausbildungsveranstaltungen als eine Abfolge praktischer Demonstrationen angelegt hat, mit nur wenigen nachgeschobenen Erläuterungen. Und kein Wunder auch, dass seine Methodik und ihre Wirkung in diesen Demonstrationen weitaus besser nacherlebbar wird als in diesem Buch.

1. Der Anfang der provokativen Therapie

2. Annahmen und Hypothesen

3. Die Rolle des provokativen Therapeuten

4. Humor und provokative Therapie

5. Die vier Sprachen des provokativen Therapeuten

6. Die Stadien des Prozesses in der provokativen Therapie

7. Provokative Gruppen- und Familientherapie

8. Fragen und Antworten

Eigentlich könnte das durchaus eine sinnvolle Struktur für eine Einführung sein. Woran liegt es also, dass dieser Zweck – wenigstens in meinen Augen – nur teilweise erreicht wird? Frank Farrelly ist ein begnadeter Erzähler. Wo er Geschichten erzählt, hängt man buchstäblich an seinen Lippen. Doch nicht immer wird klar, worauf er mit diesen Geschichten eigentlich hinaus will. Wenn er beispielsweise im ersten Kapitel über die Entstehungsgeschichte der Provokativen Therapie erzählt, wird sehr anschaulich, wie sich das alles entwickelt hat. Aber nur im Sinne von: So (ungefähr) war es, das waren wichtige Meilensteine. Aber was genau waren die Meilensteine? Welche Erkenntnisse hat er aus diesen ersten Erfahrungen gewonnen, die seinen Weg in eine bestimmte Richtung gelenkt haben? Manchmal sagt er es, manchmal kann man es erschließen, oft kann man aber auch nur spekulieren.

Doch während die "Anfänge" sich wenigstens noch spannend lesen, sind die theoretischen Ausführungen der nachfolgenden Kapitel, von einzelnen Lichtblicken abgesehen, nur anstrengend und wenig erhellend. Auch beim zweiten Lesen habe ich mir nur wenige Passagen angestrichen, die sich wiederzufinden und zu erinnern lohnt. "Doch man muss dem Weisen / seine Weisheit auch entreißen", hat Bertolt Brecht gereimt. Ich wollte, der Koautor und der Lektor (der Originalausgabe) wären hier so fordernd wie Brechts Zöllner gewesen, dann hätte es ein ausgezeichnetes Buch werden können.

Trotz seiner Authentizität und trotz seiner faszinierenden Fallbeispiele und Geschichten kann ich dieses Buch deshalb nur eingeschränkt als Einführung in die Provokative Therapie empfehlen, am ehesten noch zur Nacharbeit und Vertiefung. Dieser Eindruck wird durch die Übersetzung noch verschärft, die teilweise sprachlich ungelenk wirkt und zuweilen Sätze enthält, deren Sinn sich mir auch nach mehrfachem Lesen nicht erschloss. Wie etwa in den abschließenden Fragen und Antworten: "Wie begrenzt sich dieses System mit den Worten des Patienten, die sagen, dass es nicht helfen kann?" (S. 237) oder "Bleiben Sie dabei, den Patienten zu provozieren, oder lassen Sie es in die vierte Stufe des Fortschritts hineinmünden, wenn der Patient die Daten dafür bringt, dass er sich verändert hat?" (S. 245) Die Übersetzung zählt leider zu denen sich, bei denen man, je weiter man beim Lesen kommt, umso stärker nach dem Originaltext sehnt. Umso bedauerlicher, dass der Springer Verlag der Neuauflage zwar ein neues Cover spendiert hat, aber keine sprachliche Überarbeitung.

Unabhängig davon stellt sich die Frage, ob Farrellys Provokative Therapie wirklich eine "Therapie" im Sinne eines integrierten Behandlungskonzepts ist oder "nur" eine von ihm zur Meisterschaft entwickelte Interventionstechnik. Für ein vollständiges Therapiemodell fehlt in meinen Augen sowohl ein explizites Modell psychischer Störungen als auch ein Erklärungsmodell dafür, wie Heilung funktioniert und warum sie so funktioniert. Implizite Annahmen darüber klingen zwar an vielen Stellen durch, doch um sie wirklich nachvollziehen und auf ihre Schlüssigkeit überprüfen zu können, müsste das Modell explizit gemacht und systematisiert werden. Doch für solch einen "großen Wurf" lassen Farrelly und sein unauffälliger Koautor Jeffrey M. Brandsma keine Neigung erkennen.

Als wertvolle Interventionsform geht die Provokative Therapie dagegen mit Bravour durch. Eine Provokation ist ja einfach eine zugespitzte, übertriebene Aussage, die den Adressaten zum Widerspruch herausfordern soll. Und genau das ist es, was Farrelly mit seinen teils drastischen Zuspitzungen bezweckt – und bewirkt. Indem er sich strikt weigert, den Klagen und Selbstherabsetzungen seiner Klienten mit Relativierungen und Beschwichtigungen zu begegnen, sondern ihnen im Gegenteil vorbehaltslos zustimmt und zum Teil noch eins draufsetzt, reizt er die Klienten zum ärgerlichen Widerspruch und zur engagierten Selbstbehauptung. So verleitet er sie dazu, aus dem ganzen Wehklagen und Gejammer auszusteigen und – oft zu ihrer eigenen Verblüffung – die positiven, wertvollen Seiten an sich selbst zu entdecken. Das ist brillant und sehr überzeugend – und eine Intervention, die sich keineswegs nur für die Psychotherapie eignet, sondern zum Beispiel auch für Beratung und Coaching.

Ergänzung 31.12.2014

Das zweite Lesen des Buches habe ich abgebrochen und mir das amerikanische Original bestellt, weil mein Unbehagen mit der Übersetzung genau wie meine Sehnsucht nach dem Original noch größer wurde als im ersten Durchgang. Und siehe da: Nun wird mir Manches klar, was mir beim ersten Lesen keinen rechten Sinn ergab.

Beispiel: Übersetzung S. 46: "Menschen verändern sich – Sie wachsen innerlich, wenn sie auf eine Herausforderung reagieren" – was will uns der Dichter damit sagen? Ich habe es nicht verstanden. Im Original wird es glasklar: "People change and grow in response to a challenge" – Mit anderen Worten: Wenn man sie herausfordert [statt sie zu schonen], wachsen Menschen und verändern sich. Das ist eine markante Aussage, und sie passt exakt zu Frank Farrelly. 

Wenn es nur um ein oder zwei solche Ungenauigkeiten ginge, würde ich hier nicht beckmessern. Natürlich gibt es auch etliche Passagen, die vielleicht ein bisschen ungelenk sind, aber Sinn ergeben. Doch es waren mir einfach zu viele solche Hänger. (Die Neuauflage von 2005 ist leider nur ein Nachdruck der nicht sehr überzeugenden Übersetzung von 1986. Wer einigermaßen Englisch kann, dem kann ich das Orginal empfehlen, auch wenn die Sprache zuweilen etwas in den Slang geht. Wer sich damit schwer tut, sollte sich die Farrelly-DVD samt der guten Erläuterungen von E. Noni Höfer gönnen: Da kann man live miterleben, was im gedruckten Text unvermeidlich etwas blutleer wirkt.

Schlagworte:
Provokative Therapie, Provokation, Kommunikation, Coaching, Gesprächsführung

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