Eines der klarsten und klügsten Bücher über Value Investing, das ich kenne. Es erklärt nicht nur sehr praxisnah die bekannten Leitgedanken, sondern gibt auch viele gute Empfehlungen zu "Seitwärts-Märkten", die ich so noch nirgendwo gelesen habe.
Vitalij Katsenelson ist gebürtiger Russe und kam erst als Jugendlicher in die USA. Trotzdem schreibt er klarer und prägnanter als viele Native Speaker – ein weiterer Beleg dafür, dass klar reden etwas mit klar denken zu tun hat, aber auch ein Hinweis auf schriftstellerisches Talent. Selten, dass ein Buch über Geldanlage so viel Spaß macht zu lesen und zugleich so viel Nutzen bietet.
Katsenelsons zentraler – und titelgebender – Gedanke ist, dass es nicht nur, wie üblicherweise unterschieden wird, Bullen- und Bärenmärkte gibt, sondern auch lange Perioden, in denen die Märkte sich seitwärts bewegen. In solchen Phasen treten die Kurse mit hoher Volatilität auf der Stelle und durchlaufen dabei eine "P/E compression". Als Tier-Metapher analog zu Bulle und Bär wählt Katsenelson dafür den feigen Löwen, der von Zeit zu Zeit aufspringt, ein paar große Sprünge macht und sich dann wieder in eine Ecke verkriecht.
Seitwärts-Märkte sind sozusagen Bärenmärkte in Zeitlupe; sie bewirken, dass das am Ende eines Bullenmarktes extrem hohe Kurs-Gewinn-Verhältnis (von meistens weit über 20) wieder auf ein normales Niveau bzw. deutlich darunter fällt (also unter 10, zuweilen sogar unter 5). Dieser Rückgang kann sich über Jahre erstrecken und wird in der Regel noch verlängert, weil Gewinne ja keine Konstante sind, sondern in schlechten Zeiten ebenfalls zurückgehen. Das Problem und zugleich die Chance ist, dass dieser Rückgang nicht kontinuierlich verläuft: "A secular sideways market is full of little (cyclical) bull and bear markets" (S. 11).
Für die "Bullen" unter den Anlegern bedeutet regelmäßigen falschen Alarm, weil der feige Löwe laut brüllt, einen gewaltigen Anlauf nimmt – und sich dann wieder hinlegt. Die "Bären" werden auf diese Weise vielfach in ihrer Meinung bestätigt, dass die vermeintlichen Rallys trügerisch sind und letztlich doch alles den Bach hinunter geht – aber sie verpassen dadurch alle Chancen, die ein solcher Markt bietet.
In Wirklichkeit passiert weder das eine oder das andere, vielmehr justiert der Markt sich neu, "sucht einen Boden", wie es die Chartisten nennen – oder baut einfach die im Bullenmarkt aufgebaute Überbewertung ab. Für "Buy-and-Hold"-Anleger ist diese Volatilität eine Qual, ein Marktumfeld, in der man es immer falsch macht, gleich ob man kauft oder verkauft: ein Pendeln zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Doch prinzipiell, so Katsenelson, eröffnen auch Seitwärtsmärkte die Chance, gute Erträge zu erwirtschaften, wenn, ja wenn es gelingt, in der Nähe dies Tiefpunkts einzusteigen und in der Nähe des Höhepunkts zu verkaufen.
Über "Market-Timing" ist das kaum zu schaffen, deshalb empfiehlt Katsenelson einen Ansatz, der auf einer Kombination von systematischem Value Investing und hoher Disziplin basiert. Danach sollte man kaufen, wenn Aktien, gemessen an den zu erwartenden Erträgen, (zu) niedrig bewertet sind, und verkaufen, wenn sie fair bewertet oder leicht überbewertet sind. Seine Empfehlung: "Buy out-of-favor, high-quality stocks that are trading at attractive valuations when others dump them." (S. 87f.)
Das setzt natürlich eine Methodik voraus, unabhängig von den aktuellen Kursen den wahren "inneren Wert" einer Aktie zu bestimmen – und genau darauf verwendet Katsenelson zentrale Kapitel seines Buches: Auf die Bestimmung der Qualität eines Unternehmens, auf die Prognose seines Wachstums sowie auf die kritische Beurteilung seines Aktienpreises.
Wichtig ist zu sehen: Die ersten beiden Kritierien beziehen sich auf das Unternehmen, das dritte auf sein Wertpapier – was zwei ganz verschiedene Dinge sind: Die Aktien eines exzellenten Unternehmens können heillos überteuert und damit ein fataler Kauf sein; die eines Unternehmens von mittlerer Qualität können sehr günstig und damit ein exzellenter Kauf sein. Deshalb erklärt Katsenelson in einem weiteren Kapitel, wie man die drei Kriterien sinnvoll zusammen bringt.
"Think long-term, act short-term in a sideways market", rät Katsenelson (S. 133) und empfiehlt "an active buy-and-sell strategy: buying stocks when they are undervalued and selling them when they are about to be fully valued, as opposed to waiting until they become overvalued." (S. 134) Das ist das erste Mal, dass ich im Kontext von Value Investing auf die Bedeutung einer durchdachten Verkaufsstrategie aufmerksam gemacht werde – und die Argumentation ist überzeugend.
Wohl unter dem Einfluss von Warren Buffett ist das Value Investing stark von einem "Buy-and-Hold"-Ansatz geprägt: Buffett betont ja immer wieder, dass er Aktien wie das ganze Unternehmen betrachte und sie kaufe, um sie "für immer" zu halten. Aber vielleicht hätte auch er, der Großmeister des Value Investing, besser daran getan, sich von dem einen oder anderen Aktienpaket zu trennen. Denn weil auch der Preis von Value-Aktien ihren "inneren Wert" (erheblich) übersteigen kann, droht auch ihnen die statistische Regression zum Mittelwert, das heißt ein Wertverlust, der (mindestens) proportional zu ihrer Überbewertung ist. Und diesen Verlust kann man sich (nur!) durch einen rechtzeitigen Verkauf ersparen: "A proper selling discipline will make the difference between great and mediocre returns for even the best crafted buy decisions." (S. 163)
Und wann ist der richtige Zeitpunkt zum Verkauf? Das folgt der gleichen Logik wie die Entscheidung zum Kauf: Kaufen sollte man, wenn eine Aktie eine ausreichende Sicherheitsmarge ("margin of safety" im Sinne des Value Investing-Erfinders Benjamin Graham) zu ihrem inneren Wert aufweist. Verkaufen, wenn diese Sicherheitsmarge erschöpft oder in einem definierten Ausmaß überschritten ist. Das steht im bewussten Widerspruch zu der alten Börsenregel: "Gewinne laufen lassen". Value Investoren verkaufen in der Regel zu früh und "verschenken" damit mögliche Gewinne, aber sie vermeiden damit Verluste, die für das langfristige Ergebnis weit schädlicher sind als entgangene Gewinne. Katsenelson unterstreicht das mit einem hübschen Zitat von Bernard Baruch: "I made my money by selling too soon." (S. 164).
Vom Konzept her ist das gar nicht so schwierig – auch wenn ich mir ausführlichere und präzisere Erklärungen zur Bestimmung des inneren Werts gewünscht hätte. Doch die Umsetzung erfordert ein hohes Maß an Disziplin: Sie macht es erforderlich, sowohl beim Kaufen als auch beim Halten als auch beim Verkaufen beharrlich gegen den jeweiligen Zeitgeist zu handeln. Deshalb garniert Katsenelson sein Buch auch ständig mit abwechslungsreich formulierten Aufrufen zur Disziplin – von Blaise Pascals schönem Satz "All man's miseries derive from not being able to sit quietly in a room alone" über Empfehlungen wie "Not participating in hysteria" (S. 138), "Plug your ears" (S. 146) und "Media are there to drive you insane" (S. 150) bis "Know what you don't know" (S. 157) und "Write down buy, fair value, and sell P/E" (S. 167).
Er hat ja so recht: "You cannot worry about marking the bottom in every buy. My objective is not to buy at the bottom and sell at the top. No, my objective is to buy a great company when it is cheap and sell it when it is fairly valued." (S. 178) Das Gleiche gilt für das Verkaufen: "You cannot worry about marking the top in every sell …" (S. 180)
Insgesamt ein ausgesprochen wertvolles und gut geschriebenes kleines Buch, das mehr Klarheit in das eigene Denken bringt. Hätte Katsenelson noch etwas systematischer dargestellt, wie man (bzw. er) den inneren Wert einer Aktie bestimmt, hätte ich freudig auch 10 Punkte für den Nutzen seines Büchleins gegeben. So bleibe ich bei 9, aber das ist ja auch nicht schlecht für ein "Little Book of ". Wer immer Geld anlegen will oder muss, sollte es im eigenen Interesse unbedingt lesen, zumal es sich weit weniger trocken liest als die meisten anderen Werke zu diesem Thema.
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