Die Umsetzungsberatung

Rezensionen

Die neue Weltordnung aus asiatischer Perspektive

Mahbubani, Kishore (2008):

The New Asian Hemisphere

The Irresistible Shift of Global Power to the East

Public Affairs / Perseus (Philadelphia PA); 314 Seiten; 13,99 Euro


Nutzen / Lesbarkeit: 9 / 8

Rezensent: Winfried Berner, 27.02.2017

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Wer nicht allzu defensiv oder beleidigt auf manche zugespitzten Aussagen reagiert, kann aus diesem Buch sehr viel darüber lernen, wie der große „Rest der Welt“ den Westen sieht und wie ein Weg zu einer neuen Weltordnung gelingen könnte.

Fast 4,5 Milliarden Asiaten leben auf der Welt – das sind fast 60 Prozent der Menschheit. Im Vergleich dazu sind die zusammen rund eine Milliarde Europäer und Nordamerikaner, die wir für das Zentrum des Universums halten, eine Minderheit. Da Asien auch wirtschaftlich und politisch an Bedeutung gewinnt, stellt sich immer dringlicher die Frage: Wie ticken eigentlich jene 60 Prozent, die die absolute Mehrheit der Weltbevölkerung stellen? Wie blicken auf die Welt und auf den Westen? Welche Erfahrungen prägen sie, und welche Ziele streben sie an?

Sicher wird man da differenzieren müssen: Die Sicht eines chinesischen Parteikaders auf die Welt und auf den Westen wird sicher nicht der gleiche sein wie der eines malayischen Händlers oder eines iranischen Jugendlichen. Aber bevor man differenzieren kann, muss man lernen. Ich zumindest habe weder von der einen noch von der anderen noch von der dritten Sichtweise eine Ahnung. Zudem sind Länder, Staaten und Weltregionen ja Kommunikationsgemeinschaften: Sie teilen bestimmte Erfahrungen, reden miteinander, tauschen ihre Sichtweisen aus und gleichen sie an. Das beginnt schon damit, dass sie mit Landkarten aufgewachsen sind, bei denen weder Europa noch die USA im Zentrum steht.

Kein Buch der Welt kann einen umfassenden Einblick in die Sichtweisen von 4,5 Milliarden Menschen geben. Aber „The New Asian Hemisphere“ ist zumindest ein guter Einstieg. Das beginnt damit, dass Kishore Mahbubani selbst mehrere asiatische Perspektiven in sich vereint: Er ist in Indien aufgewachsen, war Singapurs Botschafter bei den Vereinten Nationen und ist heute Dean und Professor für die "Practice of Public Policy" an der Nationaluniversität von Singapur. Mir jedenfalls, der von der asiatischen Sichtweise bislang kaum eine Vorstellung hatte, hat dieses Buch neue Perspektiven geöffnet.

Der „March to Modernity“

Die zentrale These Mahbubanis ist: Asien befindet sich auf einem gewaltigen und unaufhaltsamen „March to Modernity“. Der Westen könne und werde diese Entwicklung nicht aufhalten; dennoch sei von großer Bedeutung, wie er sich dazu stellt: Viel von dem weiteren Verlauf der nächsten Jahrzehnte werde davon abhängen, ob er diese historische Entwicklung begrüße und ihr Raum gebe oder ob er sie bekämpfe und seine einstige Dominanz zu verteidigen suche.

Schon in seinem Vorwort betont er: „The rise of Asia will be good for the world. Hundreds of millions of people will be rescued from the clutches of poverty.“ (S. 1) Und: „But the benefits of Asia’s rise are more than ethical. The world as a whole will become more peaceful and stable.“ (S. 2) Er sieht die Welt an einem historischen Wendepunkt: „We are entering one of the most plastic moments of world history. The decisions we make today could determine the course of the twentyfirst century.“ (S. 4)

Nach seiner Einschätzung wird dieser „March to Modernity“ letztlich auch die islamische Welt erfassen. Danach sieht es zwar im Augenblick weit weniger aus als 2008 bei Erscheinen des Buchs oder während des vermeintlichen „arabischen Frühlings“; andererseits hat er unbestreitbar Recht mit dem Hinweis, dass der Nahe Osten von der Bevölkerungszahl her nur einen Bruchteil der islamischen Welt darstellt – und dass der Islam über die Jahrhunderte auch sehr tolerante und weltoffene Traditionslinien entwickelt hat. Wenn wir ehrlich sind, sogar weit tolerantere und weltoffenere als das Christentum.

Seine große Sorge ist – und man darf vermuten, dass etliche führende Köpfe Asiens das ähnlich sehen –, dass der Westen diese historische Chance vermasselt, indem er sich diesen Entwicklungen in den Weg stellt, an einer überkommenen Weltordnung festhält und die Entwicklung so mit unnötigen Konflikten belastet, statt sie zu akzeptieren und mitzugestalten. Insofern ist „The New Asian Hemisphere“ ein eindringlicher Appell an den Westen, seine Position gegenüber Asien zu überdenken und den Weg zu einer neuen Weltordnung konstruktiv mitzugestalten, weil auf die Dauer nicht ein Siebtel der Menschheit die übrigen sechs Siebtel dominieren kann.

Westliche Werte beim Wort genommen

Überraschend, beeindruckend, ja geradezu bewegend ist, wie sehr Mahbubanis „asiatische“ Sicht auf die Welt von westlichen Gedanken, Konzepten und Werten geprägt ist – was ihm auch voll bewusst ist und er bereitwillig einräumt. Zugespitzt gesagt, ist der Unterschied nicht, dass er ganz andere Werte vertritt als wir – der Unterschied ist, dass er uns beim Wort nimmt. Er konfrontriert seine westlichen Leser mit den beschämend vielen Fällen, in denen das Handeln des Westens – oft, aber keineswegs ausschließlich der USA – im krassen Widerspruch zu den von ihm propagierten Werten und Prinzipien stand.

Und hier die nächste Überraschung: Eigentlich kennen wir (fast) alle diese Beispiele – da ist nichts, wo man als Leser geneigt wäre zu sagen: „Wenn ich das gewusst hätte …“ Fast alles haben wir zumindest gehört und stirnrunzelnd zur Kenntnis genommen, mit manchem haben uns sogar selbst kritisch auseinandergesetzt, es aber inzwischen wieder vergessen oder ad acta gelegt. Bei Mahbubani dagegen ist die Erinnerung – und die Enttäuschung – frisch. Sofern er repräsentativ für die asiatischen Eliten ist, haben wir, der Westen, dort ein gewaltiges Glaubwürdigkeits- und Vertrauensproblem. Gerade weil sich viele Asiaten von zentralen westlichen Werten angesprochen fühlen, sind sie umso tiefer enttäuscht von unserer Bigotterie.

Der zweite Irakkrieg zum Beispiel hatte auch im Westen viele Kritiker. Aber viele von uns sehen ihn heute vor allem als einen fundamentalen und folgenschweren Fehler, der maßgeblich zur Destabilisierung der ganzen Region und zum Aufstieg des IS beigetragen hat. Mahbubani sieht in ihm nach wie vor vor allem einen dreisten Bruch internationalen Rechts, und zwar ausgerechnet durch jene Mächte (bzw. einen Teil davon), die seit Jahrzehnten darauf hinarbeiten, alle Staaten dieser Welt auf diese Werte und Regeln zu verpflichten.

Das ist mehr als ein Unterschied in der Perspektive: Es lässt erahnen, wie viel Enttäuschung, Ernüchterung und Desillusionierung sich im „Rest der Welt“ über den Westen angesammelt hat – und welch gigantisches Glaubwürdigkeitsproblem wir haben. Da erkennen inzwischen die meisten Länder dieser Welt einschließlich Asiens zentrale westliche Werte als gültig an – und müssen nun erleben, wie sich ihre westlichen Vorkämpfer einen Dreck um sie scheren, wenn sie ihren kurzfristigen eigenen Interessen und Zielen im Weg stehen.

Jenseits des rein quantitativen Arguments mit den Bevölkerungszahlen könnte dies auch erklären, weshalb Asien nicht mehr bereit ist, dem Westen die Führung zu überlassen, und auf eine neue Weltordnung drängt – und weshalb es diesem Umbruch zugleich mit Sorgen entgegensieht. Es macht auch verständlich, weshalb sich zuweilen ein mahnender, warnender Unterton in Mahbubanis Argumentation einschleicht: Ihr im Westen werdet diesen Umbruch nicht verhindern – und ihr tätet im eigenen Interesse wie in dem der Weltgemeinschaft gut daran, euch ihm nicht in den Weg zu stellen.

„Moderne“ ist weit mehr als Konsum

Für die Entwicklung der nächsten 50 Jahre sieht Mahbubani drei Szenarien: Das wahrscheinlichste und von ihm bevorzugte ist der „March to Modernity“. Das zweite ist ein „Retreat into Fortresses“, also eine von Abschottung und Isolationismus geprägte Weltordnung. Das dritte und aus seiner Sicht unwahrscheinlichste ist, dass die westliche Zivilisation sich global durchsetzt und eine „Verwestlichung der Welt“ bewirkt – etwa im Sinne von Francis Fukayamas „End of History“. Da nach seiner Einschätzung viele im Westen mit diesen Szenario sympathisieren, verwendet Mahbubani viel Raum darauf zu zeigen, weshalb sein Eintritt weder sehr realistisch noch sonderlich anstrebenswert ist.

Was er mit „Modernity“ genau meint, beschreibt er eindrucksvoll anhand seiner Erinnerung an eine sehr konkrete Erfahrung, die für ihn persönlich den Eintritt der Moderne markierte, nämlich die Einführung von – Spültoiletten. Wie er schreibt, wuchs er in sehr einfachen Verhältnissen mit vier Personen in einem Raum auf. Doch was ihn und seine Familie am meisten belastete, war nicht die Enge, sondern die Tatsache, dass für ihre Notdurft nur ein Blechkübel zu Verfügung stand, der täglich ausgetauscht wurde und sich dann im Laufe des Tages füllte. Die Spültoilette, so Mahbubani, ermöglichte ihm und seiner Familie ein Leben in größerer Würde. Für mich war es berührend, das zu lesen, weil es mir bewusst machte, dass technische Errungenschaften nicht nur mehr Komfort und Abwechslung bedeuten, sondern, viel grundlegender, ein anderes Leben.

In ähnlich radikaler Weise veränderten Fernsehen und Mobilfunk die Lebenswelt der armen Landbevölkerung: Jene Soap Operas mit Vorstadtszenen standen in scharfem Kontrast zu seinen eigenen Lebensumständen; „they provided me with a vision of what an ideal world could be“ (S. 16). Smartphones ermöglichen es Bauern, die Marktpreise für ihre Erzeugnisse zu recherchieren – mit der Folge, dass sie den Händlern nicht mehr so ausgeliefert sind. Mobiles Banking gibt Menschen, die nie ein Konto besaßen, plötzlich neue Freiheiten im Umgang mit Geld.

Mit anderen Worten, bei dem „March to Modernity“ geht es um weit mehr als nur um Konsum – und es ist wohl notwendig, uns wohlstandsverwöhnte Westler darauf mit der Nase zu stoßen: Es geht um Würde, um Selbstwertgefühl, um Freiheit, Gesundheit, um mehr Sicherheit vor Verbrechen, um Lernen und Bildung. „The virtues of modernity are not purely material. Though the material gains are important, population deprived of shelter, water, and electricity (to name just three basic needs) feel an enormous psychological boost and a surge of hope when they gain access to these improvements.“ (S. 16)

Auf dem Weg zu einer friedlichen und sicheren Welt

Nach Mahbubanis Auffassung wird das die Welt verändern, und zwar grundlegend. Die Klage mancher Intellektueller, dass nach dem Westen nun auch Asien dem Konsumerismus zum Opfer falle, geht nach seiner Auffassung am Kern der Sache vorbei: „They are not merely becoming more materialistic. More importantly, they are becoming responsible stakeholders in the modern world. When billions of people become stakeholders of peace and prosperity, they steer the world history in a positive direction. (…) If we become more optimistic, the world becomes a more optimistic place.“ (S. 17)

„The real value of free-market economics is not just the improvements in economic productivity. It is about how it uplifts the human spirit and liberates the minds of hundreds of millions of people who now feel that they can finally take charge of their destinies. This is why Asia is marching forward.“ (S. 18) Diese Sätze lassen ahnen, dass diejenigen, die diese Vision erfasst hat, wenig Neigung verspüren, sich auf ihrem Weg in eine bessere Zukunft von einer mäkeligen Minderheit von Westlern aufhalten zu lassen.

Aber noch mehr: „The most important ethical result of the March to Modernity may well be a more stable an peaceful world.“ (S. 21) Der größte zivilisatorische Fortschritt ist nach seiner Auffassung nicht dann erreicht, wenn die Menschheit aufhört, Kriege zu führen, sondern wenn die Wahrscheinlichkeit von Kriegen, wie in Europa und Nordamerika, gegen Null geht, weil eine (relativ) wohlhabende und mächtige Mittelschicht von Kriegen nichts mehr zu gewinnen hat. Aus demselben Grund glaubt er auch, dass sich Rechtssicherheit („the rule of law“) ausbreiten wird: „There can be no personal freedom without personal security.“ (S. 21)

Am Scheideweg

„The course of world history will be determined by how the West reacts to this great Asian March to Modernity,“ insistiert Mahbubani. „The West has two clear alternatives. It could welcome and embrace the spread of modernization and continue to work with Asia toward opening the world order. Alternatively, it could feel increasingly threatened by the success of Asia and begin to retreat into fortresses, political and economic.“ (S. 26)

Beide Tendenzen seien zu beobachten, meint Mahbubani, doch die zur Abschottung sei stärker geworden. Das dürfte sich in den Jahren seit Erscheinen des Buches im Jahr 2008 eher verstärkt haben – nicht nur wegen den bösen USA, sondern auch, weil viele europäische Märkte viel stärker abgeschottet sind als uns Europäern bewusst ist. Das Paradebeispiel ist die Landwirtschaft: Ausgerechnet in einer der am dichtesten besiedelten Weltregionen produzieren wir hochsubventioniert und mit verheerenden ökologischen Folgen Exportüberschüsse, erschweren Lebensmittelimporte aber zugleich massiv.

Allerdings darf man sehr wohl fragen, ob unlimitierter Freihandel tatsächlich die beste Möglichkeit ist, die internationalen Beziehungen zu gestalten. Zwar zitiert Mahbubani eine Schätzung der Weltbank, „that the full elimination of trade barriers can lift tens of millions more out of poverty“ (S. 28), aber die Weltbank ist natürlich keine neutrale Instanz, und vor allem ist sie Teil einer ökonomischen Ideologie, welche die Vorzüge des Freihandels aufgrund theoretischer Denkmodelle (wie komparative Wettbewerbsvorteile) glorifiziert, seine empirisch beobachtbaren Nachteile (wie das „race to the bottom“ bei den Löhnen und das Ausbluten der Mittelschicht) konsequent ignoriert. Gerade dieser ideologisierte Freihandelsdogmatismus provoziert aber als Gegenreaktion dumpfe und kurzsichtige protektionistische Tendenzen.

Der unaufhaltsame Aufstieg Asiens

Den unaufhaltsamen Aufstieg Asiens erklärt Mahbubani im zweiten Kapitel zu meinem nicht gelinden Erstaunen damit, dass sich Asien nach langem Zögern – und er schreibt das ohne jede Ironie – „seven pillars of Western wisdom“ (S. 52) zu Eigen gemacht habe. Nämlich „Free-Market Economics“, „Science and Technology“, „Meritocracy“, „Pragmatism“, „Culture of Peace“, „Rule of Law“, „Education“. (Wenn man sich von seinem geschmeichelten Gefühl erholt hat und etwas genauer hinschaut, könnte man den Eindruck haben, dass einige dieser vorgeblich „zentralen westlichen Werte“ zumindest sehr wohlwollend interpretiert sind – aber sei’s drum.)

Angesichts der Tatsache, dass Asien zentrale westliche Werte adaptiert hat, stellt Mahbubani im dritten Kapitel die ebenso verblüffende wie berechtigte Frage: „Why Is the West Not Celebrating?“ (S. 101) Und in der Tat: Statt diese Entwicklung zu begrüßen, reagieren wir, der Westen, irritiert, mit Skepsis – und versuchen, die alte Weltordnung aufrecht zu erhalten. Man kann leider kaum widersprechen, wenn Mahbubani mit Blick auf den Weltsicherheitsrat und die G7 feststellt: „The great paradox of the twentyfirst century is that this undemocratic world order is sustained by the world’s most democratic nation-states, the Western nations.“ (S. 104)

Ähnliches gilt für die westlichen Medien, die Universitäten wie auch für die Banken: Auch sie dominieren die Welt. Sowohl das geraubte als auch das erworbene Vermögen der Welt liegt zum Großteil auf westlichen Konten.

Mahbubani sieht die Welt daher an einem kritischen Scheideweg: „So far, the West has refused either to admit its domination of the world or to contemplate sharing power in a new world order. This is a prescription for eventual disaster. In the short term – that is to say, now – it will produce a progressive delegitimization of Western power, accompanied by a matching cultural backlash. We have entered the turbulent era of de-Westernization.“ (S. 126)

Was die Entwicklungstendenz betrifft, leuchtet mir das ein – ob das in ein Desaster münden kann oder muss, bin ich mir nicht so sicher. Vielleicht ist es sogar zwingend, dass Asien eigene Medien, Universitäten und Banken aufbauen muss: Eine starke Stellung in der Weltpolitik, Weltkultur und Weltwirtschaft kann man nicht von anderen eingeräumt bekommen, man muss sie sich erwerben und, ja, im Wettbewerb erkämpfen. Was ja auch in vollem Gange ist. Am heikelsten ist dabei wohl die internationale Politik, denn in der Tat ist es kaum auf die Dauer haltbar, dass der Westen zum Beispiel den Weltsicherheitsrat majorisiert.

Ein verengtes, einseitiges Verständnis von Freiheit

Um diese „De-Westernization“ sowie den „Return of History“ geht es im vierten Kapitel. „A steady delegitimization of Western power and influence is underway“, stellt Mahbubani fest (S. 130). „The mindsets of the largest populations of Asia – the Chinese, the Muslims, and the Indians – have been changed irrevocably. Where once they may have happily borrowed Western lenses and Western cultural perspectives to look at the world, now, with growing cultural self-confidence, their perceptions are growing further an further apart.“ (S. 131)

Einer der Punkte, in denen Mahbubani meine Sicht auf die Welt verändert hat, ist das Thema Freiheit. Hier propagiert der Westen nach seiner Auffassung ein allzu enges Verständnis, wenn er „freie“ und „unfreie“ Länder ausschließlich danach unterscheidet, ob dort das Recht auf freie Meinungsäußerung gilt und die Regierungen demokratisch gewählt werden. Für ihn ist Freiheit facettenreicher und komplexer; sie hat viele, aufeinander aufbauende Ebenen.

Für jemanden, der kaum dazu in der Lage ist, sich und seine Familie durchzubringen, ist der westliche Freiheitsbegriff ziemlich abgehoben: Er wird seine politische Führung weitaus mehr daran messen, ob sie ihm die Freiheit von Mangel ermöglicht. Die nächste Stufe ist „freedom of security“ (S. 135). Erst wenn man einigermaßen sicher sein kann, nicht ausgeraubt, erschlagen oder in die Luft gesprengt zu werden, gewinnt die „freedom to choose one’s employment“ an Bedeutung (S. 135). „Viewed from this perspective, one can understand why hundreds of millions feel this great sense of liberation with the arrival of free-market economics.“ (S. 136)

Es geht weiter mit „freedom from arbitrary arrest and detention“ sowie „rule of law“ (S. 137). In der Tat ist es ein sehr moderner, geradezu revolutionärer Gedanke, dass sich auch die Herrschenden an Recht und Gesetz halten müssen – und nicht nur in Schwellenländern, sondern auch im Westen zeigt die Empirie immer wieder, wie fremd manchen, die es zu etwas gebracht haben, die Vorstellung ist, dass sie sich trotzdem an die geltenden Regeln gebunden sind.

Eine noch höhere Stufe ist „freedom to think“ (S. 139), die Voraussetzung für, aber nicht gleichbedeutend mit der „freedom of expression“ ist (S. 139). Uns im Westen ist nicht nur die Erinnerung daran verloren gegangen, wie hart Gedankenfreiheit erkämpft werden musste. Und es ist auch keineswegs allen bewusst, dass die freie Meinungsäußerung ein ziemlich hohles Recht ist, solange diejenigen, die sie ausüben, nicht zuvor von der „freedom to think“ Gebrauch machen.

Die „freedom to choose one’s ruler“ (S. 142) mag die Krone aller Freiheiten sein, aber eine Krone nützt wenig, wenn sie nicht auf einem Kopf und einem Körper ruht. Im Grunde zeugt es von atemberaubender Verblendung und Arroganz, in Staaten wie dem heutigen Irak oder gar in Syrien freie Wahlen anzustreben. Solange es an Sicherheit, an der Freiheit von Willkür, ja, am Allernötigsten zum Überleben fehlt, haben die Leute andere Sorgen, und „freie Wahlen“ wären ein aufgesetztes, sinnfreies Scharadenspiel.

Wer trotzdem glaubt, dass freie Wahlen immer und überall unverzichtbar wären, den lade ich zu einem kleinen Gedankenexperiment ein: Angenommen, wir würden eine Weltregierung wählen, und zwar nach dem demokratischen Prinzip „one man, one vote“. Die Zusammensetzung der Weltbevölkerung hätte zur Folge, dass die Europäer bei dieser Wahl etwa vier Prozent der Stimmen hätten, die Amerikaner weitere drei. Kein Problem damit? Oder vielleicht doch? Oder wie wäre es mit einer europäischen Regierung?

Das fundamentale demokratische Prinzip „one man, one vote“ setzt eine Gesellschaft voraus, die sich als ein einigermaßen einheitliches „Wir“ versteht. In einem Staat, der in ethnische Gruppen, Religionsgemeinschaften oder andere separierende Identitäten zerfällt, spiegeln freie Wahlen im Wesentlichen die Mehrheitsverhältnisse zwischen den Subkulturen, und die Gewählten werden sich in erster Linie als Interessenvertreter ihrer Gemeinschaft verstehen. (Was vielleicht auch einer der Gründe ist, weshalb die europäische Politik mehr schlecht als recht funktioniert.)

Die „Founding Fathers“, die die amerikanische Verfassung begründet haben, wussten besser als viele ihrer heutigen Nachfahren, weshalb sie die amerikanische Wahlordnung so konzipiert haben, dass eben nicht die Mehrheit der Stimmen zählt (sonst wäre Hilary Clinton Präsidentin), sondern dafür sorgten, dass die finanziell und bevölkerungsreichen Küstenstaaten die „Fly-over-States“ nicht majorisieren können. Das verletzt eklatant das Prinzip „one man, one vote“, aber es ist wahrscheinlich eine kluge, vielleicht sogar eine unverzichtbare Konstruktion, um den Zusammenhalt der Vereinigten Staaten zu sichern – eine, die wohl auch in frischer Erinnerung an den Bürgerkrieg geschaffen wurde.

So besehen, täte der Westen wohl gut daran, sein geradezu verbohrtes Verständnis von „Freiheit = demokratische Wahlen“ zugunsten einer differenzierteren Betrachtungsweise aufzugeben.

Unbeteiligter Retter oder Teil des Problems?

Provokant überschreibt Mahbubani das fünfte Kapitel „Eastern Competence, Western Incompetence?“ Das Fragezeichen ändert nichts an der aus meiner Sicht unnötigen Schärfe, die das in die Diskussion bringt. Doch die zahlreichen Beispiele, die er darin detailliert untersucht, machen nachdenklich. In der Tat hat der Recht, dass wir im Westen die Weltpolitik stark aus einer Retter-Opfer-Perspektive betrachten: Überall auf der Welt gibt es Krisen, und wir, der Westen, sind gefragt, die Lösungen dafür zu bringen. Das gelingt uns, wie im Nahen Osten, leider nicht immer, aber zumindest tun wir unser Möglichstes, um Ruhe und Frieden in die Krisenregionen zu bringen.

Mahbubani konfrontiert uns damit, dass wir bei etlichen dieser Krisen keinesweg der unbeteiligte Dritte sind, der angesichts eines brennenden Problems nolens-volens in die Rolle des Retters schlüpft. Öfter als wir wahrhaben wollen, sind wir Teil des Problems, oft wohl sogar eine wesentliche Ursache davon (wenn auch selten die alleinige). Ich bin zum Beispiel erschrocken über seine Feststellung, dass der Westen für seinen ungehemmten Ölverbrauch gigantische Mengen an Geld an autokratische Regime bezahlt und so Unterdrückung und radikalen Islamismus ebenso finanziert wie die weitere Aufrüstung in einer der explosivsten Weltregionen. Können wir unsere Hände da wirklich in Unschuld waschen, weil wir ja nur unsere Rechnungen bezahlen und nicht dafür verantwortlich sind, was die Empfänger mit „unserem“ Geld machen?

Nicht nur im Irak bescheinigt Mahbubani dem Westen bei seinen Interventionen eine „remarkably poor execution“ (S. 179) Während beispielsweise Japan 1942 bei seiner Besetzung Hongkongs die Polizei wie die Zivilverwaltung im Amt ließ, lösten die Amerikaner im Irak den gesamten Apparat auf und ließen das Land ins Chaos abgleiten, offenbar ohne einen Plan zu haben oder auch nur die Einsicht, dass ein solcher Plan erforderlich wäre. „Stuff happens“, erklärte Donald Rumsfeld seinerzeit in fröhlicher Unverantwortlichkeit.

Überall auf der Welt (genauer: überall außer in Saudi-Arabien) fordert der Westen freie Wahlen – und bestraft dann die Länder, die falsch gewählt haben, offenbar ohne darin einen Widerspruch zu sehen, kritisiert Mahbubani. Ab und zu stürzt er auch mal eine gewählte Regierung oder bringt sie durch Sanktionen zu Fall, um allzu eklatante „Wahlfehler“ zu korrigieren.

Seine Bemühungen um Friedensstiftung schlagen regelmäßig fehl, weil er nicht als ehrlicher Makler empfunden wird. Und im Iran können die USA, was Unversöhnlichkeit und ideologische Verblendung betrifft, mühelos mit den verbohrtesten Mullahs mithalten. Bei zentralen Zukunftsfragen, gleich ob Erderwärmung oder atomare Abrüstung, versagt der Westen, weil er mit zweierlei Maß misst. Die eigenen Sonderrechte zu verteidigen und von anderen Einschränkung zu verlangen, könne nicht funktionieren.

Von Asien lernen?

Man liest diese Litanei mit zunehmendem Unbehagen – wenigstens geht es mir so. Auf die Dauer ist es schwierig, sich nicht angegriffen zu fühlen – das zeigen auch viele Rezensionen dieses Buchs. Wenn er wenigstens Unrecht hätte und leicht zu widerlegen wäre! Doch seine Beispiele mögen selektiv sein, aber es sind verdammt viele, und sie sind detailliert und differenziert dargestellt und nicht leicht von der Hand zu weisen.

„Learning from Asian Competence“, ist der letzte Abschnitt dieses Kapitels überschrieben – und spätestens hier wird klar, dass das Fragezeichen in der Kapitelüberschrift wohl eher dem Deeskalationsbemühen des Verlags geschuldet ist als der Intention des Autors. Doch auch hier hat Mahbubani gute Beispiele – und ich muss gestehen, mich nicht gut genug auszukennen, um ihnen Gegenbeispiele entgegenhalten zu können.

Im Gegensatz zu der des Westens ist die Außenpolitik Asiens und vor allem Chinas nach seinen Worten von Pragmatismus und einer langfristigen Perspektive bestimmt. Die USA hat ASEAN ins Leben gerufen, um China „einzudämmen“, doch China hat darauf nicht trotzig reagiert, sondern den ASEAN-Staaten ein großzügiges Freihandelsabkommen angeboten: Nicht aus Altruismus, sondern aus, wie Mahbubani schreibt, „real politik“ (S. 229). China hat früh verstanden, dass es nur Probleme gibt, wenn es bei seinem Aufstieg seine Nachbarn abhängt, und es hat Konsequenzen aus dieser Erkenntnis gezogen.

Im Kontrast dazu ist es geradezu peinlich auf Europa zu schauen. „If we do not develop Africa, they will flood the world“, hat der damalige französische Präsident Jacques Chirac im Juli 2006 gewarnt (S. 217). Wir können also nicht einmal zu unserer Entschuldigung vorbringen, dass wir nicht gewusst haben, welche Folgen es hat, wenn ein solch dramatisches Wohlstandsgefälle sozusagen „auf Sichtweite über das Mittelmeer“ besteht. Ebenso wenig haben wir es geschafft, dem Nahen Osten etwa durch ein Freihandelsabkommen à la China / ASEAN auf die Beine zu helfen.

Das Unangenehme ist nicht, dass Mahbubani uns mit der Nase auf unser Versagen stößt, das eigentlich Unangenehme ist, dass er damit im Großen und Ganzen recht hat: „If the EU were as capable as China in calculating its long-term geopolitical interests, it would have tried to match China in proposing an FTA [free-trade agreement] to its neighbors in North Africa, the Middle East, or the Balkans. Instead of trying to deepen cooperation among its member states (…), the EU should have tried to widen the impact of its prosperity by sharing it with its neighbors. Despite the size and strength of its economy, little of the EU prosperity has spilled over into its immediate neighbors to the south. This is a result of the absence of any long-term strategic thinking guiding EU’s policies.“ (S. 232)

Wie gesagt: Wenn er nur wenigstens Unrecht hätte!

Auf dem Weg zu einer neuen Weltordnung

Im letzten Kapitel „Prerequisites for Global Leadership: Principles, Partnerships, and Pragmatism“ stellt Mahbubani zunächst fest, dass heute und in Zukunft keine einzelne Nation mehr als Führer der Weltgemeinschaft in Frage kommt, dass aber auch die zuweilen diskutierte Idee einer „Weltregierung“ keine Option ist: „Global government is not the answer. Global governance is needed urgently. We need to develop both institutions and rules to manage the world as a whole, institutions and rules that reflect the wishes and interests of 6.5 billion inhabitants.“ (S. 242)

Die Voraussetzungen dafür wären nach seiner Ansicht gegeben: „Most modern societies apply, directly or indirectly, the key Western principles of domestic governance (democracy, rule of law, and social justice). The challenge of the twenty-first century is to apply them globally in a careful and prudent fashion.“ (S. 240)

Das natürliche Forum dafür wären die Vereinten Nationen. Allerdings würde dies eine Demokratisierung ihrer Institutionen, insbesondere des Weltsicherheitsrats, voraussetzen. Tatsächlich ist schwer vorstellbar, dass sich die Staaten und Völker dieser Welt auf die Dauer eine Führungsstruktur gefallen lassen, die mehr einer Erbmonarchie – Mahbubani spricht von Diktatur – ähnelt als einer demokratischen Repräsentation. Der Westen tut weder sich noch dem Weltfrieden einen Gefallen, wenn er an dieser undemokratischen Struktur so lange starr festhält, bis es zum Bruch kommt.

Am Ende seines Buchs legt Mahbubani dem Westen nahe, sich vom Ballast der Geschichte zu befreien und sich einem konstruktiven, optimistischen Pragmatismus zuzuwenden: „One of the key goals of this book is to restore Western optimism about the future of our world. Western minds can make one simple change to become more optimistic: they need to drop all the ideological baggage they accumulated in the several eras of Western triumphalisms, and they must stop believing they can remake the world in their own image. The world can no longer be Westernized.“ (S. 272) Deshalb bringt er zum Schluss ein paar Beispiele „how the application of pragmatism can lead to a better world.“ (S. 273)

Vielleicht müssen wir im Westen in der Tat einfach lernen, loszulassen und darauf zu vertrauen, dass es die Mehrheit der Weltgesellschaft schon hinkriegen wird, die Welt auch ohne unsere Dauerpatronage zu führen. Dabei ist es Grund zu der Hoffnung, dass es „die anderen“ auch nicht so viel schlechter machen werden als wir, und zwar einfach deshalb, weil wir, sarkastisch gesagt, den Spielraum nach unten schon ziemlich ausgeschöpft haben.

Aber vielleicht liegen genau hier unsere Ängste: Wenn die anderen mit uns so umspringen wie wir mit ihnen in den letzten 50, 100, 300 oder 500 Jahren, dann gute Nacht. Doch das werden wir nicht verhindern, indem wir uns verzweifelt an die alte Ordnung klammern – das werden wir am ehesten verhindern, wenn wir uns auf den überfälligen Weg der Kooperation einlassen.

Verlangen nach Gleichwertigkeit

Auf diesen letzten Seiten seines ansonsten trotz aller Kritik abgewogenen und reflektierten Buchs leistet sich Mahbubani einen bemerkenswerten Ausrutscher. Er berichtet über einen – in der Tat unglaublichen – diplomatischen Fauxpas, bei dem luxemburgische Offizielle einem hochrangigen malaysischen Diplomaten den Zutritt zu einem zu seinen Ehren veranstalteten Bankett verweigerten, weil er keine Einladung vorweisen konnte. Mahbubani bringt das in Verbindung mit einem lange zurückliegenden Ereignis, bei dem Mahatma Gandhi in Südafrika trotz gültigen Tickets aus dem Erste-Klasse-Abteil eines Zugs verwiesen wurde, und resümiert: „It was a clear demonstration that Asians were meant to be second-class citizens.“ (S. 266)

Das ist natürlich eine absurde Generalisierung eines Einzelfalls und hat, wie ich unverdrossen hoffe, nur wenig mit der vorherrschenden Haltung der europäischen Politik und Wirtschaft zu Asien zu tun. Aber gerade deshalb vermittelt dieser unerwartet heftige Ausbruch vielleicht mehr Einblick in die Emotionalität hinter den vielen Sachargumenten als alle Zahlen, Daten und Fakten. Es signalisiert ein Grundgefühl, von den Europäern nicht als gleichwertig anerkannt und akzeptiert zu sein. Gerade weil dieser Ausbruch nach 265 um eine faire und sachliche Darstellung bemühten Seiten so überraschend kommt, ist er ein ausgesprochen wertvoller Hinweis darauf, wo unter der Oberfläche Empfindlichkeiten liegen, auf die wir vielleicht gar nicht gefasst sind, auf die wir uns aber umso mehr einstellen sollten.

Völlig recht hat er aber mit seiner bohrenden Frage, warum wir Europäer es im Gegensatz zu China nicht geschafft haben, die Spannungen abzufedern und auszugleichen, die sich beinahe zwangsläufig aus dem wirtschaftlichen Ungleichgewicht zwischen Kerneuropa und seinen Nachbarn im Süden und Osten ergeben. Warum haben wir es beispielsweise nicht geschafft, Handelsbeziehungen zum beiderseitigen Nutzen etwa mit Nordafrika, Kleinasien oder den nordwestasiatischen Staaten aufzubauen?

Wenn der Grund nicht in „cultural arrogance“ (S. 266) liegt, wie Mahbubani nachlegt, dann muss es ja andere Gründe geben. Worin immer sie liegen, die Tatsache selbst lässt sich ja nicht verleugnen – und dafür bezahlen wir und noch mehr die Betroffenen, wie immer deutlicher wird, einen hohen Preis, weil sich Armut, Unterbeschäftigung und Sinnverlust in gewaltige Fluchtbewegungen übersetzen.

Auch wenn man nicht allem zustimmen muss, was Mahbubani schreibt, und manche Aussagen vielleicht auch überspitzt oder überzogen finden wird, gibt „The New Asian Hemisphere“ viel Stoff zum Nachdenken. Und wer nicht allzu defensiv oder beleidigt auf manche zugespitzten Aussagen reagiert, wird daraus viel darüber lernen, wie der große „Rest der Welt“ den Westen sieht und wie ein Weg zu einer neuen Weltordnung gelingen könnte.

Schlagworte:
Weltwirtschaft, Weltfrieden, Internationale Beziehungen, Asien, Westen, USA, Europa, Freihandel

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