Obwohl selbst der Zielgruppe der "Neunzehnfünfziger" angehörend, habe ich mich in dem Buch kaum wiedergefunden. Es ist wohl doch allzu monokausal, das Lebensgefühl einer Generation den unverarbeiteten Kriegserlebnissen ihrer Väter zuzuschreiben.
In meinen frühesten Erinnerungen an die Karlsruher Südweststadt, in der ich aufgewachsen bin, kommen noch Kriegsruinen mit brettervernagelten Fensterhöhlen wie auch Brachgrundstücke vor – wobei ich nicht weiß, ob unter deren Ruderalvegetation die Reste von bis auf die Grundmauern ausgebrannten Häusern lagen oder ob sie einfach unbebaut waren. Und bestimmt war auch die äußerste Sparsamkeit meiner Eltern und Großeltern mit Lebensmittelresten und ihre politische Ängstlichkeit ("Es kommen auch wieder andere Zeiten!") ihren Erfahrung mit Krieg und Naziherrschaft geschuldet.
Doch für uns Kinder war das nichts Besonderes – so war eben die Welt; eine andere als die, in die wir hineingeboren waren, kannten wir ja nicht. Und zumindest in meinem subjektiven Erleben hat der erst wenige Jahre zurückliegende Krieg und die daran anschließenden Hungerjahre und Kältewinter keine Rolle gespielt. Das mag auch damit zusammenhängen, dass von unserer Verwandtschaft kaum jemand "im Krieg geblieben ist" oder – körperlich oder seelisch – "schwerversehrt" zurückkam. So viel Glück hatten nicht viele Familien: Das schafft unterschiedliche Ausgangspunkte und damit unterschiedliche Basiserfahrungen.
Bei mir kein Wiedererkennungseffekt
Als Kind und Jugendlicher hat man ja keinen Vergleichsmaßstab: Die Eltern und Verwandten, aber auch Bekannte und Nachbarn sind so, wie sie sind. Ihren Charakter und ihre Eigenheiten schreibt man eher ihnen als Person zu als ihrer Lebensgeschichte und speziell ihren (Kriegs-)Erlebnissen.
Das hat sicherlich auch mit den Erklärungsmustern zu tun, die man als Kind hört und übernimmt: Ich kann mich nicht erinnern, in meinen jungen Jahren Erklärungen gehört zu haben, die das Verhalten eines Menschen mit seinen bzw. ihren Kriegserlebnissen in Verbindung brachte. Mag sein, dass man das unter den Erwachsenen nicht aussprechen brauchte, weil es ohnehin klar war, oder dass man uns Kinder schonen wollte. Aber wie auch immer: Es hat für mein Welt- und Menschenbild keine identifizierbare Rolle gespielt.
Auch im Nachhinein fällt es mir nicht wie Schuppen von den Augen, wenn ich in den Berichten und Interviews der Kölner Journalistin Sabine Bode lese, wie sehr das Aufwachsen und die Persönlichkeitsentwicklung vieler "Nachkriegskinder" von Verhaltensmustern ihrer "Soldatenväter" geprägt war, die sie – spekulativ und zwangsläufig unbeweisbar – deren Kriegserfahrungen zuschreiben. Wobei dieser enge und fast ausschließliche Fokus umso mehr irritiert, je weiter das Buch fortschreitet.
Denn wenn ein Vater verschlossen und unerrreichbar ist, ein anderer häufig betrunken und depressiv, und ein dritter seine Kinder mit dem Lederriemen durchprügelt: Wie zwingend ist es, das alles auf traumatisierende Kriegserlebnisse zurückzuführen? War der gelegentlich hervorbrechende Jähzorn meines Vaters (den ich auch von mir kenne) tatsächlich eine Folge seiner Kriegserlebnisse, oder war er einfach Teil seines Charakters bzw. hatte er dieses Lebensstilmuster schon in frühen Lebensjahren gewählt, weil es ihm als Jüngstem einer achtköpfigen Familie half, seine Vorstellungen durchzusetzen?
Ich will damit keineswegs in Abrede stellen, dass ihre Kriegserlebnisse für viele Betroffene traumatisierend waren und oft ihr gesamtes weiteres Leben überschatteten – übrigens nicht nur für die "Kriegsteilnehmer", sondern auch für deren Pendants an der "Heimatfront". Deshalb ist befremdlich, wie sehr (fast) ausschließlich die Väter im Zentrum dieses Buches stehen. Die Mütter werden, ähnlich wie die Kinder, hauptsächlich als indirekt Betroffene betrachtet und, wenn überhaupt, in Nebensätzen angetippt. Aber hatten sie in Bombennächten, Besatzung, Vertreibung und Hungerjahren keine traumatisierenden Erfahrungen? Hat die Angst um Väter, Brüder und Verlobte, vor dem Vordringen des "Feinds" und vor Bombenangriffen, hat der Einmarsch der Sieger, hat die Rückkehr (oder Nichtrückkehr) der Geschlagenen und Verwundeten, haben die Wirren der Nachkriegsjahre bei ihnen keine Spuren hinterlassen?
Sehr monokausales Erklärungsmodell
Insgesamt ist es arg monokausal, das Verhalten, das die "Soldatenväter" gegenüber den "Nachkriegskindern" an den Tag gelegt hat, (fast) allein mit deren Kriegserlebnissen zu erklären. Denn zum einen sind es ja, wie gerade auch KZ-Überlebende gezeigt haben, nicht wirklich die Erlebnisse, die die Persönlichkeit von Menschen prägen, sondern deren Bewertungen und vor allem die Entscheidungen, die sie auf deren Basis getroffen haben.
Wenn jemand schief im Leben steht oder mit bestimmten Problemen belastet ist, dann ist es nur auf den ersten Blick entlastend, eine Verbindungslinie zwischen diesen Problemen und den Kriegserlebnissen des Vaters zu ziehen. Auf den zweiten Blick wird man entdecken, dass diese Einflüsse unabänderlich sind. Damit vermitteln sie eher Ausweglosigkeit als Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten.
Zum anderen ist dieses Erklärungsmodell auch deshalb sehr verengt, weil die Kriegsgeneration in einer Zeit aufgewachsen und "sozialisiert" worden ist, deren Welt- und Menschenbilder sich in dramatischer, ja geradezu schockierender Weise von unseren heutigen unterscheiden. Man denke da nur an das Verhältnis der Geschlechter oder an das Erziehungsverständnis, das etwa den Einsatz von Gewalt und das "Brechen" widerspenstiger Charaktere nicht bloß als legitim, sondern geradezu als erzieherische Pflicht ansah. Überhaupt nicht erwähnt wird die nationalsozialistische Erziehungsideologie samt ihrem: "Gelobt sei, was hart macht!"
Ich weiß nicht, wie oft ich als Kind und Jugendlicher von den Erwachsenen in meinem damaligen sozialen Umfeld zur Rechtfertigung drakonischer Strafen gehört habe: "Mir hat es schließlich auch nicht geschadet!" Und erinnere mich heute noch an den zutiefst verstörten Gesichtsausdruck, als ich irgendwann schließlich die Entgegnung wagte: "Sind Sie sicher? Auf mich machen Sie einen ganz anderen Eindruck." Das wurde zwar sofort mit einem barschen "Sei nicht so frech!" weggebügelt, aber der kurze Moment des Entsetzens ließ sich trotzdem nicht rückgängig machen.
In Summe finde ich mich in Bodes "Nachkriegkindern" weder emotional wieder, noch scheinen mir ihre Erklärungen bzw. die ihrer Interviewpartner wirklich zwingend. Somit ist ihr Buch für mich kein wirklicher Beitrag zum Verständnis der Sozialisation der Nachkriegskinder – und damit auch nicht zu meiner eigenen –; für mich ist es eher eine Sammlung von mehr oder weniger interessanten Lebensgeschichten einiger Nachkriegskinder und von Reflexionen darüber. So ist es letztlich doch ziemlich viel Text, um am Ende wenig Neues erkannt und verstanden zu haben.
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