Ja, ich bin beeindruckt, aber doch nicht so sehr wie diverse prominente Rezensenten. Denn Hararis Entwürfe sind zwar kühn, groß gedacht und visionär, enthalten aber etliche gewagte und zum Teil vermutlich falsche Annahmen. Trotzdem ein großer Wurf.
Wegen meines „Übersetzungstraumas“, das ich den „Heimlichen Spielregeln“ und ihrem Übersetzer Friedrich Mader verdanke, habe ich auch dieses Buch auf Englisch gelesen, obwohl es auf Deutsch verfügbar ist. Natürlich weiß ich, dass es auch gute Übersetzungen gibt – aber wie gut die jeweils vorliegende ist, weiß man immer erst hinterher, und oft erst, wenn man sie mit dem Original vergleicht. Da finde ich es einfacher, gleich das Original zu lesen, auch wenn es vielleicht ein bisschen mehr Konzentration kostet.
Exzellent und suggestiv geschrieben
Bei „Homo Deus“ hält sich die Mühe in Grenzen: Wer einigermaßen geübt im Lesen englischer Texte ist, für den dürfte sie sich auf das gelegentliche Nachschlagen von Wörtern beschränken. Das Buch ist glänzend geschrieben, auch wenn der in Oxford promovierte und in Jerusalem lehrende Historiker Yuval Noah Harari von den Briten ihre Vorliebe für einen reichen Wortschatz übernommen hat. Aber er schreibt süffig und suggestiv, sodass einem seine Argumentation meist unmittelbar einleuchtet und man oft erst einmal etwas Abstand gewinnen muss, bis einem mögliche Einwände bewusst werden.
Von denen gibt es mehr als es auf den ersten Blick scheint. Zwar werden sie aufgefangen in der großen Relativierung, die Harari auf der vorletzten Seite vornimmt: „All the scenarios outlined in this book should be understood as possibilities rather than prophecies.“ (S. 401)
Auf den 400 Seiten davor liest sich das oft etwas anders, aber sei’s drum: Als „Possibilities“ verdienen seine kühnen Skizzen möglicher Zukünfte in jedem Fall Aufmerksamkeit, denn in der Tat, er umreißt mit großer visionärer Kraft Entwicklungen, die auf die Menschheit zukommen könnten – und alles auf den Kopf stellen würden, was wir heute für selbstverständlich nehmen.
Harari hat sein großes Opus in drei Teile gegliedert: „Homo Sapiens Conquers the World“, „Homo Sapiens Gives Meaning to the World“ und „Homo Sapiens Loses Control“ – die Überschrift des letzten Teils lässt eine gewisse Besorgnis erahnen vor den Entwickungen, die vor uns liegen (könnten).
Harari schlägt einen großen Bogen über die unterschiedlichsten Forschungsgebiete – und wenn man ab und zu in den Anhang mit den Erläuterungen schaut, staunt man, wie tief er in vielen Fällen vorgedrungen ist. Trotzdem birgt dieser breite Ansatz unweigerlich die Gefahr, Fehleinschätzungen zu erliegen. Nach meinem Eindruck übersieht er sowohl einige wesentliche Risiken als auch manche Entwicklungen, die seinen (sehr sachlich beschriebenen) Befürchtungen die Spitze nehmen könnten.
Um für beides ein Beispiel zu nennen: Dass die Menschheit sehr rasch und sehr hart an die Grenzen der Belastbarkeit unseres Ökosystems stoßen könnte, thematisiert Harari zwar, aber es hat kaum Einfluss auf seine Zukunftsvisionen. Dabei könnte genau dies dafür sorgen, dass manche hochfliegenden technologischen Blütenträume platzen und einer sehr viel kargeren Zukunft Vortritt lassen müssen. Das könnte einer Machtübernahme der selbstlernenden Algorithmen buchstäblich die Stromversorgung entziehen. Einen ähnlich hemmenden Effekt könnte die immer professionellere Cyberkriminalität haben, indem sie das Vertrauen in netzbasierte Innovationen von Online-Banking über Smart Home und Cloud bis zum selbstfahrenden Auto zerstört und so auch ihr Zukunftspotenzial im Keim erstickt.
Auf der Suche nach neuen Herausforderungen
In seiner Einführung „The New Human Agenda“ schreibt Harari, nachdem die Menschheit am Beginn des dritten Jahrtausends Hunger, Seuchen und Kriege – im Prinzip – überwunden habe, sei sie nun auf der Suche nach neuen Herausforderungen. Zwar sieht er natürlich, dass auch heute noch zahllose Menschen an diesen historischen Geißeln sterben, aber das steht für ihn in keiner Relation zu früheren Jahrhunderten, in denen sie ganze Landstriche entvölkerten: „Indeed, in most countries today overeating has become a far worse problem than famine.“ (S. 5)
„Famine, plague and war will probably continue to claim millions of victims in the coming decades. Yet they are no longer unavoidable tragedies beyond the understanding and control of a helpless humanity. Instead, they have become managable challenges.“ (S. 19)
Und was sind die neuen Herausforderungen, vor denen Harari die Menschheit sieht? „One central project will be to protect humankind and the planet as a whole from the dangers inherent in our own power,“ stellt er mit Blick auf die Überbeanspruchung unseres Ökosystems fest (S. 20). Seltsamerweise lässt er dieses zentrale Thema wieder fallen, nachdem er seine überragende Bedeutung betont hat, und stellt drei andere Schwerpunkte vor, denen sich nach seiner Meinung der menschliche Ehrgeiz und die menschliche Unersättlichkeit zuwenden werden: „Humanity’s next targets are likely to be immortality, happiness and divinity.“ (S. 21)
Das ist eine überraschende und wenig nachvollziehbare Wende. Denn wenn der Menschheit ihr, wie es der renommierte Potsdamer Klimaforscher Hans-Jörg Schellnhuber gerade in der SZ genannt hat, „kollektiver Suizidversuch“ gelingt, dann haben sich Hararis drei andere Prioritäten erledigt. Doch auf dieses Argumentationsmuster muss man bei Harari vorbereitet sein: Ein wichtiges Thema erkennen, benennen, begründen – und dann fallenlassen. Das macht er so geschickt, dass es kaum auffällt.
Unsterblichkeit, Glück, Göttlichkeit
Hararis drei neue Ziele der Menschheit haben es allerdings (auch) in sich. Die kurative Medizin, die sich im Dienst der Bekämpfung von Krankheiten sah, war egalitär: Sie half – bei ausreichender Bezahlung – jedem, der der Hilfe bedurfte. Die neue Medizin, die auf die Verlängerung der (gesunden) Lebensspanne zielt und uns letztlich (fast) ewige Jugend verspricht, dürfte nach seiner Einschätzung zu einem Privileg der Reichen werden: „Equality is out – immortality is in.“ (S. 25)
Als weniger greifbar entpuppt sich das Ziel des Glücks. Nicht nur, dass wir hier mit dem Bruttosozialprodukt schlicht das Falsche optimieren und stattdessen ein „Bruttosozialglück“ (Gross Domestic Happiness) definieren müssten. Je mehr man dem Glück auf den Grund zu gehen versucht und seiner biologischen Funktion nachspürt, desto mehr erweist es sich als „ephemeral sales gimmick“ (S. 37), mit dem uns unsere Gene dazu zu bringen versuchen, uns zu zu verhalten, wie es ihrer optimalen Verbreitung dient: „Evolution controls us with a broad range of pleasures.“ (S. 38)
Eine durchaus schlüssige Perspektive: Glück nicht als „logisches“ Lebensziel, sondern als biologischer Steuerungsmechanismus. Doch es raubt dem Glück seine Unschuld und lässt damit auch „the biochemical pursuit of happiness“ (S. 40) weniger fragwürdig erscheinen. Möglicherweise hatte doch Buddha recht mit seiner Lehre, „that the pursuit of pleasant sensations is in fact the very root of suffering“ (S. 42). In der Tat verschwinden Glücksgefühle ebenso schnell, wie sie gekommen sind. Deshalb hat es wohl wirklich wenig Sinn, sein Leben damit zu verbringen, ihnen hinterherzulaufen.
„The third big project of humankind will be to acquire for us divine powers of creation and destruction, and upgrade Homo sapiens into Homo deus.“ (S. 47) Das schließt die ersten beiden Ziele ein, geht aber über sie hinaus. (Wobei sich Hararis Gottesbild eher an den mächtigen, aber irgendwie doch sehr menschlichen griechischen Göttern orientiert als an dem weisen, allmächtigen und allwissenden biblischen Himmelsvater.)
All diese Entwicklungen ist aus Hararis Sicht unaufhaltsam, und zwar aus einem etwas verblüffenden Grund: „Since noone understands the system any more, no one can stop it.“ (S. 51) Das ist wirklich sehr hübsch: Wir, die werdenden Götter, haben die Kontrolle über die Entwicklung verloren und werden ausgerechnet dadurch unaufhaltsam immer mächtiger. Ich muss zugeben, Göttlichkeit habe ich mir irgendwie anders vorgestellt.
Außerdem, so schreibt er weiter, dürfe diese Entwicklung auch nicht gestoppt werden, weil das zum Zusammenbruch unserer Wirtschaft und Gesellschaft führen würde: „The modern economy needs constant and indefinitive growth in order to survive. If growth ever stops, the economy won’t settle down to some cosy equilibrium: it will fall into pieces.“ (S. 52) Nicht nur Vorstände, sondern auch Götter unterliegen offenbar Sachzwängen, die von weiter unten in der Hierarchie unterschätzt werden.
Von vielen Göttern über den Einen zu uns
Das zweite Kapitel trägt den unglücklichen Titel „The Anthropocene“. Ich schließe mich da John Michael Greer an und finde es etwas vorlaut, wegen 300 Jahren ein neues erdgeschichtliches Zeitalter auszurufen, deren Dauer normalerweise Millionen von Jahren umfasst.
Selbst die rund 10.000 Jahre seit Beginn der agrarischen Revolution sind da nur eine erdgeschichtliche Sekunde, aber die wirklichen Eingriffe in das Erdklima haben ja erst mit der Industrialisierung – und strenggenommen, erst mit deren letztem Drittel – begonnen. Damit ähnelt unsere Wirkung eher einem Meteoriteneinschlag, der die Erde für ein paar tausend Jahre gewaltig aus dem Takt bringen mag, aber deswegen noch lange kein neues erdgeschichtliches Zeitalter darstellt. Selbst in der selbstgemachten Katastrophe nimmt sich der Mensch wohl einfach zu wichtig.
In diesem Kapitel arbeitet Harari einen bemerkenswerten Gedanken heraus, nämlich dass es einen engen Zusammenhang gibt zwischen der Religion einer Zeit und ihrer vorherrschenden Wirtschaftsweise. Zur Zeit der Jäger und Sammler prägten polytheistische und animistische Religionen das Weltbild. Sie sahen den Menschen inmitten einer belebten und beseelten Natur und nahmen nicht nur die Kommunikation mit Tieren und Pflanzen für selbstverständlich, sondern auch die mit Bergen und Flüssen, Geistern und Feen.
Mit dem „Agricultural Deal“ unterstellten sich die Menschen, passend zu ihrer neuen Wirtschaftsweise, dem einen Gott (wie auch immer er hieß) und verpflichteten sich, ihm angemessen zu huldigen; im Gegenzug wurden sie zum Herrscher über die Natur, die sie beliebig nutzen durften. Tiere und Pflanzen wurden so in „Sachen“ verwandelt, mit denen man machen konnte, was man wollte. Die monotheistischen Religionen werteten nicht nur Gott auf, sondern auch den Menschen als dessen exklusiven Geschäftspartner und „Krone der Schöpfung“; die übrige Natur verstummte und wurde zur Staffage.
Und Harari hat recht: Für die Tiere sind wir Götter, grausame Götter, die unglaubliches Leid über sie gebracht haben – nicht, weil wir sie domestizieren, schlachten und verzehren (was man den griechischen Göttern, wenn sie das mit Menschen getan hätten, wohl ziemlich übel genommen hätte), sondern wegen des elenden Lebens, das wir ihnen vor ihrem Tod bereiten. Wir halten, mästen und züchten sie ohne jede Rücksicht auf ihre natürlichen Bedürfnisse, unterbinden ihren Bewegungs- und Erkundungsdrang, trennen Säuglinge von ihren Muttertieren und pressen sie in jeglicher Hinsicht in unsere Verwertungsökonomie. Und alle Arten, die nicht nutzbar sind, werden gnadenlos an und über den Rand gedrängt.
Die wissenschaftliche Revolution schließlich brachte dann auch die Götter bzw. den verbliebenen Gott zum Schweigen, da er nicht mehr benötigt wurde: „The Scientific Revolution gave birth to humanist religions, in which humans replace gods. (…) Everything that happens in the cosmos is judged to be good or bad accordning to its impact on Homo sapiens.“ (S. 98f.) Dass der Gottesglaube derzeit eine Renaissance zu erleben scheint, lässt Harari nicht gelten: „More than a century after Nietzsche pronounced Him dead, God seems to be making a comeback. But this is a mirage. God is dead – it‘s just taking a while to get rid of the body.“ (S. 270)
Was macht den Menschen besonders?
Im dritten Kapitel „The Human Spark“ fragt Harari, was den Menschen eigentlich ausmacht und von allen anderen Geschöpfen abhebt. Die unsterbliche Seele kann es nicht sein, denn für sie gibt es – außer der erschütterlichen Überzeugung ihrer Anhänger – keine Anhaltspunkte. Eine „unteilbare“ und damit auch nicht veränderbare – Seele widerspricht auch allem, was wir über Evolutionsbiologie wissen: Alle unsere Merkmale sind in kleinen, graduellen Schritten entstanden; das müsste, so es sie gibt, auch für die Seele gelten.
Natürlich darf, wer möchte, trotzdem weiter an die unsterbliche Seele glauben, doch der Anspruch, etwas ganz Besonderes und gar die Krone der Schöpfung zu sein, lässt sich mit bloßem Glauben nicht begründen.
Auf einem wesentlich festeren empirischen Fundament stehen Geist und Bewusstsein: Deren Existenz ist unstrittig. Allerdings ist nach wie vor ziemlich unklar, was sie eigentlich sind und wofür sie gut sind. Wie der Fortschritt der künstlichen Intelligenz zeigt, sind eindrucksvolle Intelligenzleistungen auch ohne Geist und Bewusstsein möglich.
Die Wissenschaft lässt uns bei dieser fundamentalen Frage schmählich im Stich: „To be frank, science knows surprisingly little about mind and consciousness.“ (S. 108) Und: „Scientists don’t know how a collection of electrical brain signals creates subjective experiences. Even more crucially, they don’t know what could be the evolutionary benefit of such a phenomenon. It ist the greatest lacuna in our understanding of life.“ (S. 111)
Es gibt bislang noch nicht einmal ein objektives Verfahren, um festzustellen, ob ein anderes Lebewesen Bewusstsein besitzt. Lediglich unser eigenes Bewusstsein ist uns subjektiv unabweisbar evident – aber nicht einmal, dass andere Menschen Bewusstsein haben, lässt sich zweifelsfrei feststellen, es ist lediglich ein plausibler Analogieschluss. Deshalb lässt sich auch nicht zweifelsfrei feststellen, ob Tiere Bewusstsein haben. Sollte das der Fall sein, wäre auch diese Einzigkeit dahin.
Und es sieht ganz danach aus: Am 7. Juli 2012 haben zahlreiche führende Neuro- und Kognitionswissenschaftler die „Cambridge Declaration on Consciousness“ verabschiedet. Danach gibt es übereinstimmende Belege, dass auch Tiere jene neuroanatomischen, neurochemischen und neurophysiologischen Substrate besitzen, die Bewusstsein erzeugen: Insbesondere Säugetiere und Vögel, aber auch andere Geschöpfe wie Oktopusse besitzen derartige Strukturen. Den letzten Schritt, diesen Tieren Bewusstsein zu bescheinigen, tun die Wissenschaftler nicht, aber sie stellen immerhin fest, dass sie die Voraussetzungen dafür besitzen. Mehr lässt sich auch kaum sagen, solange es an einem gesicherten Verfahren zu seinem Nachweis fehlt.
Die Fähigkeit zur flexiblen Kooperation
Auf der Suche nach Merkmalen, die die Einzigartigkeit des Menschen ausmachen, kommt man früher oder später beim Werkzeuggebrauch und vor allem bei der Herstellung von Werkzeugen vorbei. Beides gibt es zwar in rudimentärer Form auch bei Tieren, aber die Herstellung CNC-gesteuerter Werkzeugmaschinen und neuronaler Netzwerke dürfte doch ziemlich einzigartig in der Tierwelt sein.
Trotzdem glaubt Harari nicht, dass dies die entscheidende Besonderheit des Menschen ist. Denn diese Fähigkeit besaß der Mensch schon seit Jahrtausenden. Dennoch hat sich erst seit der agrarischen Revolution vor 10.000 Jahren und im Grunde erst seit den ägyptischen und mesopotamischen Großreichen vor vier- bis fünftausend Jahren der Aufstieg des Menschen vollzogen.
Harari sieht „our ability to connect many humans to one another (…) [and] to cooperate in large numbers“ (S. 132) als die entscheidende Fähigkeit des Menschen an. Das können Ameisen zwar schon seit Millionen von Jahren, aber ihnen fehlt die Flexibilität: „Only Sapiens can cooperate in very flexible ways with countless numbers of strangers.“ (S. 133)
Ein wesentliches Instrument, das diese flexible Zusammenarbeit ermöglicht, ist, was Harari das „Web of Meaning“ nennt: „Meaning is created when many people weave together a common network of stories.” (S. 146) Gruppierungen, die sich in irgendeiner Weise verbunden fühlen – etwa durch die Zugehörigkeit zu einer Religion, Nation, Partei oder Weltanschauung –, bestätigen sich ständig gegenseitig in ihrer Sichtweise. Ihre Übereinstimmung in Zielen und Regeln ermöglicht ihnen ein koordiniertes Handeln, ohne dass Alles im Detail abgesprochen und ausverhandelt sein muss.
„Sapiens rule the world because only they can weave an intersubjective web if meaning: a web of laws, forces, entities and places that exists purely in their common imagination.” (S. 150) Ein Paradebeispiel ist das Geld: Es ist nichts als eine Fiktion, da wir aber alle daran glauben, ermöglicht es uns vielfältigste Geschäftsbeziehungen zwischen völlig fremden Menschen über alle Länder und Grenzen hinweg. Aber auch Institutionen und Organisationen von der Deutschen Bank über Google bis zur UNO sind nichts real Existierendes – sie sind nichts als (mehr oder weniger) nützliche Fiktionen.
Ein interessanter Gedanke ist, dass dieses „Web of Meaning“ nach Harari auch die Trennlinie zwischen den Bio- und den Humanwissenschaften markiert: Die „Life Sciences“ können mit dem ganzen „Überbau“ nichts anfangen, für sie ist etwa ein Rechtsstreit nur eine Spielart des Themes Rivalen- oder Territorialkampf. Dabei jedoch übersehen sie deren neue Dimension: „A banker who knows how to file a lawsuit is far more powerful than the most ferocious lion in the savannah.” (S. 151)
“The humanities, in contrast, emphasize the crucial importance of intersubjective entities, which cannot be reduced to hormons and neurons. To think historically means to ascribe real power to the contents of our imaginary stories. Of course, historicans don’t ignore objective factors such as climate change and genetic mutations, but they give much greater importance to the stories people invent and believe. North Korea and South Korea are so different from one another not because people in Pyongyang have different genes to people in Seoul, or because the north is colder and more mountainous. It’s because the north is dominated by very different fictions.” (S. 151f.)
Weit mehr als bloß “Geschichten”
Nachdem Harari im ersten Teil beschrieben hat, wie die Spezies Mensch die Welt erobert und sich zumindest, was Macht und Einfluss betrifft, zur (derzeitigen) Krone der Schöpfung aufgeschwungen hat, will er im zweiten Teil erklären, wie er der Welt Sinn gab. Doch zunächst geht es auf dem bereits eingeschlagenen Weg weiter: Im vierten Kapitel “The Storytellers” erläutert Harari, wie es der Mensch geschafft hat, seine Fähigkeit zur Kooperation immer weiter auszubauen.
Damit eine Vielzahl wildfremder Menschen koordiniert handeln kann, brauchen sie eine gemeinsame Orientierung in ihrem Denken und Handeln. Dafür die Begriffe „Stories“ und „Storytelling“ zu verwenden, wie es auch Harari in Anlehnung an einen modischen Topos tut, finde ich allerdings etwas untergewichtig. Denn das sind ja nicht bloß „Geschichten“, wie sie etwa vom Literaturbetrieb produziert werden, und es sind auch nicht nur Sagen und Märchen à la Brüder Grimm – es sind Denkmodelle, Weltbilder, Paradigmen, die sowohl erklärende wie normative Elemente haben und sowohl den Anspruch erheben, die Wahrheit darüber wiederzugeben, wie die Welt funktioniert, als auch zu definieren, welche Ziele alle Gläubigen anstreben sollten.
Aber wie auch immer, ein großer Schritt nach vorn auf diesem Weg war jedenfalls die Erfindung der Schrift vor 5000 Jahren, die interessanterweise zeitlich und räumlich mit der Erfindung des Gelds zusammenfällt. Die Schrift war insofern ein Durchbruch, als sie die Kooperation unabhängig von Personen macht. Ohne Schrift sind alle Absprachen auf Erinnerung angewiesen, und die ist an konkrete Personen gekoppelt. Mit Schrift hingegen können erbrachte Leistungen, festgestellte Tatsachen, gemachte Zusagen etc. personenunabhängig dokumentiert werden, und jeder, der der Schrift mächtig ist (oder einen Schriftkundigen kennt) kann auf sie zugreifen: ein gigantischer Innovationsschub.
Erst die Schrift macht kodifizierte Gesetze, Geschichtsschreibung und “heilige Schriften” möglich. Auf diese Weise hebt sie die Fähigkeit zur Bildung gemeinsamer Fiktionen auf eine neue Ebene: „Fictions enable us to cooperate better. The price we pay is that the same fictions also determine the goals of our cooperation.“ (S. 174) Das gilt für den Kapitalismus ebenso wie für Kreuzzüge und den militanten Islamismus.
Tatsächlich leben wir in einer Welt der Fiktionen – sie bestimmen unsere Welt weit mehr als uns bewusst ist: Nationen, Götter, Kirchen, Firmen und Institutionen, aber auch Geld, Eigentum, Rechtsansprüche – alles Fiktionen. Sie sind uns so vertraut und alltäglich, dass es uns schwerfällt zu unterscheiden, was Realität und was Fiktion ist. Harari schlägt hierfür einen sehr simplen Test vor: „Can it suffer?“ (S. 177) Emotionen empfinden können nur reale Wesen; alles, was nicht leiden kann, ist eine Fiktion.
(Dass Fiktionen nicht leidensfähig sind, hat im Übrigen auch zur Konsequenz, dass man sie nicht bestrafen kann. Wenn Facebook, der Iran oder auch die katholische Kirche mit Sanktionen belegt werden, schmerzt sie das nicht – es schmerzt allenfalls indirekt diejenigen, die als „Eigentümer“, „Staatsbürger“ oder „Würdenträger“ besonders eng mit diesen Fiktionen verbunden sind. Aber wenn Eigner einer Fiktion zufällig andere Fiktionen sind, etwa Aktienfonds, ETFs oder Pension Funds, werden sie ebenfalls kaum Schmerz fühlen.)
“Fiction isn’t bad. It is vital. Without commonly accepted stories about things like money, states or corporations, no complex human society can function. (…) But the stories are just tools. They should not become our goal or our yardsticks. When we forget that they are mere fiction, we lose touch with reality. Then we begine entire wars ‘to make a lot of money for the corporation’ or ‚to protect the national interest’. Coprporations, money and nations exist only in our imagination. We invented them to serve us; why do we find ourselves sacrificing our lives in their service?” (S. 177f.)
Religion und Wissenschaft
Zwei vermeintlich konkurrierende Fiktion bilden “The Odd Couple”, dem sich Harari im fünften Kapitel zuwendet, nämlich Religion und Wissenschaft. Nach seiner Auffassung vertragen sie sich weit besser als man erwarten würde: “In theory, both science and religion are interested above all in the truth, and because each upholds a different truth, they are doomed to crash. In fact, neither science nor religion cares that much about the truth, hence they can easily compromise, coexist and even cooperate.” (S. 199)
Diese Verträglichkeit von Religion und Wissenschaft ergibt sich freilich auch daraus, dass Harari weniger auf deren Inhalte als auf ihre soziale bzw. gesellschaftliche Funktion schaut: “Religion is created by humans rather than by gods, and it is defined by its social function rather than by the existence of deities. Religion is any all-encompassing story that confers superhuman legitimacy on human laws, norms and values. It legitimises human social structure by arguing that they reflect superhuman laws.” (S. 182)
Nicht der Glaube an Gott oder Götter ist für ihn der Kern von Religion, sondern die Legitimation sozialer Normen und Regeln durch den Rückgriff auf höhere Gesetze: “In fact, it means only that they believe in some system of moral laws that wasn’t invented by humans.” (S. 183) Solche Glaubenssysteme finden sich nach seiner Aussage bei allen Völkern: Für ihn sind sie schlicht ein Instrument, um die soziale Ordnung aufrechtzuerhalten. Und zwar ein unentbehrliches.
Der Wissenschaft wiederum geht es nach seiner Auffassung nicht um Erkenntnis, sondern um Macht – allerdings nicht um politische, sondern um technologische: um die Macht, Krankheiten zu heilen, Nahrung zu erzeugen, neue Produkte und Maschinen herzustellen. Insofern vertragen sich Religion und Wissenschaft nicht nur, Harari sieht sogar “a deal between science and one particular religion – namely humanism. Modern society believes in humanist dogmas and uses science not in order to question these dogmas but rather in order to implement them.” (S. 199)
Diese Zusammenarbeit wird auch dadurch begünstigt, dass Religion und Wissenschaft komplementäre Felder bearbeiten: Die Wissenschaft ist außerstande, Antworten auf Wertefragen zu geben: “There is no scientific method for determining how humans ought to behave.” (S. 178) Genau das ist die Domäne der Religionen. Allerdings spielen die hier zuweilen foul, indem sie moralische Aussagen mit Tatsachenbehauptungen vermengen, wenn sie etwa fordern, an Jungfrauengeburt, Auferstehung oder andere “Glaubenstatsachen” zu glauben, und jegliches kritische Hinterfragen als blasphemisch diffamieren.
Tausche Sinn gegen Macht (und Konsum)
Mit dem Eintritt in die Moderne hat die Menschheit einen neuen Deal abgeschlossen, schreibt Harari im sechsten Kapitel “The Modern Covenant”. Der lässt sich jenseits des Kleingedruckten in einem Satz zusammenfassen: “Humans agree to give up meaning in exchange for power.” (S. 200) Mit der Abschaffung Gottes habe die Menschheit auch die Idee eines „kosmischen Plans” aufgegeben, der allem, was geschieht, Sinn verleiht, auch Leiden und Tod. Stattdessen geschehen die Dinge einfach: „If modernity has a motto, it is ‘shit happens’.” (S. 201)
In den Jahrtausenden vor der Moderne lebte die Menschheit (fast) in einem Gleichgewichtszustand. Harari führt das auf die sehr begrenzte Verfügbarkeit von Krediten zurück, die die Finanzierung neuer Projekte erschwerte – was ich für eine zweifelhafte Erklärung halte, angesichts riesiger Bauprojekte von den Pharaonen über die Antike bis ins Mittelalter, aber auch angesichts ständiger aufwendiger Feldzüge. Vermutlich fehlte es eher an der Idee, dass auf bestimmten Gebieten – wie etwa bei der Heilung von Krankheiten, der Erzeugung von Nahrungsmitteln oder bei der Expansion der Wirtschaft – grundlegende Fortschritte möglich seien.
Aber Harari hat sicherlich recht, wenn er feststellt: „Modernity, in contrast, is based on the firm belief, that economic growth is not only possible, but absolutely essential.” (S. 206) Vermutlich ist es zwar, wie John Michael Greer immer wieder betont, noch mehr der unerschütterliche Glaube an den Fortschritt als an das Wachstum, der die Moderne beseelt, und das Wachstum ist nur ein Maß und Spiegel dieses Fortschritts.
Aber man hat schnell herausgefunden, dass Wachstum auch ganz praktisch ist, gleich in welcher Staatsform, um die Bürger bei Laune zu halten. Und nicht zuletzt verlangt auch die Rückzahlung von Krediten nach Wachstum. Ohne Wachstum drohen harte Verteilungskämpfe und politische Unruhen, wenn nicht (Handels-)Kriege.
Die gefährliche Religion von Wachstum und Fortschritt
Den Glauben an Wachstum (und Fortschritt) bezeichnet Harari als die Religion der Moderne – und das, obwohl er uns kurz davor noch den liberalen Humanismus als Religion verkauft hat. Wie sich die beiden zueinander verhalten, erläutert er nicht.
Dem Kapitalismus hält er vor, die Schwelle von der Wissenschaft zur Religion überschritten zu haben, indem er beharrlich darauf drängt, alles andere dem Wachstum unterzuordnen: „By presuming to make such ethical judgements, free-market capitalism has crossed the border from the land of science into that of religion.“ (S. 210) Eine merkwürdige Einordnung – ich hätte den Kapitalismus und die Ideologie der freien Märkte gemeinsam mit Wachstum und Fortschritt von vornherein dem Bereich der säkularen Religionen zugeordnet; eine Wissenschaft war er nie und beanspruchte er auch nie zu sein.
Bei alledem scheint mir Harari die Eigendynamik des Systems zu unterschätzen: Es ist verdammt schwierig aus dem Wachstum wieder heil herauszukommen, wenn man einmal damit angefangen hat, zumal wenn es kreditfinanziert ist. Deshalb halte ich die Rufe danach, alles andere dem Wachstum unterzuordnen, weniger für eine Grenzüberschreitung des Kapitalismus‘ als für den Ausdruck blanker Panik vor einem Zusammenbruch des ökonomischen Schneeballsystems.
Zu Recht stellt Harari die Frage, ob die Ökonomie ewig wachsen kann. Angesichts der Endlichkeit unseres Ökosystems dürfte er zwar falsch liegen mit seiner Prognose, dass die Menschheit immer neue Materialien und Energiequellen entdecken könne. Auch wenn er sich mit dieser Annahme sich in großer Gesellschaft findet, dürfte ihr der zweite Hauptsatz der Thermodynamik entgegenstehen.
Dennoch glaubt auch Harari offenbar nicht an ein unendliches Wachstum: „The real nemesis of the modern economy is ecological collapse.“ (S. 214) Gemessen an seinem sonst so lockeren Plauderton, klingt es beinahe verzweifelt, wenn er feststellt: „The margins for error keep narrowing“ und „we must stay at least one step ahead of ecological Armageddon.“ (S. 215) Doch die Jünger des Wachstums ficht das nicht an: „Wenn it comes to climate change, many growth true-believers don’t just hope for miracles – they take it for granted that they will happen.“ (S. 217)
Aber am Schluss des Kapitels nimmt er sein kritisches Urteil dann (fast) wieder zurück: „Yet criticising capitalism should not blind us to its advantages and attainments. So far, it’s been an amazing success – at least if you ignore the potential for future ecological meltdown, and if you measure success by the yardstick of production and growth.“ (S. 220)
Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Ein überwältigender Erfolg, zumindest wenn man von der Gefahr einer ökologischen Kernschmelze absieht. Mit anderen Worten: An irgendwelchen Details kann man immer herumnörgeln, aber man muss doch die Errungenschaften anerkennen, die der fortschreitenden Ausbeutung und Vermüllung des Ökosystems zu verdanken sind!
Das ist wieder so ein Harari-Turn. Nach dieser Kehrtwende war ich versucht, das Buch zuzuklappen und für immer wegzulegen.
Wir basteln uns einen Eigen-Sinn
Aber irgendwo muss Harari ja noch den Sinn herbringen, den er als Ergebnis seines zweiten Teils versprochen hat – und das, obwohl der Mensch ihn ja angeblich gerade gegen Macht – oder besser: für einen gewaltigen Machbarkeits- und Konsumrausch – eingetauscht hat. Und dafür bringt er im siebten Kapitel „The Humanist Revolution“ ins Spiel: „If humans somehow manage to find meaning without predicating it upon some great cosmic plan, this is not considered a breach of contract.“ (S. 222)
Und, kurz gesagt, der Humanismus ist dieser große Sinnstifter. Er verlagert den Sinn weg von einem übergeordneten göttlichen Plan und radikal hin auf das Subjekt: auf den Wähler, den Käufer, den Betrachter ... – also die subjektive Wahrnehmungs- und Bewertungswelt des Einzelnen. Das ist natürlich eine wesentich wackeligere Sache als ein übergeordneter Schöpfungsplan, aber immerhin.
„As the source of meaning and authority relocated from the sky to human feelings, the nature of the entire cosmos changed. The exterior universe – hitherto teeming with gods, muses, fairies and ghouls – became an empty space. The interior world – hitherto an insignificant enclave of crude passions – became deep and rich beyond measure.“ (S. 236)
Befremdlich finde ich Hararis Unterscheidung von drei Spielarten des Humanismus, nämlich des liberalen, der auf Individualismus und freie Entfaltung der Persönlichkeit setzt, des sozialistischen, der auf Planwirtschaft und die Weisheit der Einheitspartei baut, und etwas, was er als „evolutionary humanism“ bezeichnet, aber in Wirklichkeit blanken Sozialdarwinismus verkörpert und auf die Durchsetzung der Stärksten setzt: „If we follow this evolutionary logic, humankind will gradually become stronger and fitter, eventually giving rise to superhumans.“ (S. 254)
Ausdrücklich nimmt er dabei Bezug auf Adolf Hitler und den Nationalsozialismus. Diese krude Fehlinterpretation der Evolutionsbiologie samt ihrer Glorifizierung des Überlebenskampfes der Kategorie Humanismus zuzuordnen, finde ich schwer erträglich. Ihre einzige Gemeinsamkeit mit humanistischen Denken ist, dass sie das Heil nicht in einem fernen Jenseits sucht, sondern im Diesseits. Aber nicht nur die Frage, worin dieses Heil eigentlich besteht, sondern auch die, mit welchen Mitteln es zu erreichen ist, unterscheidet sich grundlegend von jeder akzeptablen Definition von Humanismus.
Angriff auf die zentrale Prämisse des Liberalismus
Dann wird es apokalyptisch: „In the early twenty-first century the train of progress is again pulling out of the station – and this will probably be the last train ever to leave the station called Homo sapiens. Those who miss this train will never get a second chance. In order to get a seat on it you need to understand twenty-first-century technology, and in particular the powers of biotechnology and computer algorithms. (…) In the twenty-first century, those who ride the train of progress will acquire divine abilities of creation and destruction, while those left behind will face extinction.“ (S. 275)
Prophetische Sätze, frei von Zweifeln und Relativierungen, weit weg von Hypothesen und Möglichkeiten. Bei solchen Aussagen kommt mir immer eine Redensart aus längst vergangenen Volksschulzeiten in den Sinn. Wenn damals jemand eine ganz besonders kühne Behauptung aufstellte, stellte man ihm im besten Nordbadisch die Gegenfrage: „Woher weisch? Hasch gschpickelt?“ („Woher weißt du das? Hast du heimlich im Buch nachgeschaut?“)
Doch ist diese düstere Prophezeiung die Steilvorlage für den dritten Teil des Buches „Homo Sapiens Loses Control“.
Auch wenn sich der Liberalismus unter den konkurrierenden Humanismen durchgesetzt habe, sieht Harari ihn keineswegs in einer unangefochtenen Position. Den ersten schweren Schlag will er ihm mit dem achten Kapitel „The Time Bomb in the Laboratory“ versetzen, in dem er schreibt: „Like every other religion, liberalism too ist based not only on abstract ethical judgements, but also on what it believes to be factual statements. And these factual statements just don’t stand up to rigorous scientific scrutinity.“ (S. 283)
„Attributing free will to humans is not an ethical judgement – it purports to be a factual description of the world. Although this so-called factual description might have made sense back in the days of John Locke, Jean-Jacques Rousseau and Thomas Jefferson, it does not sit well with the latest findings of the life sciences. The contradiction between free will and contemporary science is the elephant in the laboratory, whom many prefer not to see as they peer into their microscopes and fMRI scanners.“ (S. 284)
Nach seiner Auffassung passt ein freier Wille ebenso wenig in ein naturwissenschaftliches Weltbild wie eine unsterbliche Seele: „To the best of our scientific understanding, determinism and randomness have divided the entire cake between them, leaving not even a crumb for ‚freedom‘. The sacred word ‚freedom‘ turns out to be, just like ‚soul‘, a hollow term empty of any discernible meaning. Free will exists only in the imaginary stories we humans have invented.“ (S. 285)
Ein zweifelhaftes evolutionsbiologisches Argument
Siegesgewiss spielt er seinen größten Trumpf aus: „The last nail in freedom’s coffin is provided by the theory of evolution. Just as evolution cannot be squared with eternal souls, neither can it swallow the idea of free will. For if humans are free, how could natural selection have shaped them?“ (S. 285)
Nichts leichter als das, lautet die Antwort auf diese rhetorische Frage. Denn der Selektion ist es zutiefst gleichgültig, ob sie an zufälligen, determinierten oder frei gewählten Verhaltensweisen ansetzt. Für sie zählt allein das Verhalten, nicht sein Auslöser. Die Selektion belohnt Entscheidungen, die zur Verbreitung der eigenen Gene beitragen, und bestraft solche, die dem entgegenwirken, gleich auf welche Weise sie zustande kamen.
Von bestimmten freien Entscheidungen „rät“ die Evolution sogar „ab“, indem sie sie zum Beispiel mit Ängsten verbindet, wie etwa davor, sich für andere aufzuopfern. Und dennoch ist es möglich (wenn auch nicht immer von der Selektion begünstigt), sich so zu entscheiden.
Der renommierte Verhaltensbiologe Robert Trivers hat in seinem Buch „The Folly of Fools“ sehr prägnant auf den Punkt gebracht, wie er über diese biologisch nahegelegten Verhaltenstendenzen denkt: „My own answer is simple and personal: I could not care less. (…) It is worth noting that we have been selected to rape on occasion, to wage aggressive war when it suits us, and to abuse our own children if this brings us some compensating return benefit, yet I embrace none of these actions, regardless of whether they have been favored in the past. As one evolutionist told me, his genes could not care less about him, and he feels the same way toward them.“ (Trivers 2011, S. 323)
Verteidigung des – begrenzt – freien Willens
Zwischen der unsterblichen Seele und dem freien Willen gibt es einen entscheidenden Unterschied: Die Seele ist im besten Fall eine (ziemlich unkonkrete) Hoffnung, an die man sich klammern kann, auch wenn die Beweislage eher dürftig ist. Der freie Wille hingegen ist eine alltägliche Erfahrung, die ähnlich real real und „evident“ ist wie die des Bewusstseins. Und ich wäre nicht überrascht, wenn beide in einem engen und sinnvollen Zusammenhang stünden.
Denn Merkmale, die für nichts gut sind, gehen im Laufe der Evolution verloren: Tiefseefische verlieren ihr Sehvermögen ebenso wie Molche, die in Höhlen leben, weil Sehvermögen in Abwesenheit von Licht nutzlos ist. Dass wir ein (meist) ziemlich präsentes Bewusstsein und einen (gefühlt) freien Willen haben, legt daher die Vermutung nahe, dass beide irgendeinen biologischen Nutzen haben.
Die empirische Beweislage gegen den freien Willen ist im Übrigen ziemlich dürftig: Es ist das vielzitierte Experiment, bei dem ein Proband entscheiden muss, ob er mit der linken oder mit der rechten Hand eine Taste drückt. Welche Wahl er trifft, kann man bereits 200 Millisekunden, bevor er sie bewusst zu treffen meint, aus seinen Hirnströmen vorhersagen. Daraus leiten viele führende Neurowissenschaftler (schluchz) ab, dass der freie Wille nur eine Illusion sei.
Zu welchem Zweck die Evolution uns mit einer solchen Illusion ausstatten sollte, bleibt ihr Geheimnis: Ihr biologischer Sinn und Nutzen kann sich ja wohl kaum darauf beschränken, uns ein besseres Gefühl zu geben. Und wer ist, wenn man diesem Gedankengang folgt, überhaupt „uns“? Zu welchem Zweck und zu welchem biologischen Nutzen sollte sich die Evolution Mühe mit einer Instanz machen, die ohne Bedeutung für unsere Entscheidungsprozesse und Handlungen ist und allenfalls die Rolle eines „Pressesprechers“ hat? (Ein Pressesprecher von wem und für wen eigentlich?)
Und was ist das für eine aberwitzige Generalisierung von einer, vorsichtig gesagt, völlig untypischen und artifiziellen Entscheidungssituation auf die Gesamtheit des menschlichen Handelns? Zuweilen treffen Menschen ja noch bedeutsamere Entscheidungen als die, mit welcher Hand sie eine Taste drücken.
Eine Erklärung, die nichts erklärt
Ich finde es grotesk, anzunehmen, dass die Entscheidung, ein Buch wie „Homo Deus“ zu schreiben, entweder determiniert oder reiner Zufall sein sollte und mit freiem Willen nichts zu tun habe. Noch absurder erscheint mir die Vorstellung, dass Bach, Haydn oder Schönberg neue musikalische Ausdrucksformen aus einer bloßen Mischung von Determinismus und Zufall entwickelt oder dass die großen Maler ihre Werke ohne bewusste Willensentscheidung(en) geschaffen haben sollten.
Wie lautet der Algorithmus, der zum ersten Streichquartett, zum ersten kubistischen Gemälde oder zur Dampfmaschine führt? Und wie der, der zum Aufgreifen dieser neuen Ideen, also zum zweiten und dritten Streichquartett, zur Entstehung des Kubismus oder zur Entdeckung des Potenzials der Dampfmaschine führt?
Solange es um basale Lebensvorgänge wie Ernährung, Partnerschaft oder Elternschaft geht, kann man die Determinismus-oder-Zufall-Position vielleicht noch vertreten. Doch selbst hier legt die Tatsache, dass wir immer wieder heftige Diskussionen über Ernährung, Erziehung und den Umgang der Geschlechter führen, die Vermutung nahe, dass er eben doch Gestaltungsalternativen und Wahlmöglichkeiten gibt. Welchen biologischen Sinn hätten solche Debatten, wenn sich all das ohnehin zwischen Determinismus und Zufall abspielte?
Doch je weiter wir uns von basalen Lebensvorgängen entfernen, desto unbefriedigender wird dieses Modell, und desto weniger trägt es dazu bei, das, was wir an menschlichem Handeln beobachten, zu erklären. Vermutlich wäre es klüger, hier das zu tun, was Harari auch beim Bewusstsein getan hat, obwohl es dafür ebenfalls kein eindeutiges physiologisches Substrat und keinen Platz im naturwissenschaftlichen Erklärungsmodell gibt: Einzuräumen, dass wir es bislang weder verstehen noch erklären noch eindeutig nachweisen können. Es bringt doch nichts, die erfahrbare Realität für ungültig zu erklären, weil sie nicht in unsere unvollkommenen Modelle passt. Wir sind doch keine Ökonomen.
Was heißt freier Wille?
Dass wir – vermutlich – einen freien Willen haben, impliziert übrigens nicht, dass dieser Wille unbegrenzt frei ist. Und es impliziert auch nicht, dass wir Beliebiges wollen können oder dass wir alles, wofür wir uns entschieden haben, auch umsetzen könnten. Der freie Wille spielt sich vermutlich in einem vorgegebenen Rahmen ab, und wo genau dessen Grenzen liegen, ist nicht immer klar zu erkennen. Deshalb sind auch Irrtümer und Fehleinschätzungen unseres tatsächlichen Handlungsspielraums möglich: Gut möglich, dass wir manchmal weniger frei sind, als wir glauben, während wir in anderen Situationen mehr Wahlmöglichkeiten hätten als uns bewusst ist.
Entscheidend ist, dass bzw. ob es Wahlmöglichkeiten gibt. Verunsichernd wirkt hier ohne Zweifel die ewige Irritation, dass wir, wie immer wir uns entschieden haben, niemals hundertprozentig sicher sein können, dass wir auch die andere Wahl hätten treffen können. Doch das ist zwar irritierend, aber ohne Beweiskraft.
Ich halte es für möglich, dass Bewusstsein und freier Wille besonders für einen Verwendungszweck nützlich sind, der ungeheuer alltäglich ist, sich der Laboratoriumsforschung aber am weitesten entzieht, nämlich die Abwägung und Entscheidungsfindung in hochkomplexen mehrdimensionalen Zielräumen.
Im Alltag haben wir es ja meist nicht mit einer geordneten Abfolge von Einzelentscheidungen zu tun, sondern wir müssen tausend Dinge unter einen Hut bringen: Wir wollen einen guten Job machen und dabei sowohl den Erwartungen der Kunden als auch denen der Mitarbeiter und Kollegen als auch unserer Chefs gerecht werden, wir wollen genügend Zeit für Familie und Freunde haben, unser Haus in Ordnung halten, uns weiterbilden, Zeit für uns selbst haben … – Zwischen all diesen konkurrierenden Zielen einen gangbaren Mittelweg zu finden, ist etwas komplexer als die ebenso läppische wie artifizielle Wahl, die linke oder die rechte Taste zu drücken. Und vermutlich auch etwas schlechter vorhersagbar.
Werden Menschen überflüssig?
Zurück zu Harari. Nicht mehr als ein Nebengeplänkel ist, was er über unterschiedliche Teilsysteme der Persönlichkeit schreibt. Nach seiner grellen Fanfare „Humans aren’t individuals. They are ‚dividuals‘.“ (S. 293) würde man erwarten, dass er uns zumindest multiple Persönlichkeiten nachweist, am besten solche, die nichts voneinander wissen und im heftigen Widerstreit zueinanderstehen.
Aber was dann kommt, ist lediglich eine Nacherzählung dessen, was Daniel Kahneman in „Thinking, Fast and Slow“ über den Unterschied zwischen „experiencing self“ und „narrating self“ geschrieben hat: Ja, wir erinnern uns an Dinge anders als wir sie erleben. Das ist durchaus bedeutsam, aber sicher kein hinreichender Beleg für die „Teilbarkeit“ und Heterogenität der Persönlichkeit.
Ernster muss man wohl die drei möglichen Trends nehmen, die Harari zu Beginn des neunten Kapitels „The Great Decoupling“ beschreibt:
- „Humans will lose their economic and military usefulness, hence the economic and political system will stop attaching much value to them.
- The system will continue to find value in humans collectively, but not in unique individuals.
- The system will still value some unique individuals, but these will constitute a new elite of upgraded superhumans rather than the mass of population.“ (S. 309)
Die ersten beiden Trends erscheinen mir als eine merkwürdige Verquickung von Weitsicht und Verwirrung: „That technological developments will make humans economically and militarily useless will not prove that liberalism is wrong on a philosophical level, but in practice it is hard to see how democracy, free markets and other liberal institutions can survice such a blow.“ (S. 309f.)
Dagegen lässt sich zum einen einwenden: Die militärischen Rekrutierungs- und Abrichtungspraktiken aller Zeiten waren eher selten von Wertschätzung des Individuums geprägt, und auch der Umgang mit Fabrikarbeitern von Manchester bis Shenzen war nicht von feinsinnigen Betrachtungen über den Wert des Einzelnen geleitet. Im Gegensatz zu Hararis Darstellung wurden Menschen von Militärs und Fabrikanten nie als Individuen benötigt und geschätzt, sondern „collectively“, also als Stückzahlen – ähnlich wie Zugtiere oder wie die „Nutztiere“ in einer Mastanlage.
Zum anderen werden die Menschen zumindest als Konsumenten weiterhin gebraucht, auch wenn sie als Arbeitskräfte und Soldaten entbehrlich werden sollten. Also werden sich die „Kapitalisten“ und ihr Staat etwas einfallen lassen müssen, um sie sowohl bei Laune als auch bei Kasse zu halten, wenn ihr System nicht zusammenbrechen soll. Daraus könnte sich zum dritten die Notwendigkeit ergeben, ihnen sinnvolle Aufgaben anzubieten, denn bloßer Konsum macht nicht glücklich – und vor allem lastet er die Leute weder zeitlich noch emotional aus.
Und, so gruselig es ist, auch militärisch werden Menschen wohl weiter benötigt: Wenn nicht als Soldaten, so als Opfer – was nicht zwangsläufig heißt, um sie abzuschlachten, vielleicht auch nur, um sie gegen ihre Führung aufzubringen. Sogar zum Kapitulieren braucht es Menschen. Wo ist dagegen der Punkt an einem Krieg ohne Menschen, also an einem Krieg zwischen Maschinen? Kriege von Computern gegeneinander gibt es ja auch heute schon – für die verschiedensten Spielekonsolen. Aber solange dies keine ernsthaften Auswirkungen auf Menschen hat, wird es traditionell eher dem Bereich der Unterhaltungsindustrie zugerechnet.
Entkoppelung von Bewusstsein und Intelligenz
Trotzdem ist es natürlich eine gigantische Entwicklung, wenn Computer und Roboter uns Menschen immer mehr Arbeit abnehmen. Ich bin nicht sicher, ob man die lang ersehnte „Befreiung vom Joch der Arbeit“ so ausschließlich als Katastrophe ansehen muss, aber eine gewaltige Herausforderung an die Gesellschaft wird sie ohne Zweifel sein.
Und zugleich ein spannender Großversuch: „Intelligence is decoupling from consciousness.“ (S. 314) Vielleicht ist das die Chance herauszufinden, wofür Bewusstsein und freier Wille wirklich gut sind. Dass wir in Sachen schiere Rechenleistung nicht gegen die explosionsartige Entwicklung der Rechner und Algorithmen anstinken können, muss inzwischen auch dem Letzten klar sein. Aber vielleicht bleibt ja ein Bereich, für den Bewusstsein erforderlich ist und die momentane Entwicklung wird zum ungeplanten Großversuch, ihn zu identifizieren.
Diese Möglichkeit wischt Harari zwar derb vom Tisch: „The idea that humans will alway have a unique ability beyond the reach of non-conscious algorithms is just wishful thinking“ und spricht sogar von einem „pipe dream“ (S. 323) Aber wir werden sehen. Vielleicht war das Bewusstsein ja wirklich nur ein überflüssiger Ab- oder Umweg der Evolution, vielleicht hat es aber auch eine Funktion, die wir erst verstehen, wenn wir an die Grenzen der Intelligenz ohne Bewusstsein stoßen. (Sie könnte mit Planen, Abwägen und Wollen unter Komplexität zu tun haben.)
Trotzdem könnte ein großes Problem werden, dass durch all diese Entwicklungen eine „useless class“ entsteht: „The most important question in twenty-first-century economics may well be what to do with all the superfluous people. What will conscious humans do, once we have highly intelligent non-conscious algorithms that can do almost everything better?“ (S. 322) Zwar ist diese „Überflüssigkeit“ und „Nutzlosigkeit“ ausschließlich vom Standpunkt ökonomischer bzw. militärischer Verwertbarkeit gedacht, und man muss natürlich fragen: Nutzlos bzw. überflüssig für wen? Aber das Problem, dass Aufgaben samt ihrem Sinn entfallen, bleibt.
Paradoxerweise machen wir es den Algorithmen gerade durch unsere zunehmende Spezialisierung leicht, uns zu ersetzen und zu übertreffen. Harari hat wohl recht mit seiner Feststellung: „99 per cent of human qualities are simply redundant for the performance of modern jobs.“ (S. 326).
Für die künstliche Intelligenz wäre es sehr viel schwieriger, einen steinzeitlichen Jäger und Sammler nachzubauen und zu verdrängen, weil der eine unglaubliche Vielzahl von Fähigkeiten beherrschen und Tag für Tag unter Beweis stellen musste, vom Pilzesammeln und -zubereiten über das Ausrüsten eines Speers mit einer Feuersteinspitze und eine wohlkoordinierte Mammutjagd bis hin zum Verbinden von Wunden und dem Einsatz von Heilkräutern. Da hätten die Programmierer in der Tat viel zu tun; im Vergleich dazu ist es ein einfaches Spiel, einen hochspezialisierten Banker überflüssig zu machen.
Doch könnte es sein, dass wir eines nicht allzu fernen Tages gezwungen sind, aus Gründen, die Harari überhaupt nicht auf seinem Radarschirm hat, unsere hochspezialisierte Gesellschaft wieder zu de-spezialisieren – und zwar einfach deshalb, weil uns, wie beispielsweise John Michael Greer es beschreibt, die erforderliche Energie ausgeht, um unsere extrem arbeitsteilige Wirtschaftsweise aufrechtzuerhalten.
In diesem Fall wäre eine Eigenschaft des Menschen wieder sehr viel stärker gefordert, mit der sich Rechner außerhalb ihres vorgegebenen technischen Korsetts eher schwertun, nämlich seine extreme Vielseitigkeit und Anpassungsfähigkeit.
Vom vertrauenswürdigen Ratgeber zum verkappten Souverän
Durchaus denkbar scheint mir hingegen ein anderes Szenario, dass Harari in bunten Farben ausmalt: Dass Algorithmen unsere Ziele und Bedürfnisse irgendwann besser verstehen als wir selber und uns deshalb auch kompetentere Handlungsempfehlungen geben als wir sie selbst finden könnten. Punktuell gibt es das ja heute schon, etwa beim Vergleich von Produkten und Dienstleistungen (wie Versicherungen) anhand selbst gewählter Kriterien. Das könnte sich gewaltig ausweiten und irgendwann auch auf wichtige Lebensentscheidungen wie die Berufs- oder die Partnerwahl erstrecken.
Falls das so kommen sollte, hätte es eine Tragweite, die kaum zu überschätzen ist. Denn dann wäre es klug, sich bei seinen Entscheidungen an diesen Empfehlungen zu orientieren und uns im Zweifelsfall an sie zu halten. Das aber wäre für Harari auch das Ende des liberalen Humanismus: „Liberalism will collapse on the day the system knows better than I know myself. Which is less difficult than it may seem, given that most people don’t really know themselves well.“ (S. 344)
Die höhere Urteilskraft der Maschinen gälte nicht nur für das Private, sondern auch für das Politische: Früher oder später könnte ein perfekter „Wahl-o-Mat“ wohl besser bestimmen als wir selbst, welche Partei unseren Zielen und Vorstellungen am nächsten kommt – und ab dann wäre es eigentlich ineffizient, überhaupt noch selber zu wählen.
Von da ist es nur noch ein kleiner Schritt, auf öffentliche Wahlen ganz zu verzichten und deren Abwicklung den Algorithmen zu überlassen. Denn dann könnten die Algorithmen der Parteien deren Programme so ausrichten, dass sie die Mehrheit bekämen oder zumindest ihre jeweilige Klientel optimal ausschöpfen. (Wobei natürlich auch die Manipulation der Algorithmen ihren Reiz hätte.)
Je bessere Erfahrungen die Menschen mit den Empfehlungen der Algorithmen machen, desto mehr Vertrauen werden sie entwickeln, und desto mehr dürften sie dazu neigen, sich an ihre Empfehlungen zu halten und ihnen die Entscheidungen schließlich selbst zu überlassen. Die Algorithmen könnten sich so vom vertrauenswürdigen Ratgeber zum verkappten Souverän entwickeln. Und je mehr die Entwicklung in diese Richtung geht, desto attraktiver würde sowohl wirtschaftlich als auch politisch und militärisch die Möglichkeit, diese Algorithmen zu beeinflussen und zu steuern.
Auf diese Art und Weise ließe sich die „Demokratie 5.0“ automatisieren und käme ohne die Wähler aus – und wohl auch ohne die vom Parteien, die ohnehin schon lange den Eindruck erwecken, aus veralteten und ineffizienten Algorithmen zu bestehen.
Lebewesen als biochemische Algorithmen
Doch in Wirklichkeit ist das Problem noch größer: Da sie ihrem gewohnten Navigationssystem nicht mehr trauen kann, ist der Menschheit jede Orientierung verloren gegangen. Der Humanismus hatte sie noch gelehrt, im Zweifel in sich zu gehen und auf ihre innere Stimme zu hören.
Doch diese innere Stimme hat sich als ein vielstimmiges Konzert entpuppt, das oft zu keiner klaren Antwort kommt, und vermutlich nur das Echo von Algorithmen ist, die zudem einer fast beliebigen Manipulation durch kommunikative, biochemische und elektrische Einflüsse ausgesetzt ist. Deshalb sind wir gar nicht mehr dazu in der Lage, zu bestimmen, was wir eigentlich anstreben sollen: Keine gute Ausgangsbasis für den Wettbewerb mit der künstlichen Intelligenz.
Deshalb ist Hararis heimlicher Favorit wohl „The Data Religion“, die er im elften und letzten Kapitel umreißt. Deren Vorstufe, der „Datismus“, stellt den Zusammenfluss zweier großer wissenschaftlicher Strömungen dar. Die „Life Sciences“ seien seit Darwin immer mehr dazu gekommen, lebende Organismen als biochemische Algorithmen anzusehen, und sie treffen sich damit mit den technischen Disziplinen, deren Algorithmen zwar auf einem anderen Substrat und nach etwas anderen Regeln laufen, aber auf der gleichen Logik basieren: „Dataism thereby collapses the barrier between animals and machines, and expects electronic algorithms to eventually decipher and outperform biochemical algorithms.“ (S. 372)
Das eröffnet nicht nur neue technische Möglichkeiten, sondern lässt auch einen ungeahnten Durchbruch für die Wissenschaft erahnen, „a single overarching theory that unifies all scientific disciplines from musicology through economics to biology. According to Dataism, Beethovens Fifth Symphony, a stock-exchange bubble and the flu virus are just three patterns of a data flow that can be analyzed using the same basic concepts and tools.“ (S. 372f.)
Selbst unterschiedliche Gesellschaftsmodelle vom Kapitalismus über den Faschismus bis zum Kommunismus kann man aus dieser Warte als unterschiedliche Strategien der Datenverarbeitung verstehen: „Capitalism did not defeat communism because capitalsm was more ethical, because individual liberties are sacred or because God was angry with the heathen communists. Rather, capitalism won the Cold War because distributed data processing works better than centralised data processing.“ (S. 377)
Doch auch demokratische Strukturen haben zunehmende Schwierigkeiten mit der Schnelligkeit der technischen Entwicklung: „The government tortoise cannot keep up with the technological hare.“ (S. 379) Auf diese Weise erlebt die traditionelle Demokratie einen zunehmenden Kontrollverlust, ohne dass sich so klar sagen lässt, wohin die Macht verschwunden ist: „The sad truth is that nobody knows where the power has gone.“ (S. 380) Nur dass sie weg ist, scheint sicher: „Government has become mere administration. It manages the country, but no longer leads it.“ (S. 381)
Vom wissenschaftlichen Denkmodell zur Religion
„Dataism (…) is now mutating into a religion that claims to determine what is right or wrong. The supreme value of this new religion is ‚information flow‘.“ (S. 386)
Spätestens hier wird Hararis Szenario gespenstisch, denn in seinen Sätzen gibt es kein handelndes Subjekt mehr. Wenn er schreibt „Information wants to be free“ (S. 386), wirft das, selbst wenn es metaphorisch gemeint sein sollte, die Frage auf, von welcher Instanz dieser Wille und Anspruch ausgeht, der da artikuliert wird.
Dass das kein Spaß ist, zeigt sich spätestens, wenn er die Gebote dieser neuen Religion formuliert: „First and foremost a Dataist ought to maximise data flow by connecting to more and more media, and producing and consuming more and more information. Like other successful religions, Dataism is also missionary. Its second commandment is to link everything to the system, including heretics who don‘t want to be plugged in. (…) Conversely, the greatest sin would be to block data flow. What is death, if not a condition in which information doesn’t flow?“ (S. 387) [zumindest die Todesstrafe wäre in dieser Religion also wohl nicht zu befürchten, weil sie den „Data-Flow“ behindert.]
Zu dem gespenstischen Eindruck trägt auch bei, dass manches, was Harari beschreibt, heute schon Realität ist. Vor 20 Jahren haben wir uns auch lustig gemacht über die verrückten Japaner, die alles fotografierten, was ihnen auf ihren Weltreisen vor die Linse kam, statt es erst einmal in Ruhe zu besichtigen und auf sich wirken zu lassen. Heute machen wir das fast alles so. Und viele belassen es nicht beim Fotografieren, sondern haben nichts Eiligeres zu tun als ihre Bilder im Internet zu teilen: „Experiences ara valueless if they are not shared.“ (S. 392) Das ist praktizierte Datenreligion.
Rechnen uns die Algorithmen den Rang ab?
Harari hält es für denkbar, dass der Datismus irgendwann die Menschen hinter sich lässt, sowie der Humanismus irgendwann die Götter hinter sich gelassen hat. Im Anfang legten die Humanisten ja auch noch ihre Glaubensbekenntnisse ab (was damals auch aus gesundheitlichen Gründen ratsam war), aber irgendwann wagten Leute wie Locke, Hume und Voltaire zu sagen, dass Gott nur ein Produkt der menschlichen Fantasie ist.
Zwar werden die Algorithmen den Menschen wohl nicht als Fantasieprodukt bezeichnen, aber sie könnten in als einen hoffnungslos veralteten Algorithmus entlarven, der die letzten 70.000 Jahre in Ermangelung besserer Alternativen eine ganz brauchbare Figur gemacht hat, mittlerweile aber obsolet ist und außer Dienst gestellt gehört: „Similarly, today most Dataists claim that the Internet-of-All-Things is sacred because humans are creating it to serve human needs. But eventually the Internet-of-All-Things may become sacred in its own right.“ (S. 395)
„Moreover, with the rise of machine learning and artificial neural networks evolve independantly, improving themselves and learning from their own mistakes. They analyze astronomical amounts of data that no human can possibly encompass, and learn to recognize patterns and adopt strategies that escape the human mind. The seed algorithm may initially be developed by humans, but as it grows it follows its own path, going where no human has gone before – and where no human can follow.“ (S. 398f.)
Wird das wirklich so kommen? Diese Frage kann natürlich auch Harari nicht beantworten, zumal die Zukunft, wie er betont, nicht feststeht, sondern gestaltbar ist. Er räumt die Möglichkeit ein, dass die Theorie falsch ist: Dass das Leben doch nicht auf Datenflüsse reduziert werden kann und dass es sich auch nicht alleine auf das Treffen von Entscheidungen reduzieren lässt. (Ein heißer Kandi-dat für das, was in dieser Sichtweise fehlt, könnte zum Beispiel das Ausführen von Entscheidungen sein.)
Aber selbst wenn die Theorie falsch wäre und das Leben doch mehr umfasste als Datenströme, stünde das dem Erfolg der neuen Datenreligion nicht zwangsläufig im Weg: Auch in der Vergan-genheit haben sich Religionen ja nicht wegen ihres unabweisbaren Wahrheitsgehalts durchgesetzt: „A unified scientific paradigm may easily become an unassailable dogma.“ (S. 399f.)
Deshalb hält Harari es für möglich, dass der Datismus die Welt unabhängig von seinem Wahrheits-gehalt erobert: „Yet once authority shilfts from humans to algorithms, the humanist project may become irrelevant. (…) Dataism thereby threatens to do to Homo sapiens what Homo sapiens has done to all other animals.“ (S. 400)
Abschließende Bewertung
Was ist mein Resümee am Ende dieser 400 Seiten? Sicher keine durchgehende Zustimmung und erst recht keine vorbehaltlose Begeisterung, aber ein Stück Dankbarkeit (die auch meinen Freund und Kollegen Paul Krummenacher einschließt, der mir das Buch mehrfach ans Herz gelegt hat).
Harari bringt seine Leser dazu, über Dinge nachzudenken, über die sie sonst wohl nie nachgedacht hätten, und er bringt sie dazu, sehr viel konkreter und faktenbasierter darüber nachzudenken. Aus guten Grund hat mich dieses Buch zu der längsten Rezension veranlasst, die ich jemals verfasst habe. (Was wiederum nicht nur an der Kürze der anderen liegt.)
Zuweilen reizt er zum Widerspruch, ärgert einen auch manchmal mit seiner suggestiven Rhetorik, deren Lücken sich erst beim zweiten oder dritten Nachdenken erschließen. Aber die intellektuelle Mühe der Auseinandersetzung mit dem Werk lohnt sich, zumal einem Harari das Lesen leicht macht – und sie lohnt sogar ein zweites Lesen.
Der größte Schwachpunkt dieses großen Wurfs, als den man „Homo Deus“ in jedem Fall bezeich-nen muss, ist in meinen Augen, dass Harari die ökologischen Rahmenbedingungen seiner Zu-kunftsvisionen, obwohl er sie mehrfach anreißt, sehenden Auges außer Acht lässt. Das ist nicht nur mein übliches “Ceterum censeo“, vielmehr ist die Ökologie das existenzielle Fundament, auf dem sich jede Zukunft entfalten wird, die sich überhaupt entfalten wird. Und jede Vision, die sie nicht berücksichtigt, könnte leicht die Rechnung ohne den Wirt gemacht haben.
Wie viel Strom wird Hararis Internet-of-All-Things benötigen, wie viel zusätzliche Erwärmung wird es unserem ohnehin geplagten Klima hinzufügen, wie viele knappe Rohstoffe wird es aufzehren? Ich wäre nicht überrascht, wenn genau diese Fragen, denen Harari so elegant ausgewichen ist, zu den bestimmenden für die Zukunft der Menschheit und des Planeten würden.
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