Die Geschichten und Überlegungen des langjährigen Bremer Bürgermeisters und Sozialsenators H. Scherfs regen dazu an, einmal über das Alter(n) im Allgemeinen und das eigene im Besonderen nachzudenken. Menschenfreundlich, gedankenreich, optimistisch.
Wenn man älter wird – also spätestens ab dem zweiten Lebensjahr –, kommt irgendwann die Frage auf, wohin das alles führen soll. Wo es enden wird, ist ohnehin be(un)ruhigend klar, aber noch mehr als das absehbare Ende gibt der Weg dorthin Anlass zur Sorge, insbesondere dessen letzte Etappe, das Greisenalter. Viele Menschen haben Angst davor, irgendwann alt und gebrechlich zu werden, ihre körperlichen und geistigen Kräfte einzubüßen und dann mehr oder weniger hilflos auf fremde Hilfe angewiesen zu sein. Wobei das Risiko eines geistigen Verfalls von vielen als noch bedrohlicher empfunden wird als das eines körperlichen.
Ein dankenswerter Tabubruch
Aber darüber spricht man nicht. Das ist kein Thema gesellschaftlichen Diskussionen, es ist eines der letzten Tabus, das die hinter uns liegende Epoche der Tabubrüche ziemlich unbeschadet überstanden hat. Inzwischen leben wir in einer Zeit, in der die Tabus wieder rasant zunehmen und in der alle potenziell irritierenden Begriffe mit verbalem Botox faltenfrei zugespritzt werden.
Die furchtsame politische Korrektheit unserer Tage, die ängstlich darum bemüht ist, nichts zu sagen, was irgendjemanden irritieren könnte, macht es schwerer, Themen, die natürlich irritieren, wie Alter, Siechtum und Tod, beim Namen zu nennen. Doch dieses kollektive Beschweigen ist eine ebenso falsche wie feige Rücksichtnahme; sie lässt diejenigen, die sich im Stillen vor dem Altwerden ängstigen, mit ihrer Angst allein. Denn natürlich geht das Problem nicht weg davon, dass man sich weigert, darüber zu reden. Das führt nicht selten zu Kurzschlüssen von der Art: "Dann möchte ich lieber gleich tot sein." Oder zur praktischen Umsetzung davon, sprich zum Suizid aus Angst vor dem Verfall.
Deshalb muss man Henning Scherf, dem früheren Bremer Bürgermeister und Sozialsenator, dankbar dafür sein, dass er das Tabu bricht – und zwar auf eine freundliche, konstruktive und optimistische Art. Scherf war mit schon zu seinen Zeiten als Berufspolitiker sympathisch. Zumindest auf die Ferne (von über 700 km) wirkte er auf mich immer menschenfreundlich, zugewandt und zuversichtlich – ein Sozialdemokrat alter Schule, dem es wirklich um die Menschen, insbesondere um die einfachen Leute, geht. Und der verstanden hat, dass Lebensqualität mehr ist als Geld und Rundumpflege – und nicht zuletzt mit der Qualität sozialer Beziehungen zu tun hat. Dieses Bild bestätigt sich in dem Buch.
Gute "Endstationen" in Augenschein genommen
Sein Titel "Altersreise" ist wörtlich zu nehmen: Scherf hat sich, wie es im Klappentext heißt, auf die Reise "gedanklich in die eigene Zukunft" gemacht. Oder, etwas weniger lyrisch formuliert, er hat diverse beispielhafte Einrichtungen besucht, in denen Menschen ihre letzte Lebensphase verbringen. Und zwar nicht zu einem dieser typischen "Politikerbesuch" mit Empfangskomitee, Pressefoto und schnellstmöglicher Weiterreise, bevor die Realität ins Blickfeld kommen kann, sondern jeweils für einen Aufenthalt von mehreren Tagen, indem er am Alltag der alten Menschen teilhatte.
Seine Berichte darüber mischt er mit Gedanken darüber, wie ein menschenwürdiges (Gemeinschafts-)Leben hochbetagter Menschen im Zeichen des demographischen Wandels aussehen könnte. Seine Überlegungen treffen sich auf erstaunliche Weise mit den Konzepten und Modellen, die der emeritierte Psychiater Klaus Dörner in Vorträgen und einem Buch zum Thema "Leben und Sterben, wo ich hingehöre" vorstellt. Beide gehen davon aus, dass eine vollpensionsartige Rundumversorgung, die die Alten reinen Konsumenten ihrer Versorgung verurteilt, weder anstrebenswert noch finanzierbar ist.
Sowohl aus wirtschaftlichen Gründen als auch für die Lebensqualität der alten Menschen ist es sehr viel sinnvoller, sie soweit wie möglich zur gemeinschaftlichen Selbstversorgung anzuleiten und ihnen auf diese Weise nicht nur sinnvolle Aufgaben und eine Beschäftigung zu geben, sondern auch ihre verbliebenen Fähigkeiten – und damit sie selbst – möglichst lange am Leben zu halten.
Die Angst vor Vereinsamung
Bei alledem argumentiert Scherf zwar optimistisch und ermutigend, aber er zeichnet kein rosarotes Bild. Und er macht auch um die schwierigen Themen keinen Bogen, auch nicht um das wohl schwierigste von allen, die Einsamkeit vieler alter Menschen und ihre Angst davor. Was ich sehr verdienstvoll finde, denn Ängste kann man nicht durch Totschweigen reduzieren, sondern nur dadurch, dass man sich mit ihnen auseinandersetzt.
Das beginnt damit, das Problem klar beim Namen zu nennen. Wir Menschen sind nun einmal soziale Wesen – unser gesamtes Denken, Fühlen und Handeln kreist um soziale Bezüge. Einsam und allein zu sein, heißt letztlich: Es spielt keine Rolle, ob es mich (noch) gibt oder nicht; ich bin überflüssig; mein Leben hat keinen Sinn und keinen Inhalt mehr. Deshalb ist die Erhaltung und Herstellung sozialer Bezüge (nicht nur) für alte Menschen genauso wichtig wie die Nahrungs- und Gesundheitsversorgung.
Doch im hohen Alter wird das schon aus technischen Gründen schwieriger. Unter Leuten zu sein, setzt voraus, sich noch unter Leute begeben zu können – und Teil einer Gemeinschaft zu sein, wenn das Hinausgehen zunehmend schwieriger wird. Die Voraussetzungen dafür muss man beizeiten schaffen, sowohl indem man sich ein privates Netzwerk aufbaut, als auch, indem man sich geeignete Strukturen sucht, die einem dabei helfen, wenn es nicht mehr aus eigener Kraft geht. Wobei im hohen Alter noch hinzu kommt, dass sich der alte Freundeskreis zunehmend lichtet.
Wertvolle und ermutigende Anstöße zum eigenen Nachdenken
Bei so einem Buch sind die Inhalte, die Geschichten und Überlegungen, nur das eine – das andere ist, was sie in einem selbst an Gedanken und Gefühlen anstoßen. Deshalb hat eine Zusammenfassung hier weniger Sinn als bei anderen Büchern.
Stattdessen eine klare Empfehlung: Wer sich auf menschenfreundliche, differenzierte und wenig bedrohliche Weise dazu anregen lassen will, einmal über das Alter(n) im Allgemeinen und das eigene im Besonderen nachzudenken, findet in Henning Scherfs "Altersreise" vielfältige und optimistische Anregungen. Und das Beste daran: Sie basieren nicht darauf, dass er die Realität schön redet, sondern daran, dass er sie kennt und benennt.
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