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Rezensionen

Alternative Suche nach Spitzenleistungen

Gladwell, Malcolm (2008):

Outliers

The Story of Success

Little Brown (New York); 309 Seiten; 21,15 Euro


Nutzen / Lesbarkeit: 9 / 10

Rezensent: Winfried Berner, 23.10.2018

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Ein neuer, überzeugender und ermutigender Blick auf Ausreißer nach oben: Spitzenleistungen haben sehr viel weniger mit Ausnahmebegabungen zu tun, als mit begünstigen Bedingungen, einem förderlichen Umfeld und einer entsprechenden Kultur.

Ein Vielschreiber ist Malcolm Gladwell nicht gerade: Sein Erstling-Bestseller "The Tipping Point" erschien im Original im Jahr 2000, "Blink" kam 2005 heraus, und "Outliers" 2008. Vorarbeiten dazu hatte er jeweils im "New Yorker" und anderen Magazinen veröffentlicht, doch Gladwell nimmt sich ungewöhnlich viel Zeit dafür, seine Themen aus unterschiedlichen Perspektiven auszuleuchten. Das kommt der Erkenntnistiefe seiner Bücher zugute und führt zu neuen Perspektiven.

Die Gnade der gut gewählten Geburt

Wie wird man zum Beispiel Hockey-Crack? Talent wird gewiss nicht schaden, mindestens genauso wichtig ist es aber, sein Geburtsdatum geschickt zu wählen. Zumindest wenn man in Kanada aufwächst, denn dort beginnt die Talentsuche schon im zarten Alter von fünf Jahren und orientiert sich an Altersjahrgängen. Wer es also zu etwas bringen will, tut gut daran, möglichst früh im Jahr geboren zu werden: Dann hat er einen Reifungs- und Entwicklungsvorsprung von beinahe einem Jahr gegenüber seinen im November oder Dezember geborenen Mitbewerbern – das sind im Alter von fünf Jahren Welten.

Ähnliches gilt für viele Sportarten, in denen eine systematische Talentförderung stattfindet: Der Startvorsprung der jeweils Ältesten der Kohorte akkumuliert sich, und am Ende dominieren unter den Profispielern die Geburtsmonate, die am Anfang der jeweiligen Jahrgangsscheibe lagen.

Die Gnade der gut gewählten Geburt gilt indes nicht nur für den Leistungssport, sondern auch für den Aufstieg zu großem Reichtum durch die Gründung von weltbeherrschenden Unternehmen. Während Bill Gates, Steve Jobs und Mark Zuckerberg ein paar Jahre früher oder später geboren worden, hätte sich wohl jemand anders um die Gründung von Microsoft, Apple und Facebook kümmern müssen.

Erstaunlich viele Milliardäre des IT-Zeitalters entstammen der Babyboomer-Generation der frühen fünfziger Jahre. Wären sie später auf die Welt gekommen, wären sie in den Jahren, als die PCs sich etablierten, zu jung für eine Unternehmensgründung gewesen; wären sie später geboren, wären die meisten von ihnen wohl schon in Amt und Würden bei etablierten Konzernen gewesen und damit kaum noch bereit, sich dem Risiko einer Gründung auszusetzen.

Ähnliches gilt für den "alten" Reichtum der USA: Wer mit dem ersten großen Ölboom reich werden wollte, tat gut daran, zwischen 1830 und 1840 auf die Welt zu kommen: in dieser Generation wurden nicht nur John D. Rockefeller, Andrew Carnegie und J. P. Morgan zu Milliardären, sondern auch Dutzende ihrer Altersgenossen.

Übung macht den Meister

Doch zu meinem ausdrücklichen Bedauern sind nicht alle Angehörigen der Babyboomer-Generation Milliardäre geworden, sondern nur einige wenige, die es auch jenseits ihres Geburtsdatums gut getroffen haben. Kollege Gates zum Beispiel hatte – im Gegensatz zu mir –, als es losging, bereits unendlich viel Programmiererfahrung: Während ich meinen Fortran-IV-Kurs an der Universität Regensburg frustriert abbrach, weil ich auf jede Fehlerkorrektur bis zum nächsten Kurstermin warten musste, hatte Gates, wie Gladwell detailliert dokumentiert, dank einer Mischung aus Förderung, günstigen Umständen und Chuzpe bereits mehr Programmierpraxis auf als die allermeisten seiner Generation. So war er, als er Microsoft gründete, bereits ein Meister seiner Disziplin.

Es wirkt vielleicht etwas banal, hier das Sprichwort "Übung macht den Meister" zu bemühen, aber es scheint etwas dran zu sein an der 10.000-Stunden-Regel, nach der ein vermeintliches Naturtalent auf 5 bis 10 Jahre intensiven Übens zurückgeht. Wissenschaftliche Studien, die das Geheimnis von Ausnahmebegabungen lüften wollten, waren außerstande, welche zu finden. Stattdessen kristallisierte sich die Intensität des Übens als das entscheidende Erfolgsgeheimnis heraus.

Selbst den Welterfolg der Beatles führt Gladwell maßgeblich auf ihr Engagement im Starclub in Hamburg zurück, bei dem sie über Monate hinweg an sieben Tagen in der Woche acht Stunden pro Tag (bzw. pro Nacht) zusammen spielen mussten. Das Muster des frühen intensiven Übens zieht sich durch, gleich ob man an Mozart oder Michael Schumacher denkt: Beide übten sich schon als Kinder mit hohem Zeiteinsatz in ihrer jeweiligen Disziplin und hatten Meisterschaft bereits in einem Alter erreicht, als viele ihrer Mitbewerber noch damit zu tun hatten, sich mit den Grundlagen vertraut zu machen.

Und die außergewöhnliche Qualität und der Ideenreichtum der Kompositionen von Johann Sebastian Bach und Joseph Haydn hat sicherlich auch damit zu tun, dass beide, der eine als Thomaskantor und der andere im Dienste der musikbegeisterten Fürsten Esterházy, dienstlich dazu verpflichtet waren, eine enorme Menge von Werken zu komponieren, einzustudieren und zu dirigieren. So stressig das gewesen sein mag: Übung macht offenbar nicht nur den Meister, sie macht auch den Großmeister.

Begabung ist nichts ohne Förderung

Dass es jedoch mit außergewöhnlichen intellektuellen Fähigkeiten nicht getan ist, zeigen Längsschnittstudien mit hochbegabten Kindern: "In the end almost none of the genius children from the lowest social and economic class ended up making a name for themselves." (S. 112)

Was diesen Kindern fehlte, war nicht Talent, sondern ein förderliches Umfeld, das ihnen beibrachte, ihre Fähigkeiten zur Geltung zu bringen. Sie hatten in ihrem sozialen Umfeld schlicht niemanden, der sie lehrte, dass sie ihre besonderen Fähigkeiten nicht nur entwickeln, sondern auch "verkaufen" mussten, und wie sie das tun könnten: Sowohl eine persönliche Tragödie als auch eine ungeheure gesellschaftliche Verschwendung.

Das ist umso bedauerlicher, als es nicht viel kosten würde, ihnen das beizubringen. Es geht hier um Fähigkeiten, die Gladwell etwas diffus als "practical intelligence" bezeichnet (S. 101), die aber wohl treffender und präziser als gewinnendes Auftreten, Durchsetzungsvermögen und Sich-Verkaufen-Können zu beschreiben wären.

"The middle-class parents talked things through with their children, reasoning with them. They didn't just issue commands. They expected their children to talk back to them, to negotiate, to question adults in positions of authority. If their children were doing poor at school, the wealthier parents challenged the teachers." (S. 103f.)

Mittelschichtkinder kennen die Regeln. Sie wissen, wie man auf sich aufmerksam macht und wie sie sich gegenüber Erwachsenen und gegenüber "Autoritätspersonen" behaupten können. Der familiäre Hintergrund bzw. ihre "Sozialisation" verschafft ihnen "a cultural advantage" (S. 108). "By contrast, the working class and poor children were characterized by 'an emerging sense of distance, distrust, and constraint.' They didn't know how to get their way, or how to 'customize' (…) whatever environment they were in, for their best purposes." (S. 105)

Ein Bruch in der Konzeption

Während sich Gladwell im bisher besprochenen ersten Teil des Buches ("Opportunity") vor allem mit günstigen Umständen befasst hat, die zu außergewöhnlichen Leistungen und Karrieren führten, wendet er sich im zweiten Teil "Legacy" dem Einfluss des kulturellen Erbes zu.

Allerdings verlässt er dabei insofern den bisherigen Kurs, als er sich nicht mehr auf Spitzenleistungen konzentriert, sondern sich auch anderen Ausreißern zuwendet – von außergewöhnliche Reizbarkeit bis zu einer kulturbedingten Autoritätshörigkeit, die in bestimmten Situationen lebensgefährlich sein kann. Erst in den letzten beiden Kapiteln kehrt er wieder zu seinem Hauptthema zurück, nämlich zu Bedingungen, die besondere Leistungen und Erfolge begünstigen.

Was er zu Beginn des zweiten Teils beschreibt, ist zwar auch interessant – wie immer, wenn Gladwell seine Geschichten spinnt, wirkt aber dennoch als Bruch. Sollte Gladwell, so brillant er sonst inszeniert und argumentiert, wirklich nicht erkannt haben, dass diese Kapitel nicht so recht in den gedanklichen Bogen seines Buches passen? Oder hat er hier einfach vorhandene Arbeiten sekundär verwertet, auch wenn er damit den bislang klaren Fokus seines Buchs verwässerte?

Erhöhte Reizbarkeit durch "Kultur der Ehre"

Wie auch immer, im ersten Kapitel des zweiten Teils zerstört er gründlich das romantische Bild von der Hirtenidylle, dass viele Leser in sich tragen dürften, und macht klar, dass in Hirtenvölkern aus schlichten ökonomischen Gründen – das Sein prägt das Bewusstsein – eine "Kultur der Ehre" herrscht:

"A herdsman (…) is under constant threat of ruin through the loss of his animals. So he has to be aggressive: he has to make it clear, through his words and deeds, that he is not week. He has to be willing to fight in response to even the slightest challenge to his reputation – and that's whar a 'culture of honor' means. It's a world where a man's reputation is at the center of his livelihood and self-worth." (S. 166f.)

Die daraus resultierende kulturelle Neigung zu Überreaktionen haben die amerikanischen Siedler laut Gladwell schon aus ihrem kargen Leben in Irland oder Schottland mitgebracht. In den "dark and bloody grounds" des Wilden Westens hatten sie reichlich Gelegenheit, sie weiter zu pflegen. Dieses kulturelle Erbe lässt sich angeblich – hier wird seine Argumentation etwas arg generalisierend – auch heute noch nachweisen: In experimentellen Untersuchungen reagieren Studenten aus den Südstaaten weitaus reizbar auf Provokationen aus Studenten aus dem amerikanischen Norden.

Diese Argumentation erscheint mir einfach deshalb zweifelhaft, weil es angesichts der hohen inneramerikanischen Mobilität eher unwahrscheinlich ist, dass sich die Nachfahren der Hirten säuberlich in den Südstaaten angesiedelt haben, während die der Ackerbauern sich vorwiegend im Norden versammeln. Und sofern es zutrifft, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt, dann sollte dies eher das eigene Sein sein als das der Vorfahren.

Dennoch ist Gladwell überzeugt: "Cultural legacies are powerful forces. They have deep roots and long lives. They persist, generation after generation, virtually intact, even as the economic and social and demographic conditions that sprawned them have vanished, and they play such a role in directing attitudes and behavior that we cannot make sense of our world without them." (S. 175)

Deshalb verkündet er als Programm für den zweiten Teil seines Buchs: "So far in Outliers we've seen that success arises out of the steady accumulation of advantages: when and where you are born, what your parents do for a living, and what the circumstances of your upbringing were all make a significant difference in how well you do in the world. The question for the second part of Outliers is whether the traditions and attitudes we inherit from our forebears can play the same role. Can we learn something about why people succeed and how to make people better at what they do by taking cultural legacies seriously? I think we can." (S. 175f.)

Autoritätshörigkeit als Sicherheitsrisiko

Die "Ethnic Theory of Plane Crashes", derer er sich im nächsten Kapitel annimmt, passt nun überhaupt nicht zu diesen kulturbedingten Erfolgsfaktoren. Zwar haben Flugzeugabstürze wohl wirklich einiges mit dem kulturellen Erbe der beteiligten Piloten zu tun, doch der Rubrik "Erfolge" würden sie wohl nur ausgesprochene Zyniker zurechnen.

Die Wahrscheinlichkeit eines Absturzes ist nicht etwa, wie man vielleicht vermuten würde, dann besonders hoch, wenn der weniger erfahrene Copilot das Flugzeug steuert, sondern dann, wenn der Kapitän am Ruder ist.

Das lässt schon erahnen, dass es sich hier – wieder einmal – weniger um ein fachliches als um ein Beziehungsproblem handelt: Ein erfahrener Flugkapitän hat keine Hemmungen, es seinem Copiloten deutlich zu sagen, wenn der etwas übersehen oder einen Fehler gemacht hat; der Copilot aber unter Umständen schon, vor allem wenn er aus einer Kultur stammt, in der eine sehr hohe "Power Distance" herrscht, sprich, ein sehr ausgeprägtes Machtgefälle zwischen den Hierarchieebenen. Fehler des Copiloten werden deshalb mit hoher Wahrscheinlichkeit durch den Kapitän aufgefangen, Fehler des Kapitäns aber nicht mit der gleichen Wahrscheinlichkeit durch den Copiloten.

Je mehr sich Copiloten als Befehlsempfänger verstehen, die dem Kapitän zu gehorchen haben und ihn auf keinen Fall verärgern dürfen, desto schlechter ist ihre Lebenserwartung. Denn desto mehr neigen sie als "Untergebene" zu einer vorsichtigen, ja zuweilen geradezu unterwürfigen Sprache, die sich auf Andeutungen und indirekte Signale beschränkt ("mitigated speech", S. 194); um Aufforderungen, Anweisungen oder andere deutliche Hinweise machen sie einen großen Bogen. Das birgt vor allem in Stresssituationen ein hohes Risiko von Missverständnissen, Fehldeutungen sowie des schlichten Überhörens von Hinweisen.

Eine entscheidende Maßnahme zur Erhöhung der Flugsicherheit ist demgemäß, die "Power Distance" im Cockpit abzubauen. Je besser es gelingt, den Copiloten aufzuwerten und ihnen in jeder Hinsicht in eine gleichwertige Beziehung mit dem Flugkapitän zu bringen, desto besser nicht nur für seine Lebenserwartung, sondern für die aller Mitreisenden.

Wie gesagt, eine spannende und überaus relevante Geschichte – aber keine, die zu einem besseren Verständnis von "Outliers" beiträgt, und erst recht nicht zu der des Zustandekommens besondere Erfolge. Denn nicht abzustürzen, ist ja zum Glück kein Ausreißer im Luftverkehr, sondern der trotz allem wahrscheinlichste Fall.

Das unterschiedliche Erbe von Reis- und Ackerbauern

Mit dem folgenden Kapitel kehrt Gladwell zum eigentlichen Thema seines Buchs zurück. Es erklärt, wie unterschiedlich das Leben von Reis- und Ackerbauern ist – und welche Folgen das für die Kulturen Asiens und des Westens hat.

Im Vergleich zu Reisbauern haben Ackerbauern ein gemütliches Leben. Zwar gibt es auch für sie Zeiten, in denen sie sehr hart und lange arbeiten müssen – etwa beim Bestellen ihrer Felder und in der Erntezeit. Aber dazwischen liegen lange Phasen, in denen es deutlich weniger zu tun gibt. Dagegen ist der Reisanbau, wie Gladwell detailliert beschreibt, Knochenarbeit, und zwar an 365 Tagen im Jahr, fast durchweg in feuchter Hitze. Der Ernteertrag korreliert sehr hoch mit der Intensität und Sorgfalt dieser Arbeit.

Man ahnt bereits, worauf das hinausläuft: Während sich die Kulturen der Ackerbauern über Jahrhunderte an einen rhythmischen Wechsel von harter Arbeit und ruhigeren Zeiten gewöhnt haben, haben die Reisbauern-Kulturen verinnerlicht, dass man es nur mit unermüdlicher harter Arbeit zu etwas bringen kann.

Diese tief in der Kultur verankerte Ausdauer, Beharrlichkeit und Anstrengungsbereitschaft schlägt sich nicht nur in der Zahl der Stunden nieder, die ihre Mitglieder Tag für Tag zu arbeiten bereit sind, sie begünstigt auch auf ihren Erfolg bei Aufgaben, bei denen es auf genau diese Fähigkeiten ankommt – wie zum Beispiel in der Mathematik und in naturwissenschaftlich-technischen Fächern.

Das schafft eine sehr asymmetrische Wettbewerbssituation: Während die Kulturen des Westens nach der Befreiung vom "Joch der Arbeit" streben und am liebsten immer weniger Stunden arbeiten und immer früher in Rente gehen möchten, ist die Arbeit in den meisten asiatischen Ländern positiv besetzt und die Bereitschaft, sich anzustrengen, beängstigend hoch. Wir müssten also schon sehr schlau (und ziemlich gut in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern) sein, um ihnen in diesem Wettbewerb Paroli zu bieten.

Klein-Asien in den USA

Das letzte Kapitel widerlegt in gewisser Weise die Tiefen- und Landzeitwirkung regionaler Kulturen, die Gladwell zuvor immer wieder hervorgehoben hatte: "… it matters where you're from, not just in terms of where you grew up or where your parents grew up, but in terms of where your great-grandparents and great-great-grandparents grew up and even where your great-great-great-grandparents grew up. That is a strange and powerful fact. It's just the beginning, though, because upon closer examination, cultural legacies turn out to be eben stranger and more powerful than that." (S. 170)

Wenn das so wäre, wäre es wohl ziemlich aussichtslos, an unseren kulturellen Prägungen etwas ändern zu wollen. Aber ein Erfolgsmodell, wie das doch gelingen kann, beschreibt Gladwell in diesem Kapitel, nämlich die "KIPP Academy" an einer New Yorker Junior High School. Ausgerechnet in der Bronx, wo überwiegend Schwarze und Latinos der untersten Einkommensgruppen leben, hat diese Schule ein "Knowledge Is Power Program" aufgebaut, das den Schülern ein Pensum abverlangt, das für meine westlichen Ohren äußerst anspruchsvoll ist und einen geradezu asiatischen Lerneifer erfordert.

Ein charakteristisches Element dieses Programms ist eine deutliche Verkürzung der Schulferien, deren Länge in den USA und Europa laut Gladwell eine Analogie zu der Feldruhe in der Landwirtschaft ist: Die Äcker brauchen Zeit, um sich zu erholen und für die nächste Fruchtperiode zu kräftigen. Doch empirische Untersuchungen haben gezeigt, dass der Rückstand von Unterschichtkindern gerade aus diesen Ferienmonaten resultiert, während sie während der Schulwochen gut mithalten: "Poor kids learn nothing when school is not in session." (S. 258) Der Grund dafür dürfte darin liegen, dass sie in den Ferien bei Weitem nicht das gleiche Maß an Anregungen bekommen wie Mittelschichtkinder.

Verlierer in Gewinner verwandeln

Da asiatische Länder keine langen Sommerferien kennen, haben die westlichen Länder und insbesondere ihre Unterschichtkinder ein "Ferienproblem", das ihnen einen Lernrückstand garantiert. Die KIPP Academy verhindert nicht nur diese Rückstände, sondern spannt die Kinder auch ansonsten ziemlich ein, zitiert Gladwell einen der Schulleiter: "Our kids are spending fifty to sixty percent more time in learning than the traditional public school students." (S. 261)

Das fordert den Kindern einiges an Selbstdisziplin und Beharrlichkeit ab, aber es kommt nicht nur dem behandelten Stoffumfang zugute, sondern erlaubt vor allem eine wesentlich entspanntere Lernatmosphäre. Die Resultate können sich mehr als sehen lassen: Während in der South Bronx normalerweise nur 16 Prozent der Mittelschüler des Durchschnittsniveaus in Mathematik erreichen, sind es in der KIPP Academy 86 Prozent. Und viele davon bezeichnen Mathematik als ihr Lieblingsfach.

An einem kann dieser Unterschied jedenfalls nicht liegen, nämlich an der Vorauswahl der Schüler: Zur KIPP Academy sind nur Einwohner der Bronx zugelassen, und die Auswahl aus den freiwilligen Bewerbungen erfolgt per Losentscheid (lottery). Die Folge: "Roughly half of the students are African American; the rest is Hispanic." (S. 251) 90 Prozent von ihnen haben Anspruch auf ein kostenloses oder verbilligtes Mittagessen in der Schule, was so viel heißt wie, dass sie aus ärmsten Verhältnissen kommen. Das bestätigt die zentrale These von Outliers: "It is not the brightest who succeed." (S. 267)

Nach Gladwells Auffassung sind wir so gefangen in unserem Mythos von den Ausnahmebegabungen, die sich auch unter den ungünstigsten Bedingungen quasi von alleine durchsetzen, dass wir schlicht übersehen, in welchem Ausmaß günstige Bedingungen zum Erfolg beitragen und ungünstige ihn erschweren: "To build a better world we need to replace the patchwork of lucky breaks and arbitrary advantages that today determine success – the fortunate birth dates and the happy accidents of history – with a society that provides opportunity for all." (S. 268)

Die Chancen nutzen

Aus gesellschaftlicher Perspektive ist das ein ausgesprochen ermutigendes Resultat, aber auch ein verpflichtendes. Wenn die Rahmenbedingungen eine auch nur annähernd so zentrale Rolle spielen, wie Gladwell plausibel darlegt, dann können und dürfen wir uns nicht auf beschränken, Bildungsangebote bereitzustellen und im Übrigen darauf zu vertrauen, dass die wahren Talente von alleine zum Vorschein kommen werden: Auf diese Weise verschwenden wir den Großteil der Talente derer, die nicht auf ein förderliches Elternhaus bauen können – nicht nur gesellschafts-, sondern auch wirtschaftspolitisch völlig inakzeptabel.

Aber auch für das Change Management enthält Outliers eine ausgesprochen ermutigende Perspektive: Wenn so viel wie Gladwell beschreibt von der Gestaltung der Rahmenbedingungen abhängt, dann wären wir doch ausgesprochen dumm, wenn wir diese Chancen nicht erkennen und ergreifen würden und uns stattdessen allzu bereitwillig mit den bestehenden Verhältnissen häuslich einzurichten.

Zwar lassen sich manche Grundhaltungen wohl wirklich zum ersten und einzigen Mal durch die Mitarbeiterauswahl beeinflussen, aber wie sich die Belegschaften entwickeln, hängt mehr, als den meisten Managern bewusst ist, von einer förderlichen Gestaltung der Rahmenbedingungen ab. Das heißt zugleich auch: Die Fähigkeit von Unternehmen, ihre Führungskräfte und Belegschaften zu entwickeln, hat das Potenzial zum Wettbewerbsvorteil. Wer das besser beherrscht als andere, wird aus dem gleichen Potenzial sehr viel mehr machen und seinen statischeren Wettbewerbern damit den Rang ablaufen.

Insgesamt ein sehr lesens- und empfehlenswertes Buch, das mich insgesamt weitaus mehr überzeugt und begeistert hat das "Blink". Denn hier gelingt Gladwell wieder, was ihm bei "The Tipping Point" gelungen ist: Nicht nur spannende Geschichten zu erzählen, sondern sie zu einem Gesamtbild zusammenzufügen, das den eigenen Blick auf die Welt erweitert.

Schlagworte:
Ausreißer, Spitzenleistungen, Ausnahmetalente, Ausnahmebegabungen, Lernen, Fähigkeiten, Kompetenzen, Talentförderung

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