Die Umsetzungsberatung

Rezensionen

Eher eine Bekräftigung als eine Erweiterung

Marks, Howard (2018):

Mastering the Market Cycle

Getting the Odds on Your Side

Houghton Mifflin Harcourt (Boston, New York); 323 Seiten; 26,33 Euro


Nutzen / Lesbarkeit: 7 / 9

Rezensent: Winfried Berner, 02.05.2019

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Leider keine gleichwertige Fortführung von Marks' Meisterwerk "The Most Important Thing". Stattdessen viel Redundanz, viele Wiederholungen, Selbstzitate und -paraphrasen – und zwischendurch doch ein paar sehr wertvolle Hinweise. Lesbar, aber zäh.

Es gibt Bücher, deren Ende man herbeisehnt, weil sie sich ziehen wie Kaugummi. Ich weiß, das ist ziemlich respektlos, zumal gegenüber einem so renommierten und gescheiten Autor wie Howard Marks, aber es ist die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Aber wirft es natürlich die Frage auf, weshalb ich die Lektüre nicht abgebrochen habe, bevor oder spätestens als sie zur Qual wurde.

Die Antwort hat viel mit ebendiesem Howard Marks zu tun. Bei (fast) jedem anderen Autor hätte ich das Buch in der Tat zur Seite gelegt. Aber von Marks hatte ich gerade erst sein Buch "The Most Important Thing" begeistert besprochen (und an dieser Beurteilung auch kein Jota zurückzunehmen), und seit Jahren lasse ich mir keines seiner "Memos to Oaktree Clients" entgehen, weil sie fast immer ungeheuer scharfsinnig und lehrreich sind.

Deshalb hatte ich in diesem Fall die Befürchtung, trotz aller Redundanz vielleicht doch etwas Wichtiges zu versäumen, wenn ich die Lektüre abbreche. Also beschloss ich, mich bis zum Ende durch den Text durchzukämpfen. Was sich auch als richtige Entscheidung erwies, denn ich hätte tatsächlich etwas Wesentliches versäumt.

Fallende Messer auffangen

Zumindest eine wertvolle Erkenntnis habe ich auf den (allzu) vielen Seiten doch noch gewonnen – und zwar eine, die die Mühsal (mehr als) wert war. Nämlich, dass die populäre Börsenweisheit falsch ist, in zyklischen Abschwüngen, wenn die Stimmung völlig am Boden ist und alle zu den Ausgängen drängen, mit dem (Wieder-)Einstieg zu warten, "bis der Markt seinem Boden gefunden hat". Vielmehr rät der bedachtsame, nüchterne, überaus selbstbeherrschte Marks, dem jede Selbstüberschätzung und jegliches Hasardeurtum fremd ist, ausdrücklich dazu, fallende Messer aufzufangen.

Er wischt die alte Börsenregel "Never catch a falling knife" brüsk vom Tisch – mit der absolut schlüssigen Begründung, erstens sei überhaupt nur mit einigem zeitlichen Abstand feststellbar, wann der Boden erreicht sei. Und zweitens sei der Boden genau dann erreicht, wenn die letzte Panikverkäuferin ihre Bestände zum Schleuderpreis veräußert hat – doch exakt in diesem Moment schließe sich das Fenster, indem man die günstigsten Käufe machen könne, und die Preise zögen wieder an.

Deshalb greifen Contrarians wie er mit klarem Verstand nach fallenden Messern – und nehmen dabei bewusst das Risiko in Kauf, dass die Preise noch weiter in den Keller gehen, sodass sie unter Umständen schnelle und hohe Anfangsverluste erleiden. Davon unbeeindruckt, nützen sie den weiteren Verfall für konsequente Nachkäufe, nach dem Grundsatz: Wenn eine Anlage mit hohem Wertsteigerungspotenzial noch billiger wird, ist das ein Grund, noch mehr zu kaufen.

Allerdings kaufen Marks und seine Oaktree-Kollegen dabei keineswegs wahllos alles an, was da zu Schleuderpreisen angeboten wird. Vielmehr erwerben sie nur Papiere, die die Krise mit hoher Wahrscheinlichkeit überstehen werden. Hier kommen klassische Value-Kriterien ins Spiel, wie ein relativ niedriger Anteil von Fremdkapital, ein günstiges Verhältnis von Marktwert zu Buchwert, ein wettbewerbsfähiges Geschäftsmodell etc.

Mutig in Handeln umgesetzte Erkenntnis

Die Nüchternheit, ja Coolness, mit der Marks diese Krisendynamik seziert und sie ebenso kalkuliert wie beherzt in praktisches Handeln umsetzt, und zwar in Realtime und mit eigenem Geld bzw. dem seiner Kunden, ist nicht nur lehrreich, sondern überaus eindrucksvoll – und unter dem Strich das Durchkämpfen durch die vielen Seiten wert. Denn das sind eben keine nachträglichen Weisheiten aus dem sicheren Abstand dessen, der weiß, wie die Geschichte ausgegangen ist, sondern es sind mutig umgesetzte Erkenntnisse. Diese Passagen sind so eindrucksvoll, dass ich einige davon im Original wiedergebe:

"At Oaktree, we strongly reject the idea of waiting for the bottom to start buying. First, there's absolutely no way to know when the bottom has been reached. There's no neon sign that lights up. The bottom can be recognized only after it has been passed, since it is defined as the day before the recovery begins. By definition, this can be identified only after the fact. And second, it's usually during market slides that you can buy the largest quantities of the things you want, from sellers who are throwing in the towel and while the non-knife-catchers are hugging the sidelines. But once the slide has culminated in a bottom, by definition there are few sellers left to sell, and during the ensuing rally it's buyers who predominate." (S. 236f.)

"Waiting for the bottom to start buying is a great example of folly. So if targeting the bottom is wrong, when should you buy? The answer is simple: when price is below intrinsic value. What if the price continues downward? By more, as now it's probably an even greater bargain. All you need to have for ultimate success in this regard is (a) an estimate of intrinsic value, (b) the emotional fortitude to persevere, and (c) eventually to have you estimate of value proved correct." (S. 237)

Um diese Erkenntnisse zu gewinnen, reicht es im Grunde, das Kapitel XIII "How to Cope with Market Cycles" zu lesen. Dort erfährt man auch noch, dass es für Marks der Kardinalfehler überhaupt ist, nach einem Markteinbruch auszusteigen. Wenn man durchhält, ist bis auf ein bisschen Stress kein Schaden entstanden – allerdings auch kein Gewinn, aber immerhin die Vermeidung von Verlusten.

Obwohl Oaktree in solchen Krisen eine Menge Geld verdient hat, bleibt Marks bescheiden – und das ist keine gespielte Bescheidenheit, sondern Überzeugung. Wie er trocken feststellt, war die Entwicklung, die eingetreten ist und ihm große Erfolge beschert hat, keineswegs unausweichlich: "The outcome that actually occurred was so much better than some of the 'alternative histories' (as Nassim Nicholas Taleb calls them) that could have occurred instead." (S. 239) Deshalb besteht er an einer anderen Stelle auch darauf, dass man aus Erfolg nichts lernen kann: Es ist eben eine günstige Entwicklung eingetreten, die einem zupass kam – fertig: "There's no tactic or approach that always works." (S. 244)

Viel, viel Redundanz

Auch wenn sich zumindest für diejenigen, die "The Most Important Thing" gelesen haben, nur eines von 23 Kapiteln als wirklich lehrreich erweist, ist dieses Kapitel die Anstrengung mehr als wert. Deshalb beklage ich mich auch nicht – ich ächze nur ein bisschen. Für diejenigen, die "The Most Important Thing" nicht gelesen haben, springen vermutlich noch einige zusätzliche Erkenntnisse über den Verlauf und die Eigendynamik von Zyklen heraus, auch wenn sie in Redundanz ertrinken.

Überaus wichtig ist Marks, dass Zyklen logische Entwicklungen sind, bei denen jeder Schritt unweigerlich zum nächsten führt, getrieben von der "Psychologie" der Investoren, sprich von Furcht und Gier, die sich massenpsychologisch hoch- bzw. herunterschaukeln. Unglücklicherweise wiederholt er diese Abfolge und ihre Verbindungen ein- ums andere Mal; allein das Galbraith-Zitat von der "extreme brevity of financial memory" wiederholt er in diesem Zusammenhang mindestens dreimal (S. 34, 125, 178).

Da ich selber viel schreibe, weil sie aus eigener Erfahrung, dass solche Wiederholungen vorzugsweise dann entstehen, einen wichtigen Gedanken nicht gut genug auf den Punkt gebracht zu haben, und es deshalb noch einmal versucht – und dann noch einmal. Und dann, weil auch dieser Versuch nicht optimal war, noch einmal. Und noch einmal … Das ist zunächst einmal nicht tragisch. Fatal ist nur, wenn man all die Anläufe und Schleifen (oder auch nur einen Großteil von ihnen) stehen lässt, statt sie unbarmherzig zu streichen.

Keineswegs nur Psychologie, auch Systemdynamik

Das liegt vielleicht auch daran, dass Marks einen wichtigen Treiber von Zyklen zwar benennt und erläutert, aber dennoch nicht markant genug auf den Punkt bringt: Nämlich die Rolle, die zeitliche Verzögerungen zwischen manchen Investitionsentscheidungen und ihrem Wirksamwerden auf dem Markt für das Entstehen von Blasen spielen.

Während sich etwa der Kauf oder Verkauf eines Aktienpakets spätestens seit den Zeiten des Computerhandels noch in der gleichen Sekunde in den Preisen widerspiegelt, vergehen zum Beispiel beim Aufbau neuer Produktionskapazitäten unter Umständen mehrere Jahre, bis das dadurch erhöhte Angebot in den Markt kommt und sich – mit weiteren Verzögerungen – in den Preisen abbildet. Wie Peter Senge und Kollegen mit ihrem "Beer Game" demonstriert haben, können aber schon geringe Verzögerungen in einem komplexen System ganz ohne Massenpsychologie zu gewaltigen Aufschaukelungen führen und unter Umständen sogar einen Systemkollaps ("Crash") auslösen.

Am nächsten an diesem Punkt ist Marks im elften Kapitel "The Real Estate Cycle", dessen besondere Zyklizität er mit "time lags", "extremely high financial leverage" sowie damit charakterisiert, "that the supply is generally too inflexible to be adjusted to demand fluctuations" (S. 183).

Das stimmt natürlich alles, aber es greift meines Erachtens zu kurz: Nach den Erkenntnissen der Systemdynamik ist es beinahe unvermeidlich, dass solche trägen Märkte in dramatischer Weise überschwingen. Wenn zum Beispiel Wohnungen oder Gewerbeimmobilien knapp sind, meldet die Nachfrage immer noch dringenden Bedarf und lockt so weitere Investoren an, während längst viele Immobilien im Bau sind. Um das Entstehen massiver Überkapazitäten zu erklären, braucht man keine Psychologie – es genügt völlig, wenn die Investoren das Handeln der anderen Marktteilnehmer nicht oder nur eingeschränkt mitbekommen und deshalb nicht erfahren, dass sich gerade ein "Schweinezyklus" aufbaut.

Wenn die frisch fertiggestellten Immobilien dann auf den Markt drängen, verwandeln sie den Nachfrageüberhang sehr schnell in ein Überangebot, während gleichzeitig immer weitere Gebäude geplant, finanziert und gebaut werden. Da sich diese neuen Gebäude nur noch schwer und zu immer schlechteren Preisen vermieten lassen, bricht vielen Investoren ihre Finanzierung zusammen, was zu einer Pleitewelle und zu einer zunehmend restriktiven Kreditpolitik der Banken führt – was die Pleitewelle verstärkt.

Unsere Not im Umgang mit zeitlich verzögerten Reaktionen

Mich hat in meinen BCG-Jahren eine praktische Übung mit einer Systemsimulation des Dietrich Dörner-Schülers Franz Reither zutiefst beeindruckt. Dabei ging es darum, ein im Rechner simuliertes, sich erwärmendes Kühlhaus in den richtigen Temperaturbereich zurückzusteuern, ohne die Wirkungsweise des (einzigen) Stellrads zu kennen.

Das Tückische an diesem Kühlhaus war, dass es als träges System mit einer erheblichen zeitlichen Verzögerung auf die Steuerimpulse reagierte. Mit der Folge, dass die erste Information zur Veränderung der Temperatur im Kühlhaus, die die Teilnehmer nach einer (simulierten) Viertelstunde bekamen, noch gar nicht auf ihren Steuerungseingriff zurückging, sondern darauf, dass sich das träge System unbeeindruckt vor dem Steuerungseingriff einfach noch ein Stück weiter in seine ursprüngliche Richtung bewegt hatte. Erst nach einer weiteren (simulierten) Viertelstunde spiegelte die Temperaturveränderung die Wirkung des Steuereingriffs wider.

Den wenigsten (hochintelligenten!) Teilnehmern gelang es damals zu erkennen, dass das System mit einer deutlichen Verzögerung auf ihre Eingriffe reagierte und dass infolgedessen nicht die erste Temperaturmeldung nach einer Viertelstunde, sondern erst die nach einer weiteren Viertelstunde ein tatsächliches Feedback zur Wirkung ihres Eingriffs lieferte. Infolgedessen drehten sie wie wild an ihrem Stellrad herum, ohne irgendeinen Zusammenhang zwischen ihren Interventionen und den Reaktionen des Kühlhauses erkennen zu können – bis sie verwirrt und frustriert aufgaben.

Wie Reither uns damals zeigte, kann man lernen, solch ein träges System zu steuern, aber man braucht dafür eine (halbwegs zutreffende) Theorie über die Reaktionsweise des Systems. Und selbst dann erfordert es viel Konzentration und Selbstdisziplin, um mit den verzögerten Reaktionen und dem irreführenden unmittelbaren Feedback zurechtzukommen. Noch schwieriger wird es, wenn das "relevante" Feedback um zwei Perioden verzögert kommt – und ab einer Verzögerung um drei Perioden hat man laut Reither keine Chance mehr.

Ich beschreibe das deshalb so ausführlich, weil ich glaube, dass es zu eindimensional ist, Marktzyklen allein oder überwiegend mit "Psychologie", sprich, den Emotionen der beteiligten Akteure zu erklären. Als gelernter Psychologe wäre ich sicherlich der Letzte, der die Wichtigkeit der Psychologie für die Dynamik von Märkten bezweifelt, aber genauso wichtig finde ich es, auch Einflussfaktoren zu erkennen und zu benennen, die überhaupt nichts mit Psychologie zu tun haben, sondern zum Beispiel mit zeitlichen Verzögerungen und Systemdynamik. Denn in solchen Fällen braucht man, wie bei dem Kühlhaus, eine Theorie, wie das jeweilige System funktioniert, die über bloße Psychologie hinausgeht.

Die langfristige Trendlinie

Solch eine Theorie, wie das System funktioniert, ist auch das Konzept der Zyklen – auch wenn es zunächst nur eine allgemeine Theorie ist, die nicht auf spezielle Märkte und ihre Besonderheiten eingeht. (Was Marks in den einzelnen Kapiteln dann jedoch tut.) Grundsätzlich versteht er die Zyklen als Oszillationen, die eine langsam verlaufende Entwicklung überlagern und mal nach oben, mal nach unten von ihr abweichen.

Im Gegensatz zu Ray Dalio ("Principles for Navigating Big Debt Crises" – siehe Rezension) unterscheidet er dabei nicht zwischen sich überlagernden kürzeren und langfristigen, "säkularen" Zyklen. Zumindest für praktische Zwecke ist das nachvollziehbar, weil sich diese beiden Arten von Zyklen in Realtime kaum auseinanderhalten lassen. Abschätzen lässt sich nur der derzeitige Abstand zwischen den aktuellen Preisen von Wertpapieren und der langfristigen Trendlinie.

Aus übergeordneter Perspektive wäre spannend, wie die langfristige Grundlinie der ökonomischen Entwicklung verläuft. Marks zeichnet sie meist als langsam ansteigende Gerade oder zumindest als eine stetig (und ziemlich träge) ansteigende Linie, auch wenn er zumindest in einer Grafik (S. 51) auch ein vorübergehendes Absinken als prinzipiell mögliche Entwicklung in Betracht zieht. Trotzdem scheint er – wie die allermeisten Investoren – stillschweigend davon auszugehen, dass die Entwicklung nach oben geht, weil sie das langfristige Wachstum der Volkswirtschaften dieser Welt widerspiegelt.

Aber das wirft grundsätzliche Fragen auf: Ist das langfristige Wachstum tatsächlich heute noch genauso hoch die zum Beispiel in der Nachkriegszeit, oder hatte sich abgeflacht? Und falls Letzteres: Wird es auf einem niedrigeren Niveau weiterwachsen oder nähert es sich asymptotisch der Nulllinie – oder könnte es sich sogar umkehren und in eine zeitweilige oder dauerhafte Schrumpfung übergehen?

Falls die Grundlinie nicht annähernd linear sein sollte, welche Auswirkungen hätten ihre Schwankungen auf die kurzfristigen Zyklen? Schwingen Sie einfach fröhlich um den langfristigen Verlauf herum, wie es Marks in seiner genannten Grafik darstellt, oder würde eine Verlangsamung oder gar Richtungsumkehr der langfristigen Entwicklung auch den Verlauf der kurzfristigen Zyklen beeinflussen, und wenn ja, in welcher Weise?

Was sind die Treiber der langfristigen Entwicklung?

Bei näherem Nachdenken gibt es eigentlich keinen logischen Grund, weshalb die Grundfunktion eine Gerade sein sollte – dieser exotische Sonderfall unter den Funktionen, der eigentlich nur im menschlichen Denken vorkommt und sich infolge seiner konstanten Steigung durch eine absolute, unbeirrbare Unabänderlichkeit über die Zeit auszeichnet. Und es gibt auch keinen Grund, weshalb sie Grundlinie zumindest im langfristigen Trend quasi naturgesetzlich ansteigend sein sollte.

Die Frage, welche Funktionsverläufe denkbar und wahrscheinlich sind, führt zwangsläufig zu der Frage, was denn die Treiber des Basis­trends sind. Dazu Marks: "The output of an economy is the product of hours worked and output per hour; thus the long-term growth of an economy is determined primarily by fundamental factors like birth rate and the rate of gain in productivity (…) These factors usually change relatively little from year to year, and only gradually from decade to decade." (S. 64).

Prinzipiell ist das schlüssig, aber es enthält eine unausgesprochene (und offenbar unerkannte) Prämisse: "gain" – als ob es ein Naturgesetz wäre, dass die Produktivität steigen müsse. (Von der Bevölkerungszahl wissen wir ohnehin, dass sie in den meisten Industrie- und Schwellenländern rückläufig ist, sodass dieser Multiplikand einen negativen Einfluss auf das Ergebnis der Multiplikation ausüben wird.)

Viele würden hier vermutlich antworten, der Treiber des Produktivitätswachstums sei der menschliche Erfindungsgeist und das stetige Streben nach Fortschritt, dass uns Menschen naturgegeben innewohne (zumindest in den letzten 250 Jahren der Menschheitsgeschichte). Doch ein Großteil der Produktivitätsgewinne der Geschichte beruht darauf, dass menschliche Arbeit mechanisiert und automatisiert wurde: mehr und größere Maschinen, automatisierte Datenverarbeitung.

Produktivitätssteigerung und Energiekosten

Automatisierung und Digitalisierung ergeben aber nur unter der Voraussetzung Sinn, dass Energie billiger ist als menschliche Arbeit. Das war zwar ohne Zweifel die Realität der letzten 200 oder 250 Jahre, seit es der Menschheit gelang, hochdichte fossile Energieträger in ihren Dienst zu stellen – aber ein Naturgesetz ist es nicht. Je teurer Energie wird/würde, desto unsinniger ist/würde es, menschliche Arbeit weiterhin durch Maschinen und Computer zu ersetzen. Denn damit würde zwar die "Arbeitsproduktivität", gemessen in Output pro Arbeitsstunde, weiter steigen, aber die "Stückkosten", also die Kosten pro produzierte Einheit, würden steigen, und sie sind letzten Endes das relevantere Maß.

Mit anderen Worten, ein "gain", sprich, eine anhaltende Steigerung der Produktivität, ist weder ein Naturgesetz, noch gibt es darauf einen Rechtsanspruch, und er hängt nicht nur vom menschlichen Erfindungsreichtum ab, sondern maßgeblich auch von der Verfügbarkeit billiger Energie. Der eigentliche Treiber des Produktivitätswachstums (und zum Teil auch des Bevölkerungswachstums) der letzten 250 Jahre war die nahezu unbegrenzte Verfügbarkeit billiger fossiler Energie.

Dummerweise stößt dies allmählich an Grenzen, weil wir den erschließbaren Teil dieser in 750 Millionen Jahren entstandenen fossilen Energiereserven weitgehend aufgebraucht haben. Und andere Quellen vergleichbar hochdichter Energie sind nicht in Sicht. Wir müssen also nicht nur langfristig mit steigenden Energiekosten rechnen, wir befinden uns bereits mitten in einer Phase steigender Energiekosten, auch wenn diese Steigerung von starken zyklischen Schwankungen verdeckt wird. (Ich kann mich persönlich noch an Zeiten erinnern, als der Liter Benzin um die 20 Pfennige (!) kostete – und die Differenz zu heute erklärt sich keineswegs nur aus Inflation und Steuern.)

Falls das zutreffen sollte, ist ein anhaltender "Gain" aber alles andere als garantiert. Dann wäre es geradezu verwegen, kontinuierliche Produktivitätssteigerungen stillschweigend in seine Grundannahmen in eine Theorie der Marktdynamik einzubauen. Dann stünde uns eher eine weitere Verlangsamung des Wachstums bis zum Stillstand oder darunter bevor, unter Umständen sogar ein kontinuierlicher Rückgang der Produktivität – und damit auch eine deutliche Trendumkehr der von Marks langfristig steigend untergestellten Basisfunktionen.

Die Frage, welche Auswirkungen dies auf die Zyklen hat, welche diese Basisfunktionen umschwingen, könnte sich daher als eine erweisen, die nicht bloß ein theoretisches Gedankenspiel ist, sondern von größter praktischer Bedeutung.

Ein etwas enttäuschtes Resümee

Aus keinem Buch habe ich mehr über Investieren und, noch viel grundlegender, über Risiken und den bestmöglichen Umgang mit ihnen gelernt als aus "The Most Important Thing". Daher habe ich mir Marks' neues Werk "Mastering the Market Cycle" sofort nach seinem Erscheinen besorgt und weit oben auf meine Leseliste gesetzt. Doch mit einem Anflug von Enttäuschung muss ist nach der Lektüre feststellen, dass sich der marginale Erkenntniszuwachs in Grenzen hält: Die Aussagen dieses Buchs sind zwar völlig konsistent mit dem Vorläufer, aber sie fügen ihm wenig fundamentale neue Einsichten hinzu. Insofern sind sie eher eine Bekräftigung als eine Erweiterung.

Nach dem brillanten und umfassenden "Most Important Thing" hatte ich bereits die bange Frage: Was würde Marks dem überhaupt noch hinzufügen können? Grundlegend neue Erkenntnisse sind es nicht – eher und in erster Linie eine noch differenziertere Betrachtung von Zyklen, unterteilt nach allen möglichen Typen davon, von Schulden- und Gewinnzyklen bis zum "Distressed Debt Cycle". Das ist sicher nicht völlig überflüssig, aber es bringt auch nicht haufenweile neue Einsichten wie der Vorläufer.

Wer zum "Zyklologen" werden will, dürfte mit diesem Buch gut bedient sein – wer sein Denken über das Investieren und den Umgang mit Risiken erweitern will, ist besser beraten, "The Most Important Thing" zu lesen.

Trotzdem hat es seine Logik, dass Marks das Thema Zyklen weiter vertieft und möglichst vollständig auszuleuchten sucht. Denn wenn man sich, wie er, zur prinzipiellen Unvorhersehbarkeit der Zukunft bekennt, sind Zyklen wohl die einzige verbleibende Möglichkeit, wenigstens die Richtung der bevorstehenden Entwicklungen zu antizipieren. Und zwar gemäß dem Grundsatz: Je euphorischer die Stimmung ist, desto sicherer steht ein Abschwung bevor, und je depressiver sie ist, desto wahrscheinlicher wird eine Gegenbewegung und ein neuer Aufschwung.

Schlagworte:
Geldanlage, Marktzyklen, Investieren, Prognosen, Vorhersagen, Zyklizität, Systemdynamik

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