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Rezensionen

Mühsame Suche nach individualpsychologischen Nuggets

Adler, Alfred (1933):

Der Sinn des Lebens

Studienausgabe. Herausgegeben von Reinhard Brunner und Ronald Wiegand

Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) 2008; 192 Seiten; 40 Euro


Nutzen / Lesbarkeit: 9 / 4

Rezensent: Winfried Berner, 05.11.2019

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Eine mühsame, aber letztlich doch lohnende Perlensuche. Alfred Adler hat vor 86 Jahren zentrale Einsichten in das menschliche Seelenleben so klar und prägnant auf den Punkt gebracht, dass sie auch heute noch bemerkenswert sind.

Also, um es ehrlich zu sagen, es ist streckenweise eine Qual, Alfred Adler (1870 – 1936) im Original zu lesen. Der Begründer der Individualpsychologie soll, so heißt es, ein glänzender Redner gewesen sein, aber er war, so lässt sich heute noch feststellen, ein grausiger Schreiber. Statt nachvollziehbar zu argumentieren, stellt er apodiktische Behauptungen in den Raum, an deren Wahrheitsgehalt er offensichtlich nicht mehr zu zweifeln bereit oder in der Lage ist.

Sehr mühsam und wenig vergnüglich zu lesen

Die ersten Sätze des ersten Kapitels können da als Beispiel dienen:

"Es ist für mich außer Zweifel, dass jeder sich im Leben so verhält, als ob er über seine Kraft und über seine Fähigkeiten eine ganz bestimmte Meinung hätte; ebenso, als ob er über die Schwierigkeiten oder Leichtigkeit eines vorliegenden Falles schon bei Beginn seiner Handlung im Klaren wäre; kurz, dass sein Verhalten seiner Meinung entspricht. Dies kann umso weniger wundernehmen, als wir nicht imstande sind, durch unsere Sinne Tatsachen, sondern nur ein subjektives Bild, einen Abglanz der Außenwelt zu empfangen." (S. 25)

Das ist nicht nur sperrig formuliert, es ist auch eine rein subjektive und damit wenig wissenschaftliche Aussage: "Es ist für mich außer Zweifel …" besagt ja lediglich, dass der Autor sich absolut sicher ist. Das ist genau genommen nur eine Information über seine innere Verfassung und lässt offen, ob er sich dabei auf nachprüfbaren Fakten stützt und, wenn ja, auf welche. Wie anfechtbar das ist, wird offensichtlich, wenn man als zweite Satzhälfte eine hinreichend absurde Behauptung einsetzt: "Es ist für mich außer Zweifel, dass die Gehirne unserer Politiker von Außerirdischen gesteuert werden."

Seine oft komplizierten Formulierungen garniert Adler mit allen möglichen Ausflügen in verschiedenste Fachgebiete, von Medizin und Philosophie bis Physik und Evolutionsbiologie, aber meist ohne dass die Argumentation wirklich ausgearbeitet wird. Das wirkt allzu oft eher wie ein bemühtes, man könnte auch sagen, überkompensatorisches Unterstreichen der wissenschaftlichen Fundiertheit seiner Behauptungen als wie eine sachlich überzeugende Argumentation.

Eine literarische Goldsuche

Aber warum sollte man Adler dann überhaupt noch im Original lesen? "Man" sollte nicht unbedingt – jedenfalls nicht, wenn mit "man" durchschnittliche an der Individualpsychologie Interessierte gemeint sind. Ihnen stehen mit den Büchern von Dreikurs, Wexberg und anderen bessere Einführungen zu Verfügung. Die Mühsal rechtfertigt sich eigentlich nur dann, wenn man, aus welchen Gründen auch immer, tiefer einsteigen und zu der Quelle vordringen möchte.

Für mich ist die Hoffnung, die ich mit der Lektüre verbinde, in den Originaltexten Gedanken, Erklärungen, Zusammenhänge zu finden, die ich bislang noch nicht kannte, und so die Denkweise Adlers noch besser zu verstehen. Es ist eine Art literarischer Goldsuche: Der Versuch, in den Halden der Schlacke (sorry, das ist vielleicht etwas zu despektierlich formuliert) doch noch etwas zu entdecken, was die Anstrengungen im Nachhinein belohnt.

Wer sich davon nicht abschrecken lässt, für den kann sich die Lektüre in der Tat lohnen, denn das Buch enthält zwischen allerlei "Schlacke" immer wieder Aussagen, die man in dieser gedanklichen Klarheit, tiefen Empathie und intuitiven Durchdringung anderswo kaum findet, auch in der neueren Psychologie nicht. (Wobei ich diese Aussage relativieren muss, denn angesichts der exponentiell wachsenden Zahl von Veröffentlichungen kann ich hier natürlich bei Weitem keinen Überblick in Anspruch nehmen.)

Der Sinn des Lebens wird gewählt, nicht gefunden

Was Adler etwa über den Sinn des Lebens zu sagen hat, ist auch heute noch bemerkenswert, weil es eine deutliche Gegenposition zu der so verbreiteten "Sinnsuche" darstellt. Wie er bereits im Vorwort feststellt, liegt dieser Sinn nicht in irgendwelchen grandiosen höchstpersönlichen Missionen, die es zu entdecken gilt, sondern zunächst einmal schlicht in der Lösung der drei Lebensaufgaben:

"… so bleibt nur ein einziges Maß übrig, an dem wir einen Menschen messen können: Seine Bewegung gegenüber den unausweichlichen Fragen der Menschheit. Drei Fragen sind jedem unwiderruflich aufgegeben: die Stellungnahme zu den Mitmenschen, der Beruf, die Liebe." (S. 24, Hervorhebung im Original)

In Adlers Augen "findet" ein Mensch den Sinn seines Lebens nicht, sondern er wählt ihn. Wer also auf der Suche nach dem Sinn seines Lebens plan- und ziellos durch sein Leben irrt, unterliegt aus seiner Sicht einem grundlegenden Missverständnis: Er sucht, wo er eigentlich nur eine Entscheidung treffen müsste. So betrachtet, kann man diese Sinnsuche sogar als einen (unbewussten) Trick interpretieren, dem wahren Sinn des eigenen Lebens auszuweichen.

Auffällig an der so beliebten Sinnsuche ist der Anspruch auf Grandiosität, der darin unterschwellig mitschwingt: Der Sinn des eigenen Lebens muss schon etwas ganz Besonderes, Großartiges sein, der genau zu mir (und nur zu mir) passt und mich zu einer ganz außergewöhnlichen Persönlichkeit macht – alleine in so banalen und "normalen" Aufgaben wie Beruf, Liebe und Gemeinschaft kann mein Lebenssinn doch wohl nicht liegen!

Daraus klingt ein sehr hoher Anspruch an das eigene Leben oder, adlerianisch gesprochen, ein Streben nach Überlegenheit. Das Problem daran ist, dass die Realität diesem Anspruch nicht zwangsläufig zu entsprechen bereit ist. Adler würde ihn wohl mit Verwöhnung in Verbindung bringen, mit einer Überhöhung des Kinds durch seine Familie und insbesondere die Mutter, die ihm früh im Leben das Gefühl vermittelt hat, etwas Außergewöhnliches und ganz Besonderes zu sein. Der Haken an einem so hohen Anspruch ist ein hohes Risiko, solch einen exklusiven und ganz besonderen Sinn seines Lebens nicht zu finden – und so letztlich als ein vom Leben Enttäuschter zu enden.

Gemeinschaftsgefühl und die Höherentwicklung der Menschheit

Andererseits sagt Adler keineswegs, dass sich der Sinn des Lebens darauf beschränkt, die drei Lebensaufgaben Beruf, Liebe und Gemeinschaft zu lösen. Im Gegenteil: Auf all diesen Feldern einen positiven Beitrag zu leisten, ist für ihn nur die "Pflicht", der man sich stellen sollte, bevor man sich als Kür darüber hinausgehende Ziele setzt, um einen Beitrag für "das Wohl der Allgemeinheit, die Höherentwicklung der Menschheit" zu leisten (S. 162).

Adler verknüpft den Sinn des Lebens hier mit einem seiner zentralen Begriffe, dem Gemeinschaftsgefühl, und fordert, dieser Sinn müsse, um etwas zu taugen, einen positiven Beitrag zur Gemeinschaft leisten. Diese Gemeinschaft sieht er keineswegs auf das nähere Umfeld beschränkt, er versteht sie gewissermaßen in konzentrischen Kreisen von der Familie über die Gemeinde bis letzten Endes zur "idea­le[n] Gemeinschaft der ganzen Menschheit" und somit als "die letzte Erfüllung der Evolution" (a.a.O.).

"Ich würde jede Strömung als gerechtfertigt ansehen, deren Richtung (…) vom Ziele des Wohles der gesamten Menschheit geleitet ist. Ich würde jede Strömung als verfehlt erachten, die diesem Standpunkt widerspricht und durchflossen ist von der Kainsformel: 'Warum soll ich meinen Nächsten lieben?'" (S. 161)

Und:

"Eine Bewegung des Einzelnen und eine Bewegung der Massen kann für uns nur als wertvoll gelten, wenn sie Werte schafft für die Ewigkeit, für die Höherentwicklung der gesamten Menschheit." (S. 162)

Das klingt nun ebenfalls sehr nach einem Anspruch auf Grandiosität, aber, wenn ich Adler nicht völlig falsch verstehe, würde er die gute Bewältigung der Lebensaufgaben durchaus als einen solchen Wert für die Ewigkeit und die Höherentwicklung der Menschheit gelten lassen. Denn wenn jemand seine Kinder im Sinne des Gemeinschaftsgefühls erzieht und wenn ihr Umgang mit anderen Menschen in Beruf und Privatleben von Gemeinschaftsgefühl geprägt ist, leistet sie damit ein relevanter Beitrag zur Stärkung des Gemeinschaftsgefühls der Menschheit insgesamt, das in Adlers Augen "heute erst ein verhältnismäßig niedriges Niveau (…) erreicht hat." (S. 163)

Trotzdem bin ich angesichts der hochtrabenden Formulierungen geneigt zu sagen: "Großer Meister, hätten Sie's nicht ein bisschen kleiner?"

Weltanschauung, nicht Wissenschaft

Adler räumt ein, dass "diejenigen recht haben, die in der Individualpsychologie auch ein Stück Metaphysik finden" (S. 160). Aber wie sollte es auch anders sein? Hat jemand erwartet, auf die Frage nach dem Sinn des Lebens eine naturwissenschaftliche Antwort zu finden? Wie könnte denn eine Versuchsanordnung aussehen, mit der man den Sinn des Lebens experimentell bestimmen kann?

Allenfalls könnte man hier als Kriterium den Fortbestand und die "Höherentwicklung der Menschheit" (diesen Begriff schreibt man heute nicht mehr so unbefangen hin wie vor 85 Jahren) heranziehen. (Was, notabene, den Fortbestand eines halbwegs funktionalen Ökosystems voraussetzt.) Um dies zu erreichen, bedarf es "einer fortwährenden aktiven Anpassung an die Forderungen der Außenwelt" (S. 157). Das heißt, die Menschheit als Ganze muss sich, wenn sie überleben will, schnell genug an sich verändernde Rahmenbedingungen anpassen, und dazu sollte idealerweise jede/r einzelne beitragen.

Das Gemeinschaftsgefühl in dieser Weise in den Mittelpunkt eines sinnvollen Lebens zu stellen, ist natürlich eine normative, wertende Aussage und keine wissenschaftliche – aber sie leuchtet mir absolut ein. Gewiss könnte man auch ein anderes Referenzsystem wählen als die "ideale Gemeinschaft der Menschheit", etwa die Maximierung des eigenen Wohlergehens, des Wohlergehens der Familie oder des Clans, des Vereins, der Nation, der Religionsgemeinschaft oder was auch immer.

Aber zum einen ist da die Feststellung der Individualpsychologie, dass der Mensch als soziales Wesen nur gemeinsam mit anderen leben und gedeihen kann – das schließt die Maximierung des eigenen Nutzens zu Lasten anderer als Quelle eines tragfähigen Lebenssinns aus. Zum anderen bewirkt jeder ausschließliche und rücksichtslose Fokus auf den Vorteil der eigenen Bezugsgruppe unweigerlich eine Gegenposition zu anderen Gruppierungen und in deren Folge Konflikte.

Gleichwertigkeit aller Menschen

Die (wenigstens ideelle) Ausrichtung auf die gesamte Menschheit und die zumindest friedliche Koexistenz mit allen anderen Gruppen ist daher vermutlich die einzige Möglichkeit, die aggressivste und grausamste Art, die die Evolution jemals hervorgebracht hat, halbwegs zu befrieden.

Das heißt sicher nicht, dass man bei jedem Gespräch mit der Nachbarin gleich die Menschheit insgesamt im Auge haben muss – doch ist schon viel gewonnen, selbst beim Gespräch mit der Nachbarin und der Zusammenarbeit im kleinsten Kreis keine Gegenposition zu anderen Menschen einzunehmen, wie sie sich etwa schon in Lästern über abwesende Dritte und in übler Nachrede äußert.

Um das Gemeinschaftsgefühl von Kindern nicht zu gefährden, spricht sich Adler entschieden gegen die Glorifizierung des Krieges im Schulalltag wie auch die Todesstrafe aus und benennt auch die schädlichen Folgen von Armut und sozialer Ungleichheit:

"Mit übergroßer Schwere lastet das ungelöste ökonomische Problem auf dem sich entwickelnden Gemeinschaftsgefühl. Selbstmord, Verbrechen, schlechte Behandlung von Krüppeln, Greisen, Bettlern, Vorurteile und ungerechte Behandlung von Personen, Angestellten, Rassen und Religionsgemeinschaften, Misshandlungen Schwächerer und von Kindern, Ehestreitigkeiten und Versuche, die Frau in irgendeiner Art als minderwertig hinzustellen und anderes mehr. Protzereien mit Geld und Geburt, Cliquenwesen und dessen Auswirkungen bis in die höchsten Kreise setzen neben und Verwöhnung und Vernachlässigung frühzeitig den Schlusspunkt in der Entwicklung zum Mitmenschen." (S. 163)

Ich bekenne, dass mich der Gedanke eines universalen Gemeinschaftsgefühls sehr stark anspricht – auch wenn ich weiß, dass ihn manche naiv finden werden und andere ihn als mangelnde Solidarität mit der eigenen Bezugsgruppe missverstehen. Er implizit, sehr individualpsychologisch, die Gleichwertigkeit aller Menschen und greift so Artikel 3 (3) unseres Grundgesetzes vor. Doch diese Gleichwertigkeit innerlich voll zu bejahen, geht über das Diskrimi­nie­rungs­verbot hinaus: Es verlangt, sie zum integralen Bestandteil des eigenen Weltbilds und der eigenen Lebensführung zu machen.

Wie wenig selbstverständlich das auch heute noch, 86 Jahre nach Veröffentlichung dieses Werkes ist, zeigt aktuell das Wiederaufflammen eines rassistischen und nationalistischen Rechtspopulismus', der keineswegs nur Deutschland und Österreich, sondern beinahe die ganze Welt erfasst zu haben scheint.

Minderwertigkeitsgefühle und das Streben nach Vollkommenheit

Faszinierend an Adlers Verbindung von Gemeinschaftsgefühl und Lebenssinn ist, dass sie zugleich ein Krankheitsmodell liefert. Adler ist nicht an einer differenzierten Neurosen- und Psychosenlehre interessiert, für ihn entsteht seelische Erkrankung bzw. "Nervosität" daraus, dass Menschen entweder irrtümliche Lebensziele wählen, die gegen die Gemeinschaft gerichtet sind, oder aus Angst vor einem Versagen ("Minderwertigkeitsgefühl") ihren Lebensaufgaben mit den unterschiedlichsten Ausflüchten und Tricks ausweichen.

Nach Adler streben Menschen danach, von einer "Minussituation" in eine "Plussituation" zu gelangen. Er nennt das "das Streben nach Vollkommenheit", mit dem wir unsere Minderwertigkeitsgefühle zu kompensieren bzw. überzukompensieren trachten: Wir streben nach Anerkennung und Geltung und wollen bei unseren Aktivitäten gut, erfolgreich, am liebsten perfekt sein.

Wenn ein Mensch mutig genug ist und unter normalen Rahmenbedingungen an den Start geht, bewältigt er so seine Lebensaufgaben und leistet seinen Beitrag zum Funktionieren der Gemeinschaft. Wenn er dagegen entmutigt ist und/oder unter sehr ungünstigen Rahmenbedingungen startet, lässt ihn sein Minderwertigkeitsgefühl daran zweifeln, ob er den Lebensaufgaben gewachsen ist. Und dann wählt er aus Angst vor einer Niederlage und dem damit verbundenen Verlust an Ansehen und Selbstwertgefühl unter Umständen eine irrtümliche, sich gegen die Gemeinschaft richtende Strategie, um dennoch in eine Position der Überlegenheit zu kommen.

"Wir sehen nun, was eigentlich Nervosität ist: ein Versuch, dem größeren Übel [des Scheiterns] auszuweichen, ein Versuch, den Schein des Wertes um jeden Preis aufrechtzuerhalten, alle Kosten zu zahlen, aber gleichzeitig zu wünschen, dieses Ziel zu erreichen, auch ohne die Kosten zu zahlen. Leider ist das unmöglich." (S. 102)

"Der Neurotiker wendet sein ganzes Interesse dem Rückzug zu." (S. 106)

"Immer, wenn der Ehrgeiz eines Menschen die Wirklichkeit unerträglich findet, flüchtet er zu dem Zauber der Fantasie." (S. 145)

Minderwertigkeitsgefühle und der Wunsch, sie zu kompensieren, sind bis zu einem gewissen Grad "normal". Adler formuliert plakativ: "Menschsein heißt, ein Minderwertigkeitsgefühl zu besitzen, das ständig nach seiner Überwindung drängt." (S. 56) Und noch zugespitzter: "Menschsein heißt: sich minderwertig fühlen." (S. 67)

Neurosen – Irrwege bei der Bewältigung der Lebensaufgaben

Durch ungünstige Umstände, vor allem durch Verwöhnung, durch Vernachlässigung und durch einen entwertenden Erziehungsstil, können die Minderwertigkeitsgefühle jedoch ein Ausmaß erreichen, das zum Hindernis für ein gelingendes Leben wird. Dann bringen sie die Betroffenen dazu, in ihrem Streben nach Vollkommenheit ungeeignete, nicht zielführende Wege zu wählen.

Adler führt hier eine weitere kluge Unterscheidung ein, die ich noch nirgendwo sonst gefunden habe, nämlich die nach dem Grad der Aktivität, das ein Individuum an den Tag legt: Aktive Mensch, die sich den Lebensaufgaben nicht gewachsen fühlen, wählen aktive Strategien, ihnen aus dem Weg zu gehen, wie etwa das Verbrechen, den Suizid oder die Herrschaft über andere Menschen. (Hier kommt der Begriff "Wille zur Macht" her, der Adler irreführenderweise oft angeklebt wird.) Weniger Aktive wählen den Weg in die (körperliche oder seelische) Krankheit: Das ist der "Nervöse Charakter", den Adler in einem seiner frühen Hauptwerke (1912) beschreibt.

Dabei ist wichtig festzustellen, dass diese Wahl nicht bewusst, sehr wohl aber gezielt erfolgt: Das Individuum nutzt dabei die Möglichkeiten, die ihm sein Körper, seine Konstitution und seine Umgebung zu Verfügung stellt, und zwar auf einzigartige und kreative Weise. Er betont: "Die Neurose ist ein schöpferischer Akt und kein Rückfall in infantile oder atavistische Formen." (S. 86)

Mehr als alle anderen psychologischen und therapeutischen Schulen betont Adler die Besonderheit und Einzigartigkeit jedes einzelnen Menschen und jedes einzelnen Falles. Was es wiederum für den Therapeuten erforderlich macht, dessen spezifische "private Intelligenz" (S. 79) zu verstehen und dem Patienten so zu helfen, seinen Irrtum einzusehen und zu korrigieren.

Goldsuche überraschend ergiebig

Wie die Beispiele zeigen, erweist sich die "Goldsuche" als ausgesprochen ergiebig, jedenfalls wenn man mit dieser Art von individualpsychologischen "Nuggets" etwas anfangen kann. Wer sie im Originalzusammenhang kennenlernen will, muss Adlers etwas selbstgefälligen, kathedralen, pompösen Stil ertragen, ob er ihr gefällt oder nicht. Wobei ein zusätzlicher Grund sein kann, dass die Nuggets, die ich hier vorgestellt habe, keineswegs die einzigen sind, die in diesem netto nur rund 150 Seiten umfassenden Text zu entdecken sind.

Eine Empfehlung für das Buch ist also trotz allem fällig – aber mit dem Zusatzhinweis: für eingefleischte Individualpsychologen, die erstens mit den Grundzügen der individualpsychologischen Theorie vertraut sind und zweitens bereit, sich durch einen anstrengenden und teilweise ärgerlichen (wenn auch nicht allzu langen) Text hindurchzubeißen. Sie können darin in der Tat individualpsychologische "Nuggets" finden, aus denen Adlers Gedanken und Sichtweisen klarer werden als aus der Sekundärliteratur.

Für mich heißt das: Ich werde von Adler künftig sicher noch mehr lesen – auch wenn die Vorfreude auf die dort zu entdeckenden Nuggets von durchaus gemischten Gefühlen begleitet ist.

Wirrwarr der Editionen

Die in dieser Besprechung genannten Seitenzahlen beziehen sich auf die 2008 bei Vandenhoeck & Ruprecht erschienene Studienausgabe, die auch noch den kürzeren, ebenfalls 1933 erstmals erschienenen Text "Religion und Individualpsychologie" enthält.

Sie hat gegenüber der nach wie vor verfügbaren Werkausgabe im Fischer-Taschenbuch aus den siebziger Jahren den Vorteil einer augenfreundlichen Schriftgröße und eines großzügigeren Satzspiegels. Allerdings enthält die Taschenbuch-Ausgabe eine sehr lesenswerte Einführung des renommierten Gestaltpsychologen Wolfgang Metzger (1899 – 1979), die in der Studienausgabe leider nicht aufgenommen wurde.

Abzuraten ist von dem preisgünstigen Nachdruck, der 2008 im Anaconda Verlag erschienen ist: Er unterschlägt seltsamerweise das Vorwort, Adlers Einführung sowie das Register und zeichnet sich zudem durch ein Layout aus, das für eine tief empfundene Lieblosigkeit gegenüber Büchern spricht. (Wobei das Schönste ist: Wenn man die Anaconda-Ausgabe bei Amazon gekauft hat und sie enttäuscht retournieren möchte, will der Handelsriese sie nicht zurück haben – was ich verstehen kann – und erstattet den Preis ohne Rücksendung.)

Schlagworte:
Individualpsychologie, Minderwertigkeitsgefühle, Zugehörigkeitsgefühl, Gemeinschaftsgefühl, Sinn des Lebens, Lebenssin, Lebensaufgaben

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