Die Umsetzungsberatung

Rezensionen

Den unausweichlichen Wachwechsel friedlich gestalten

Mahbubani, Kishore (2020):

Has China Won?

The Chinese Challenge to American Primacy

PublicAffairs (New York); 311 Seiten; 26,91 Euro


Nutzen / Lesbarkeit: 9 / 9

Rezensent: Winfried Berner, 08.06.2020

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China ist dabei, die USA als dominierende Weltmacht abzulösen. Das weckt im Westen natürlich Ängste und heftige Gegenwehr. Doch Kishore Mahbubani hält die Entwicklung für weniger bedrohlich als viele glauben, und setzt auf einen friedlichen Übergang.

Wie das Fragezeichen im Titel deutlich macht, ist das Ringen um die geopolitische Vorherrschaft noch nicht entschieden. Allerdings ist auf lange Sicht kaum vorstellbar, dass sich die USA mit kaum weniger als einem Viertel der Bevölkerung Chinas auf lange Sicht als alleine dominierende Weltmacht behaupten können, zumal Produktivität und Wohlstand in China stärker wachsen als in den Vereinigten Staaten.

Um dies herauszufinden, hätte es dieses Buchs nicht bedurft. Sein Verdienst liegt vor allem darin, dass es sowohl die strategischen Ausgangsbedingungen dieser Rivalität durchleuchtet als auch klarmacht, dass nicht nur der Ausgang dieses Konflikts, sondern auch die Art, wie er ausgetragen wird, von großer Bedeutung ist – und zwar sowohl für die beiden Hauptbeteiligten als auch für die ganze übrige Welt. Leider sind die Weichen derzeit auf einen schwierigen, konfliktreichen Übergang gestellt.

Dem Westen den Spiegel vorgehalten

Man tut Kishore Mahbubani, dem indischstämmigen Singapurer Diplomaten und Senior Fellow am Asian Research Institute der dortigen Universität, sicher nicht Unrecht, wenn man ihn als chinafreundlich bezeichnet.

Aber das heißt keineswegs, dass er den USA oder dem Westen insgesamt feindlich gegenüberstünde – im Gegenteil: Obwohl er sich als Asiate immer wieder über das Gemisch aus Ahnungslosigkeit, Herablassung, Angst und Rücksichtslosigkeit ärgert, mit dem viele im Westen den asiatischen Ländern gegenübertreten, bemüht er als fundierter Kenner des Westens sich seit Jahrzehnten um Vermittlung und Erklärung, so auch mit seinen vorausgegangenen Büchern The New Asian Hemisphere und Has the West Lost It?. Das macht ihn sicher nicht zu einem Unparteiischen, doch es macht ihn zu einer Stimme, die sich sehr aufmerksam zu hören lohnt.

Deshalb habe ich auch nicht lange gezögert, als ich erfuhr, dass ein neues Buch von ihm erschienen ist – und kann es allen, die an geostrategischen Fragen interessiert sind, nachdrücklich empfehlen. Vor allem wünsche ich dem Buch viele amerikanische Leser, denn man kann nur hoffen, dass in diesem Land möglichst viele begreifen, dass die USA derzeit geopolitisch so ziemlich alles falsch machen, was man falsch machen kann, und damit nicht nur den Übergang unnötig erschweren, sondern auch ihren eigenen Interessen schweren Schaden zufügen.

Beispielsweise profitieren die USA seit vielen Jahrzehnten von dem Status des Dollar als "Weltreservewährung", also davon, dass der Dollar die Währung war und ist, in der der internationale Handel abgewickelt wird. Das heißt praktisch, alle Länder bzw. Firmen, die mit anderen Ländern handeln wollen, müssen Dollar kaufen – und die USA konnten und können diese stark nachgefragte Währung des Welthandels einfach kostenlos "drucken" und gegen Güter eintauschen: ein unglaubliches Privileg.

Doch seit einiger Zeit benutzt die amerikanische Regierung den Dollar zunehmend als Druckmittel, um andere Länder auf Linie zu bringen bzw. ihnen ihren Willen aufzuzwingen. Beispielsweise lässt sie keinen Handel mit dem Iran oder anderen "bösen" Ländern über das dollarbasierte Abwicklungssystem SWIFT zu. Damit schafft sie einen starken Anreiz, für den internationalen Handel auf andere Währungen auszuweichen – und bringt so den hochprofitablen Status des Dollars als Weltreservewährung in Gefahr. Und das ohne Not, weil der Iran für die USA eigentlich ohne geostrategische Bedeutung ist.

Ein Versuch, die Amerikaner zu bekehren

Mahbubanis neues Buch richtet sich in erster Linie an die Amerikaner. Sie will er davon überzeugen, dass ihr Land mit seiner Anti-China-Politik auf einem völlig falschen Kurs ist, der nicht nur viele unnötige Konflikte mit sich bringt, sondern den strategischen Interessen der USA massiv schadet. Vor diesem "missionarischen" Hintergrund sind auch der Aufbau und manche Aussagen des Buches zu verstehen.

Angesichts der Tatsache, dass Wirtschaft und Wohlstand in China mit seinen 1,4 Milliarden Menschen kontinuierlich wachsen, während die USA mit nicht mal einem Viertel der Bevölkerung allenfalls stagnieren, würde man als Antwort auf die Titelfrage "Has China Won?" am ehesten den Satz erwarten: "Not yet (but inevitably it will)."

Stattdessen lautet Mahbubanis Schlusssatz und Conclusio:

"At the end of the day, this is what the six billion people of the rest of the world expect America and China to do: to focus on saving the planet and improving the living conditions of humanity, including those of their own peoples. The final question will therefore not be whether America or China has won. It will be whether humanity has won." (S. 282)

Damit weicht er sehr diplomatisch – immerhin war er ja viele Jahre Singapurs UN-Botschafter – einer eindeutigen Antwort auf die selbstgestellte Titelfrage aus, statt die für Amerikaner bittere Wahrheit auszusprechen, und nimmt sie zugleich in die Pflicht. Trotzdem lässt er in seinem Buch keinen Zweifel daran, dass der Welt ein chinesisches bzw. asiatisches Jahrhundert bevorsteht. Doch zugleich bemüht er sich, die tiefsitzenden Ängste vor einer solchen Entwicklung zu zerstreuen.

Dem geschultem Diplomaten Mahbubani ist natürlich klar, dass er Amerikanern mit seiner Bestandsaufnahme der weltpolitischen Lage harten Tobak zumutet. Deshalb sollte man sich nicht wundern, wenn im Text immer wieder Sätze auftauchen, die wohl vor allem Balsam für deren aufgewühlte Seelen sein sollen, wie: "America has done more right than it has done wrong. This explains the relatively good relations America has had with most countries in the world." (S. 250) Doch selbst hier kommt er nicht umhin, fortzufahren: "Yet, it is also true that America has made several unnecessary and painful mistakes, especially with the Islamic world and with Russia." (S. 250f.)

Deutliche Kritik an China

Das Bemühen, gegenüber den Hauptadressaten glaubwürdig zu wirken und sich nicht dem Vorwurf einer einseitigen Parteinahme auszusetzen, bestimmt auch den Aufbau des Buchs. Nach der Einführung widmet sich das gesamte zweite Kapitel der Kritik an China: "China's Biggest Strategic Mistake". Und er legt da durchaus den Finger in die Wunde.

Ich vermute, die chinesische Regierung bekommt nicht jeden Tag ihre Fehler so messerscharf vor Augen geführt wie hier. Aber sie wird die Kröte wohl schlucken, weil ihr auch klar ist, dass nur diese Deutlichkeit die nachfolgende schonungslose Kritik an den USA legitimiert. Ob dies bei den Amerikanern die gewünschte Wirkung hat, steht auf einem anderen Blatt. Denn Kritikempfindlichkeit ist in aller Regel eine asymmetrische Angelegenheit: Welche Kritik sich andere anhören müssen, wird nicht mit derselben Sensibilität wahrgenommen wie die am eigenen Handeln.

Wie auch immer, als schwersten strategischen Fehler Chinas betrachtet es Mahbubani, die amerikanische Geschäftswelt gegen sich aufgebracht zu haben. Mit der Folge, dass die, im Gegensatz zu früher, nicht als Fürsprecher Chinas auftrat, als Trump seinen Wirtschaftskrieg vom Zaun brach. Im Gegenteil: Sein Vorwurf unfairer Handelspraktiken fand breite Zustimmung, auch bei Unternehmern, Top-Managern und sogar den oppositionellen Demokraten. Was in diesem zerstrittenen Land ungewöhnlich ist.

Zur Behinderung und Benachteiligung ausländischer Unternehmen und dem hemmungslosen Diebstahl geistigen Eigentums kommt noch hinzu, dass China, obwohl längst zur zweitgrößten Wirtschaftsnation der Welt aufgestiegen, weiterhin den Status und die Handelsvorteile eines Entwicklungslands in Anspruch nimmt, so wie Mali oder Bangladesch. Mahbubani empfiehlt China hier dringend ein Umdenken und eine konsequente Kurskorrektur – und zwar nicht aus Schamgefühl oder Fairness, sondern aus wohlverstandenem Eigeninteresse.

Die USA ohne Strategie

So durch die Kritik an China legitimiert, folgt im dritten Kapitel "America's Biggest Strategic Mistake". Der liegt für Mahbubani darin, dass sich die USA voller Wut, aber ohne jeden Plan in die Konfrontation mit China gestürzt haben. Was bereits jetzt ziemlich nach hinten losgegangen ist:

"By plunging into a major geopolitical contest, possibly the biggest ever in human history, without first working out a comprehensive long-term strategy, the Trump administration has only succeeded in diminishing America's standing in the world while, at the same time, creating spare for China's influence to grow in the world." (S. 49)

Wie plan- und konzeptionslos die USA hier unterwegs sind, macht Mahbubani deutlich, indem er das aktuelle Vorgehen mit jener ausgefeilten Strategie kontrastiert, mit der die USA den Kalten Krieg gewonnen haben: durch den Aufbau einer starken Allianz, durch gewaltige Rüstungsausgaben, mit denen der Ostblock auf die Dauer nicht mithalten konnte, durch die Förderung prowestlicher Regierungen in aller Welt, aber auch durch "Softpower", das heißt, durch das Vorleben eines attraktiven Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells.

Von alledem ist im Grund nur noch die militärische Stärke übriggeblieben. Aber die ist von begrenztem strategischen Wert, denn es ist äußerst unwahrscheinlich, dass sie im Kampf um die geopolitische Vorherrschaft eine entscheidende Rolle spielen wird. Doch statt möglichst viele Verbündete auf ihre Seite zu ziehen, stoßen die USA andere Länder und selbst ihre traditionellen Verbündeten in vielfältiger Weise vor den Kopf, etwa indem sie sich über internationales Recht hinwegsetzen, indem sie den Dollar als Machtmittel einsetzen und sogar, indem sie in schockierender Weise gegen die Werte verstoßen, die sie selbst jahrzehntelang als essenzielle "westliche Werte" propagiert haben.

Infolgedessen haben die USA in den letzten Jahren und insbesondere unter Trump so massiv an Vertrauen eingebüßt, dass China dieses unerwartete Geschenk kaum fassen kann: "Trump (…) has single-handedly done more to reduce America's prestige and influence in the world than any other American leader has." (S. 56) Auch wenn das vermutlich stimmt, darf man nicht übersehen, was die USA schon lange davor etwa im Nahen Osten und im Umgang mit der islamischen Welt angerichtet haben – und wie viel Hass sie damit auf sich gezogen haben.

Diese konzeptionslos-präpotente Politik ist für die USA umso gefährlicher, als ihr mit China ein ungleich stärkerer Gegner gegenübersteht als im Kalten Krieg. China hat mehr als viermal so viele Einwohner wie die USA und weist eine sehr positive Wirtschaftsentwicklung auf. Im Gegensatz zu den USA, in denen das Einkommen der unteren und mittleren Bevölkerungsschichten seit Jahrzehnten stagniert, ist der Wohlstand der chinesischen Bevölkerung gewachsen und wächst weiter.

Da die Wirtschaftskraft eines Landes aber schlicht das Produkt von Bevölkerungszahl und Produktivität ist, ist absehbar, dass China die USA in absehbarer Zeit einholen und hinter sich lassen wird. Die USA wären also gut beraten, schleunigst eine schlüssige Strategie für den Umgang mit diesem Übergang und der Epoche danach zu entwickeln. Stattdessen ist die konzeptionslose Feindschaft gegenüber China offenbar das Letzte, was die USA parteiübergreifend eint.

Taiwan als ewig wunder Punkt

"Is China Expansionist?" fragt Mahbubani im vierten Kapitel – und verneint erwartungsgemäß. Was im Rückblick auf die letzten Jahrzehnte und wohl auch frühere Jahrhunderte allerdings nicht unplausibel ist. Trotz seines erdrückenden Übergewichts pflegt es nach seinen Worten ein gutes Verhältnis zu seinen Nachbarn und mischt sich nicht in deren politische Systeme ein. Es kooperiert sogar eng mit dem vom Westen kaum ernstgenommenen ASEAN-Wirtschaftsverbund, der ursprünglich als Gegengewicht zu China gedacht war.

Im Gegensatz zum Westen, der seinen Werten gerne weltweite Geltung verschaffen möchte und sie (sofern dem keine wirtschaftlichen oder politischen Interessen entgegenstehen) offensiv einfordert, und zum verblichenen Sowjetkommunismus, der die "Weltrevolution" anstrebte und in möglichst viele Staaten der Welt ein sozialistisches System verankern wollte, hat China keine Bekehrungsabsichten:

"It does not believe that it has a 'universal' mission to promote Chinese civilization and encourage everyone else in humanity to emulate it." (S. 89)

Stattdessen verfolge China die Strategie, sich aus unnötigen Konflikten herauszuhalten. Die einzige Ausnahme von dieser konsequenten Nichteinmischung ist Taiwan – hier wird China nach seiner Auffassung weder nachgeben noch Kompromisse eingehen:

"Any Chinese leader, including Xi Jinping (despite all his power), could be removed if he is perceived to be weak on Taiwan. Why is Taiwan so fundamental to China? There is a very simple explanation. Every Chinese knows the century of humiliation that China suffered from the Opium War to 1949. Nearly all the historical vestiges of this century of humiliation have been removed or resolved, including Hong Kong and Macau. Only one remains: Taiwan. It was Chinese territory until China was forced to hand it to Japan after the humiliating defeat in the Japanese War of 1894-95." (S. 94)

Welches Doppelspiel im Bezug auf Taiwan der Westen im Zweiten Weltkrieg gespielt hat, wissen bei uns allenfalls noch spezialisierte Historiker. Doch in China ist die Erinnerung präsent, deshalb ist das Misstrauen gegenüber dem Westen groß, und jedes Anzeichen für eine direkte oder indirekte Unterstützung einer Loslösung und Unabhängigkeitserklärung Taiwans streut Salz in diese Wunden.

Diese Ausgangslage lässt der chinesischen Führung kaum Spielraum. Wenn der Westen und vor allem die USA diese rote Linie missachten und gegen ihre 1972 gegebene Erklärung verstoßen, nach der Taiwan Teil Chinas ist, könnte ein Konflikt hier eskalieren. Auch wenn unsere westlichen Sympathien ohne langes Nachdenken bei dem kleinen demokratischen Underdog sind, sollte man diesen Hintergrund kennen, bevor man mit dem Feuer spielt.

Irrationalität versus Rationalität und Stabilität

Leider ist die politische Lernfähigkeit der USA derzeit stark eingeschränkt, stellt Mahbubani im fünften Kapitel "Can America Make U-Turns?" fest:

"In the current geopolitical contest between America and China, America is behaving like the Soviet Union, and China is behaving like America did in the Cold War." (S. 105)

"America has become rigid, inflexible, and doctrinaire." (S. 115)

Als Beispiel für diese Erstarrung nennt er das Festhalten an einem gigantischen Militärapparat, der nach dem Ende des Kalten Krieges außenpolitisch weitgehend funktionslos geworden ist, innenpolitisch aber in den USA nicht in Frage gestellt werden kann und darf. Und:

"One of the most disastrous decisions America made after the end of the Cold War was to walk away from diplomacy." (S. 125)

"Should China Become Democratic?", fragt das sechste Kapitel – und wir ahnen die Antwort. Interessant und in meinen Augen nicht völlig abwegig ist aber Mahbubanis Begründung: Aus seiner Geschichte habe China gelernt, nichts mehr zu fürchten als Chaos. Nach seiner Auffassung profitiert letztlich die ganze Welt von einer stabilen und rationalen Führung durch die KP. Als Beispiel nennt er Taiwan: Eine demokratische Regierung würde schnell unter Druck geraten, mit dem abtrünnigen Landesteil kurzen Prozess zu machen.

"Indeed, relative to its size and influence, China is probably the least interventionist power of all great powers. Of the five permanent members of the UN Security Council, China is the only one that has not fought in any foreign wars, away from its borders, since World War II. (…) The primary goal of China's rulers is to preserve peace and harmony among 1.4 billion people in China, not try to influence the lives of 6 billion people who live outside China." (S. 148f.)

In der Tat leuchtet es ein, dass die chinesische Staats- und Parteiführung genug damit zu tun hat, ihre gigantische Bevölkerung ohne größere Katastrophen durch die gewaltigen Umbrüche zu führen, den ihr Riesenreich seit Jahrzehnten durchlebt und wohl noch für etliche weitere Jahrzehnte durchleben wird, um sich nicht nach außenpolitischen Abwechslungen zu sehnen. Das ist ihr bislang so gut gelungen, dass sie nicht in Versuchung war, durch außenpolitische Konflikte von innenpolitischen Problemen abzulenken – man sollte ihr wünschen, dass ihr das auch weiter gelingt.

Doch obwohl die Chinesen, wie er immer wieder betont, ihrer Regierung weit mehr vertrauen als alle anderen Völker, und obwohl sie Stabilität und Ordnung lieben, könnte gerade der wachsende Wohlstand breiter Bevölkerungskreise den Wunsch nach mehr politischer Mitsprache stärken:

"The current political system, where the Chinese Communist Party (CCP) has absolute control, cannot last forever. As Chinese society evolves and China develops the world's largest and possibly best-educated middle class that also travels around the world regularly, it would be perfectly natural for this group to progressively ask for a greater say in managing their social and political affairs. This demand will come." (S. 175)

Auf einem ganz anderen Blatt steht, wie sehr wir uns darauf freuen sollten, denn solche Übergänge verlaufen in der Regel nicht ohne Verwerfungen. Genau aus diesem Grund reagiert die chinesische Führung auch misstrauisch, wenn westliche Kräfte sich für eine Demokratisierung Chinas stark machen: Sie hat den Verdacht, dass dies nicht einer Stärkung Chinas dienen soll, sondern seiner Schwächung – und möglicherweise sogar Konflikte, Chaos und Spaltung fördern soll.

Die amerikanischen Ruinen von Gerechtigkeit und Demokratie

Im siebten Kapitel "The Assumption of Virtue" nimmt Mahbubani sich im Kontrast die amerikanische Lebenslüge vor, dass Amerika eine demokratische und gerechte Gesellschaft mit einem hohen Maß von Chancengleichheit sei. Gestützt auf John Rawls' berühmte "Theory of Justice" zeigt er, dass die USA nicht beanspruchen können, eine gerechte Gesellschaft zu sein: Seit den achtziger Jahren sind die Einkommen der Spitzenverdiener steil nach oben gegangen, doch die aller übrigen stagnieren oder sind real rückläufig. Reichtum ist aber nach Rawls nur dann mit Gerechtigkeit vereinbar, wenn alle davon profitieren.

Auch als demokratisch können sich die USA kaum noch bezeichnen, seit der Supreme Court 2010 entschieden hat, dass Unternehmen und Verbände in unbegrenzter Höhe an Parteien und Kandidaten spenden dürfen. Seither sind die Kampagnenkosten so nach oben gegangen, dass es sich keine Kandidatin mehr leisten kann, es sich mit ihren Großspendern zu verderben. Auf diese Weise haben sich die USA klammheimlich von einer Demokratie in eine Plutokratie verwandelt:

"In most societies, when individuals or corporations use money to influence public policy decisions, it is called out as corruption. Even people in third world countries that suffer from widespread corruption know it is illegal, though they often do not have the means to oppose it. But in America, it is not considered corruption to use money to influence public policy decisions because the Supreme Court legalized it." (S. 195)

Auch von der vielbeschworenen Chancengleichheit ist in den USA kaum noch etwas übrig: In kaum einem Land stehen die Chancen so schlecht, es von "ganz unten" nach ganz oben zu schaffen wie dort. Das war einmal anders, und als Fiktion lebt der amerikanische Traum fort – aber das bringt denjenigen, die heute im Keller der Gesellschaft sind, nichts als falsche Hoffnungen.

Es ist natürlich gemein von Mahbubani, einen der renommiertesten amerikanischen Philosophen als Kronzeugen heranzuziehen. Aber ich wollte, es wäre leichter, seine Kritik zurückzuweisen. Und so lautet sein durchaus nachvollziehbares, wenn auch für Amerikaner sehr bitteres Resümee am Ende dieses Kapitels:

"The relative strengths and weaknesses of the American and Chinese political system are central to the main question of this book. If the contest between America and China is a contest between a healthy and flexible democracy and a rigid and inflexible communist party system, then America will prevail. However, if the contest is one between a rigid and inflexible plutocracy and a supple and flexible meritocratic political system, China will win." (S. 209)

Eine neue Weltordnung

Im achten Kapitel wird es spannend: "How Will Other Countries Choose?" Fast alle Länder der Erde stehen vor der Frage, wie sie mit dem geopolitischen Machtkampf zwischen den USA und China umgehen sollen – und sie werden sich dabei hauptsächlich an ihren eigenen Interessen orientieren und sich, so gut sie können, gegen politischen Druck und Versuche einer einseitigen Vereinnahmung wehren.

Mahbubani geht hier die Interessenlagen der wichtigsten Länder bzw. Ländergruppen durch und kommt in Summe zu dem Ergebnis, dass in diesem Wettbewerb keineswegs der gleiche Ausgang zu erwarten ist wie im Kalten Krieg:

"Most countries will, in one way or another, hedge their bets. Both America and China will have to learn to play a more sophisticated game if they want to win countries over to their sides." (S. 251)

Im Grunde ist das sogar noch ein relativ freundliches Resümee; man hätte aus den Argumenten, die Mahbubani sehr objektiv und nachvollziehbar vorträgt, auch andere Schlussfolgerungen ableiten können. Das beginnt mit Europa, wo durchaus fraglich ist, ob die Amerikaner auf die Dauer dazu in der Lage sein werden, es dauerhaft auf ihre Seite zu zwingen bzw. es an sich zu binden, während sie sich zugleich immer mehr aus ihrer Rolle als Schutzmacht zurückziehen.

Europa teilt mit China nicht nur Handelsinteressen – geopolitisch noch weit wichtiger ein starkes Interesse an der Befriedung des Nahen Ostens und der Entwicklung von Afrika. Denn das ist für Europa wohl die einzige Chance, die Massenmigration und ihre katastrophalen Folgen zu stoppen. China ist in Afrika bereits stark engagiert und hat sich Ansehen erworben; zudem ist es nicht durch eine Kolonialgeschichte belastet. Was läge für Europa also näher als, hier mit China zu kooperieren? Die USA hingegen haben kaum noch ein strategisches Interesse an dieser Weltregion: Sie haben dort nur immense Kosten und einen katastrophalen Ruf, aber eigentlich nichts mehr zu gewinnen.

Interessant ist die Interessenlage der Länder, die in unmittelbarer Nachbarschaft Chinas liegen oder sogar eine gemeinsame Grenze haben: Japan, Korea, Australien, die ASEAN-Staaten, Indien, aber auch Russland. Zwar sind sie auf Handel mit und gute Beziehungen zu China angewiesen, dennoch dürften sie daran interessiert sein, nicht alles auf eine Karte zu setzen und sich im Westen bzw. in den USA einen starken Partner zu sichern.

Das würde freilich voraussetzen, dass die USA sie – im Falle Indiens und der ASEAN-Staaten – endlich ernst nehmen bzw. – im Falle Russlands – die Beziehungen auf eine völlig neue Basis stellen. Danach sieht es momentan überhaupt nicht aus, andererseits können solche Entwicklung, wie Nixons Chinareise von 1972 gezeigt hat, schnell gehen, wenn sie nur wirklich gewollt sind.

Fünf fundamentale "Nicht-Widersprüche"

Mit einer "Paradoxical Conclusion", die ich eingangs schon angerissen habe, schließt das Buch. Fast beschwörend betont Mahbubani seine Hoffnung, dass der Übergang in die neue Weltordnung friedlich und ohne dramatische Verwerfungen gelingen könne:

"One key message of this book is that while Chinese leaders want to rejuvenate Chinese civilization, they have no missionary impulse to take over the world and make everyone Chinese. China's role and influence in the world will certainly grow along with the size oft its economy. Yet, it will not use its influence to change the ideologies or political practices of other societies." (S. 254)

Das darf man ohne Zweifel glauben und hoffen – aber es muss notwendigerweise eine Hoffnung bleiben, weil Aussagen über die Zukunft und damit auch Aussagen über zukünftige Absichten anderer Menschen und Staaten zwangsläufig ungewiss sind. Das Kontrollbedürfnis, das China im Bezug auf seine eigene Bevölkerung an den Tag legt, ist nicht unbedingt vertrauensbildend.

Aber es hilft nichts: Die Entwicklung hin zu einer neuen Weltordnung lässt sich nicht aufhalten. Wir stehen daher nicht vor der Frage, ob sie uns gefällt oder nicht, sondern nur vor der Frage, ob und wie wir sie mitgestalten. Auf ein wichtiges psychologisches Hindernis macht Mahbubani zum Schluss noch aufmerksam, nämlich die im Westen tiefverwurzelte Angst vor der "gelben Gefahr", die möglicherweise auf die Mongolen-Überfälle zurückgeht (und souverän ignoriert, wie sich Europäer und Amerikaner als eine Art "weißer Gefahr" in anderen Teilen der Welt aufgeführt haben).

Fünf fundamentale "Nicht-Widersprüche"

Vielleicht kann es uns da helfen, uns mit asiatischem Denken zu beschäftigen: Es kreist nicht um sich ausschließende Gegensätze (entweder – oder), sondern um zusammengehörige Gegensätze im Sinne eines Yin und Yang. In diesem Sinne hebt Mahbubani am Ende seines Buchs nicht die Widersprüche hervor, sondern macht auf fünf fundamentale "Nicht-Widersprüche" aufmerksam, die Grund zur Hoffnung geben – und damit auch Grundlage einer rationalen Strategieentwicklung sein könnten.

Als erstes konstatiert er hier einen Nicht-Widerspruch zwischen den fundamentalen nationalen Interessen beider Länder. Denn das besteht im Wohlergehen oder der Lebenszufriedenheit ihrer Völker. Sie können besser über Kooperation und Handel verfolgt werden als über Abgrenzung und Feindschaft.

Der zweite Nicht-Widerspruch liegt aus seiner Sicht in dem gemeinsamen Interesse, den Klimawandel zu verlangsamen und seine Treiber unter Kontrolle zu bekommen:

"In the face of the overriding challenge of global warming, America and China have a fundamental common interest in keeping the planet habitable for the 1.7 billion people of America and China and the remaining 6 billion people of the world. This pressing and grave challenge to humanity should take precedence over all other challenges." (S. 281)

Dieses Ziel lässt sich schlüssig erweitern um die Sustainable Development Goals der UN, wie etwa, Hunger und extreme Armut zu beenden und allen Menschen gesunde und würdige Lebensumstände zu ermöglichen.

Zusammenprall oder Verschmelzung der Zivilisationen?

Nicht-Widersprüche sieht er weiterhin auch in der ideologischen Sphäre, in der Kultur und sogar bei den politischen Werten – sofern beide Seiten die vorhandenen Unterschiede respektieren und sich nicht gegenseitig zu missionieren versuchen. Den von Samuel Huntington 1993 vorausgesagten "Clash of Civilizations" hält Mahbubani nicht für eine aktuell drohende Gefahr. Im Gegenteil: Gemeinsam mit dem früheren amerikanischen Finanzminister und Weltbank-Ökonomen Larry Summers hält er sogar eine "Fusion of Civilizations" für wahrscheinlich.

Man könnte sogar argumentieren, diese Verschmelzung der Zivilisationen sei längst im Gang, nachdem die chinesischen Kommunisten zwar nicht die Demokratie, aber umso heftiger den Kapitalismus übernommen haben. Auch in vielen anderen Bereichen, etwa in Wissenschaft und Technik, aber auch bei Lebenszielen und -werten, hat sich China stark, vielleicht sogar zu stark dem Westen angenähert, wie etwa das Konsum- und das Reiseverhalten zeigen.

In diesem Sinne plädiert Mahbubani für wechselseitige Toleranz für unterschiedliche Modelle und für das Akzeptieren von Vielfalt – und beruft sich dabei auf John F. Kennedy, den er mit den Worten zitiert:

"Let us not be blind to our differences – but let us also direct attention to our common interests and to the means by which those differences can be resolved. And if we cannot end now our differences, at least we can help to make the world safe for diversity. For, in the final analysis, our most basic common link is that we al inhabit this small planet. We all breathe the same air. We all cherish our children's future. And we all are mortal." (S. 275)

Unbedingt lesenswert!

Wenn man Kishore Mahbubani in Videoaufzeichnungen sieht, staunt man, was für ein freundlicher, umgänglicher, liebenswürdiger und sympathischer Mensch er ist. Zugleich ist er aber auch ein messerscharfer Denker, der mit analytischer Präzision argumentiert und ebenso analytisch die Argumente der Gegenseite durchdringt und, wenn nötig, zerlegt. Weiterhin ist er Diplomat, sprich, professioneller Interessenvertreter des Staates Singapur auf internationaler Bühne. Und schließlich ist er ein Elder Statesman, der über den Scharmützeln des Tagesgeschäfts steht und versucht, die Geschicke der Welt, so gut er kann, in eine positive Richtung zu beeinflussen.

Diese vier Eigenschaften kollidieren in seinen Schriften zuweilen stärker als in seinen persönlichen Auftritten – wohl weil sie dort weniger durch die konkrete soziale Situation zusammengebunden werden. Hinzu kommt fünftens eine stellenweise spürbare Verärgerung über die Vernageltheit des Westens und speziell der USA, die partout nicht begreifen wollen, dass man die Realität der Welt auch anders sehen kann als sie.

In vielen Passagen nimmt er den Westen und vor allem die USA regelrecht auseinander und konfrontiert sie erbarmungslos mit den Folgen ihres Handelns bzw. Unterlassens. Stellenweise wird ihm dann selbst bewusst, dass er zumindest seinen amerikanischen Lesern gerade ziemlich viel zumutet, und bemüht sich, die Wirkung seiner Worte mit ein paar freundlichen Sätzen "einzufangen". Zuweilen argumentiert er sicherlich auch – mit großem Geschick – politisch: Nicht immer bin ich mir absolut sicher, ob er das, was der da insbesondere über die Absichten Chinas sagt, exakt genauso meint, wie er es sagt. Aber das ist vielleicht auch das Grundmisstrauen, das ich professionellen Diplomaten entgegenbringe.

Dennoch: Wer sich für geostrategische Fragen und/oder unser künftiges Verhältnis zu China interessiert, muss dieses Buch lesen – ob Amerikanerin oder nicht. Sie wird vielleicht manches relativieren, anderes auch anders sehen, aber sie wird das Buch mit hoher Wahrscheinlichkeit mit einer erweiterten Sichtweise aus der Hand legen.

Schlagworte:
Weltwirtschaft, Weltmächte, Weltwirtschaft, China, USA, Europa, Taiwan

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