Wer das Phänomen der "Gelernten Hilflosigkeit" und seine Auswirkungen tiefer verstehen möchte, findet hier eine ausgezeichnete Quelle – insbesondere wenn er sich für Anwendungen im pädagogisch-psychologischen Bereich interessiert.
Die "Theorie der Gelernten Hilflosigkeit", die der amerikanische Sozialpsychologe Martin Seligman 1975 vorgestellt und danach in mehreren Stufen weiterentwickelt hat, besagt in Kurzfassung, dass Menschen (und Tiere), die sich als hilflos und ohnmächtig ansehen, vorhersagbar drei Symptome entwickeln: (1) Sie werden apathisch, entwickeln also nur mehr sehr wenig Motivation und Initiative; (2) ihre Lernfähigkeit lässt dramatisch nach, und (3) sie entwickeln – nach einer Phase der Angst – depressive Züge.
Die Bedeutung dieser Theorie für die moderne Sozialpsychologie kann man daran ersehen, dass sie eine Flut von Untersuchungen und Veröffentlichungen ausgelöst hat. Aber auch für die Praxis ist sie von großer Bedeutung, weil sie einen schlüssigen Erklärungsansatz für Mutlosigkeit, Resignation und mangelnde Lernbereitschaft bietet. Damit ist sie auch für die Führung von Mitarbeitern und Unternehmen und insbesondere für das Management von Veränderungsprozessen wichtig. Seligman selbst hat seine Theorie und ihre Anwendungsfelder 1990 in dem populärwissenschaftlichen Buch "Learned Optimism" leicht lesbar und spannend beschrieben und um ein Konzept des "Gelernten Optimismus" ergänzt (deutsch: "Pessimisten küsst man nicht" – siehe Rezension).
Der Bielefelder Ordinarius Wulf-Uwe Meyer, der auch die mehrbändige "Einführung in die Emotionspsychologie" mitverfasst und herausgegeben hat, steigt tiefer als Seligmans Buch in die wissenschaftliche Erforschung der Hilflosigkeit ein. Er erläutert auf 184 Seiten nicht nur die Grundlagenexperimente, die Seligman 1975 zur Entwicklung seiner Theorie veranlasst haben, sondern auch die darauf aufbauende Forschung und konzentriert sich insbesondere auf deren Bedeutung für Schule und Unterricht. Sehr viel umfassender und sorgfältiger als Seligman selbst referiert Meyer die Kritik an der ersten Fassung der Theorie der Gelernten Hilflosigkeit und deren Integration mit der Reaktanztheorie durch Wortman und Brehm (1975).
Sehr viel präziser gibt er auch die reformulierte Hilflosigkeitstheorie und ihre Begründung wieder, die den subjektiven Erklärungen für Erfolg und Misserfolg (den so genannten Kausalattributionen) zentrale Bedeutung beimisst. Das mag für jemanden, dem diese Konzepte völlig fremd sind, recht abstrakt und verwirrend klingen, aber die Zusammenhänge werden von Wulf-Uwe Meyer sehr gut und nachvollziehbar erklärt. Und die Anstrengung des Mitdenkens lohnt sich, denn es ist ja durchaus von großem praktischem Interesse, wie das mit der Gelernten Hilflosigkeit wirklich funktioniert.
Das umfangreiche letzte Kapitel (58 Seiten) ist den "Implikationen für Schule, Unterricht und Erziehung" gewidmet. Dabei stützt Meyer sich hauptsächlich auf die Arbeiten einer New Yorker Forschungsgruppe um die Psychologin Carol Dweck, die Hilflosigkeitsreaktionen bei Schulkindern sowie deren Ursachen und mögliche Ansätze zu ihrer Bewältigung in zahlreichen Experimenten untersucht hat. Wer sich zutraut, in diesem Kapitel das Wort "Schüler" gedanklich durch "Mitarbeiter" zu ersetzen, wird aus diesem Buch so manche Anregung für die betriebliche Praxis mitnehmen.
Insgesamt wissenschaftlicher, präziser und weniger anekdotisch geschrieben als Seligman, aber ebenfalls gut – und lohnend – zu lesen.
(Siehe auch die Stichworte "Resignation" und "Optimismus / Pessimismus" im "Lexikon des Change Management")
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Schlagworte:
Hilflosigkeit, Gelernte Hilflosigkeit, Optimismus, Pessimismus, Beharrlichkeit, Depression
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