Die Umsetzungsberatung

Rezensionen

Chaotischer Zettelkasten statt systematischem Überblick

Specht, Philip (2018):

Die 50 wichtigsten Themen der Digitalisierung

Künstliche Intelligenz, Blockchain, Robotik, Virtual Reality und vieles mehr verständlich erklärt

redline / MVG (München) 5. Aufl. 2021; 381 Seiten; 17,99 Euro


Nutzen / Lesbarkeit: 2 / 7

Rezensent: Winfried Berner, 26.08.2021

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Eine einzige Enttäuschung. Statt des erhofften Überblicks über die wichtigsten Themen der Digitalisierung eine ziemlich unsystematische Zettelkasten-Auswertung, aus der sich sehr wenig lernen und/oder für das eigene Handeln ableiten lässt.

Wer sich große Sorgen macht, was mit der Digitalisierung alles auf ihn zukommt, sollte sich entspannen. Denn selbst wer nicht jede Social Media-Mode mitmacht (digital korrekt "Hype"), ist keineswegs drauf und dran, die Digitalisierung zu verschlafen. Oder machen Sie Ihre Fotos noch mit Kleinbildkamera, tragen den Film, nachdem er endlich voll ist, ins Fotogeschäft und holen ein paar Tage später ihre Abzüge ab (falls Sie es nicht vergessen)?

Wir sind alle längst sehr viel digitalisierter unterwegs als uns bewusst ist. Selbst die allermeisten Vorstände lassen sich inzwischen ihrer Mails nicht mehr ausdrucken, bevor sie die Sekretärin zum Diktat ihrer Antwort bestellen. Wir nutzen wie selbstverständlich Navis, recherchieren alles Mögliche online, von Öffnungszeiten über Preise bis Urlaubsquartiere, streamen munter Filme und Videos, und seit etwa einem Jahr kommen wir selbst mit Videokonferenzen zurecht.

Potpourri statt Struktur

Trotzdem haben viele, und habe auch ich, das Gefühl, beim Thema Digitalisierung keinen wirklichen Durchblick zu haben. Also fand ich es eine gute Idee, mir vor dem tieferen Eintauchen in Einzelthemen einen generellen Überblick zu verschaffen – und stieß nach kurzer (und selbst verständlich digitaler) Recherche auf "Die fünfzig wichtigsten Themen der Digitalisierung" von Philip Specht. Dass der Autor ein ehemaliger BCG-Berater ist, ließ mich hoffen, dass er mir das "Big Picture" vermitteln und ein wenig Ordnung in das schier unerschöpfliche und vielfältig verzweigte Themenfeld bringen würde.

Vergeblich. Sein Buch, auch wenn es – wohl in Ermangelung wirklicher Alternativen – inzwischen in 5. Auflage erschienen ist, entpuppt sich als wildes Potpourri, das kaum mehr Struktur hat als die 50 von ihm – teils eher knapp, teils recht ausführlich – behandelten Einzelthemen. Aber die sind so bunt gemischt wie "2. Bits & Bytes", "15. Venture Capital & Co.", "25. Trolle", "33. 3D-Druck", "40. Smart Home", "47. Homo Deus". Im dritten Kapitel "Hardware" erklärt er sogar, aus welchen Komponenten sich ein klassischer Rechner zusammensetzt – was ungefähr so nützlich ist, wie in einem Buch über die Zukunft der Mobilität die Bauelemente eines Verbrennungsmotors zu beschreiben.

Nun ist das Themenfeld ohne Zweifel heterogen, aber umso mehr würde man sich ein ordnendes Prinzip wünschen. Das jedoch leisten weder die 50 Kapitel selbst noch die sieben Abschnitte, in die sie gegliedert sind und deren Überschriften etwa lauten: "Das 1x1 der Digitalisierung" (wozu er interessanterweise auch "Exponentiell Wachstum" und "Venture Capital" zählt), "Das Internet aus Sicht von Privatnutzern und Unternehmen", "Die Schattenseiten des Netzes", "Die zehn wichtigsten digitalen Technologietrends" und "Der Einfluss der Digitalisierung auf ausgewählte Lebensbereiche".

Generell war für mich beim Lesen selten zu erkennen, aus welchem Grund Specht welchem Teilthema behandelt, warum er ihm wie viel Aufmerksamkeit zukommen lässt, ja überhaupt, warum er schreibt, was er schreibt. Insgesamt wirkt das Buch auf mich wie die kaum redigierte Auswertung eines großen (und vermutlich digitalen) Zettelkastens, leider auf einer recht niedrigen Veredelungsstufe.

Auch wenn über Berater und speziell über BCG oft gelästert wird, spätestens auf der vierten Folie käme eine 2 × 2 Matrix: Hier hätte ich mir gewünscht, dass solch eine Matrix oder irgendein anderes Ordnungsraster endlich käme. Denn eine Aneinanderreihung von völlig disparaten Teilaspekten lässt die Leser mit der Unübersichtlichkeit des Themenfelds allein, statt ihnen eine Struktur oder gar ein Denkmodell anzubieten.

Zu viel und doch zu wenig

Auch wenn die nicht enden wollende Aneinanderreihung von Teilaspekten der Digitalisierung ermüdet, ist sie alles andere als erschöpfend. Vermisst habe ich so wichtige Themen wie etwa die Digitalisierung der Verwaltung, die nicht nur zeitraubende Behördengänge hoffentlich irgendwann überflüssig macht, sondern etwa auch die private Verwaltung etwa von Versicherungs- und Bankgeschäften erheblich vereinfacht – wenn auch auf Kosten hunderttausender Arbeitsplätze, weil nicht nur Bankfilialen weitgehend überflüssig werden, sondern auch weite Teile der "Sachbearbeitung" von Banken und Versicherungen.

Von Amazon und anderen Online-Händlern ist in dem Buch zwar punktuell die Rede, doch wird nicht einmal angerissen, in welchem Ausmaß der Online-Handel Strukturen verändert und Monopole oder zumindestens Oligopole fördert. Denn wenn Käufer im Internet bestellen, spielt es kaum noch eine Rolle, ob der Händler im Nachbarort angesiedelt ist oder in einem fernen Logistikzentrum – und ob er ein heimisches Unternehmen ist oder ein globaler Konzern.

Stattdesssen bekommen, da die Angebote mehr oder weniger identisch sind, der Preis und der leichte Zugang die Schlüsselrolle. Da Großabnehmer von ihren Lieferanten aber weitaus günstigere Einkaufspreise erhalten, sind kleine Händler doppelt im Nachteil: Erstens findet sie kaum einer, und zweitens können sie mit den Preisen von Amazon und Konsorten nicht mithalten. Deshalb ist es ein fataler Rat, wenn kleinen Einzelhändlern empfohlen wird, als Ersatz für die rückläufige Kundschaft vor Ort Online-Angebote zu entwickeln: Gegen die Preise und Kostenvorteile der Konzerne haben sie nicht den Hauch einer Chance, sie verbrennen dort nur ihr letztes Geld.

Vieles Wesentliche fehlt

Dass Entfernungen im Internet keine Rolle spielen, dürfte auch den Bildungsbereich dramatisch verändern: Prinzipiell hat jede/r auf der Welt Zugang zu sämtlichen Bildungsangeboten der Welt, sofern sie online angeboten werden – und zwar in aller Regel zu weit geringeren Kosten als für Präsenzveranstaltungen, insbesondere ohne Reise- und Aufenthaltskosten, die für die allermeisten Menschen buchstäblich "exklusiv" sind: ausschließend, weil weder die Zeit noch das Geld für sie aufbringen können.

Schon heute empfinde ich es als ungeheures Privileg, zum Beispiel über TED, YouTube oder über https://www.freecodecamp.org/news/ivy-league-free-online-courses-a0d7ae675869/ kostenlosen Zugang zu einer Vielzahl exzellenter Vorträge, Seminare und Kurse zu haben. Für ein paar hundert Dollar nehme ich an hochkarätigen Tagungen und Kongressen in den USA oder sonstwo teil, ohne das Haus zu verlassen, ohne tagelang unterwegs zu sein und ohne ein Mehrfaches der Teilnahmegebühr für Reisekosten ausgeben zu müssen. Und das ist erst der Anfang!

Sind das keine Themen, das zu den "50 wichtigsten Themen der Digitalisierung" zählen? Dann probieren wir es mit internationalen Zahlungsströmen. Zu den wichtigsten Geldquellen vieler armer Länder, Gemeinden und Familien zählt traditionell nicht die westliche Entwicklungshilfe, sondern die Zahlungsströme, die von Arbeitsmigranten zurück nach Hause fließen.

Wenn die ihre Überweisungen über nahezu kostenlose Transfers in Kryptowährungen realisieren können statt über Dienstleister, die wucherische Margen verlangen, steigert das auf einen Schlag die Kaufkraft mancher armer Länder stärker als viele internationale "Geberkonferenzen".

Wenn Menschen, die bislang zu arm und/oder zu weit von der nächsten Stadt entfernt waren, um ein Bankkonto zu haben, plötzlich keines mehr brauchen, weil sich Geldgeschäfte aller Art mit einem halbwegs funktionstauglichen Smartphone abwickeln lassen, dann ändert das die Welt. Dito, wenn arme Bauern über das gleiche Smartphone die Marktpreise ihrer Erzeugnisse eruieren können und damit von den Zwischenhändlern nicht mehr so leicht über den Tisch zu ziehen sind.

Was ich ebenfalls vermisse, ist die Auseinandersetzung mit Bedrohungsszenarien, die sich aus einer digital vernetzten Welt ergeben. Ja, Specht erzählt ein bisschen von Filterblasen, Fake News, digitaler Überwachung, über Viren, Würmer und Schadsoftware, aber das ist alles eher "klein-klein". Auf Großszenarien, wie sie etwa Marc Ellsberg in seinem bereits 2012 (!) erschienenen Roman Blackout ausgemalt hat, und die ganze Staaten und Weltregionen an den Rand des Kollaps' und darüber hinaus bringen können, geht er überhaupt nicht ein.

Ich bin nun wahrlich kein Digitalisierungsexperte und übersehe sicherlich etliche weitere wichtige Dynamiken. Aber die Schwerpunkte, die Specht in seinem Buch setzt, kommen mir ziemlich willkürlich bzw. zufällig vor. Und erst recht die Themen, die er unerwähnt lässt: Die weißen Flecken auf seiner Landkarte der Digitalisierung wirken nicht wie eine bewusste Setzung anderer Schwerpunkte, sie erwecken den Eindruck, dass er sie schlicht nicht gesehen hat. Oder dass sie in seinem Zettelkasten nicht vorkamen.

Unter dem Strich leistet das Buch damit leider genau das nicht, was es zu leisten verspricht, nämlich, einen Überblick über alle wesentlichen Aspekte der Digitalisierung zu geben. Wenn so zentrale Themen wie die genannten fehlen, hinterlässt das vielmehr die unbehagliche Frage, welche anderen elementaren Themen wohl noch fehlen.

Folgenlose Betrachtungen, fehlendes "So What"

Nun könnte man hoffen, dass das Buch, wenn schon nicht als Überblick, dann wenigstens als Referenz zu den 50 Themen taugt, die es behandelt. Doch selbst diese Hoffnung geht nur teilweise in Erfüllung. Manches, was da erklärt wird – insbesondere die ersten zehn Kapiteln im sogenannten "1x1 der Digitalisierung" – sind nicht "basic", sondern allenfalls "pre-basic". Sie rekapitulieren elementares Grundwissen und sind schlicht überflüssig.

Anderes – wie etwa Kapitel 15 "Venture Capital & Co." – liefert durchaus interessante Informationen, aber auf den zweiten Blick fragt man sich, was die Finanzierung von Start-Ups über Risikokapital mit Digitalisierung zu tun hat. Klar, auch viele Unternehmen der Digitalwirtschaft finanzieren sich mit Risikokapital – aber das tun viele Start-Ups außerhalb der Digitalwirtschaft auch. Mit der gleichen – oder gleich wenig – Berechtigung könnte auch ein Kapitel über Eigenkapital oder über Bankkredite in dem Buch stehen.

Gerenell habe ich mich beim Lesen oft gefragt, für wen, für welche Zielgruppe Specht eigentlich schreibt. Selbst in den interessanteren Kapiteln fehlt das, was man bei BCG eigentlich vom ersten Tag an eingebläut bekommt, nämlich die Frage nach dem "So what". Dabei ist das doch die zentrale Frage: Was kann und sollte ich angesichts der fortschreitenden Digitalisierung tun, lassen, beachten – als Privatperson, als Unternehmer, als Behördenchefin, als Vorstand einer Non-Profit-Organisation?

Gewiss, allen diesen Zielgruppen wird man kaum mit einem einzigen Buch gerecht werden können – aber das es keiner Zielgruppe gerecht wird, sondern nur ganz allgemein über allerlei Aspekte der Digitalisierung plaudert, das ist doch arg mager. Trotz vieler mehr oder weniger interessanter Details habe ich so wenig aus diesem Buch gelernt wie schon aus lange keinem mehr. Und die einzige sinnvolle weitere Verwendung, die mir dafür einfällt, ist, dem unschuldigen Papier, auf das es gedruckt ist, eine zweite Chance zu geben.

Schlagworte:
Digitalisierung

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