Keine Länderkunde und noch weniger ein Leitfaden für Geschäftsreisende, sondern eher eine liebenswürdige Einstimmung auf Polen, das einen freundlichen Eindruck vermittelt, ohne sich allzu sehr an Fakten und Details aufzuhängen.
"Fahren Sie nach Polen. Ihre Seele ist schon dort!", umgarnt uns Radek Knapp in einer kess-charmanten Abwandlung eines in Deutschland gängigen Spruchs, der weniger mit Seelen als mit Verkehrsmitteln zu tun hat. Der in Warschau geborene, aber seit langem in Wien lebende Schriftsteller, der "regelmäßig in seine Heimat zurückkehrt, um seiner Großmutter im Garten zu helfen" (Klappentext), stellt uns Polen auf kurzweiligen 154 Seiten auf unaufdringlich-liebenswürdige Weise so einladend vor, dass man wirklich Lust bekommt, die Koffer zu packen. Was für einen Reiseführer zweifellos eine Meisterleistung ist, für ein länderkundliches Buch aber auch Skepsis weckt. Denn wo bleiben die negativen, schwierigen, weniger attraktiven Seiten dieses Landes? Dabei kann man Radek Knapp nicht einmal vorwerfen, dass er sie nicht anspricht – aber er schafft es, sie so darzustellen, einzuordnen und zu umspielen, dass uns auch irritierende Dinge entweder als nachvollziehbar oder als reizvoll exotisch erscheinen. Ein echter Charmeur.
Gelesen hat man dieses Büchlein schnell und ohne große Anstrengung, auch in weniger konzentriertem Zustand. Es ist mit leichter Hand geschrieben und liest sich angenehm. Allerdings ist es am Ende gar nicht so einfach, anzugeben, was man eigentlich gelesen und gelernt hat. Gewiss, es war interessant, kurzweilig, zuweilen geradezu verführerisch – doch Radek Knapp scheint den Weg in unser Herz zu finden, ohne den Umweg über den Verstand und die Erinnerung zu machen. Das hat Vor- und Nachteile. Was weiß ich nach der Lektüre mehr über Polen? Nicht allzu viel. Wo verstehe ich das Land und die Kultur wirklich besser? Das könnte ich kaum angeben. So hatte ich beim Lesen auch nie das Bedürfnis, mir etwas anzustreichen, um wichtige Erkenntnisse leicht wiederzufinden. Und dennoch verzeichne ich einen Sympathiegewinn. Ein liebenswürdiger Einschmeichler also – aber sagt uns das etwas über Polen oder bloß über den Autor?
Das Büchlein handelt im Wesentlichen die Themen ab, die man in einem Länderführer erwarten würde – beginnend mit den Einreiseformalitäten in Zeiten des Ostblocks und dem, was davon übrig geblieben ist, über die Sprache ("Das Komma weiß, wann seine Zeit gekommen ist") bis hin zu den großen Städte Warschau ("Das Hongkong Osteuropas") und Krakau ("Krakau als Kulturkneipe") und die ländlichen Regionen ("Das rettende Ufer der Rückständigkeit"). Natürlich bringt es einige Reminiszenzen aus der neueren Geschichte ("Wie man den Kommunismus kurzschließt") und den Weg in den Kapitalismus ("Schönes Geld"), kommentiert mit sanfter Ironie die Rolle des Katholizismus und der katholischen Kirche ("Das Kreuz am Sonntag") und widmet sich dann ausführlich der "polnischen Seele". Und auch hier vermitteln die Kapitelüberschriften sehr schön den Geist und Stil dieses Buchs: "Wozu Wodka wirklich gut ist", "Die Weichselaphrodite", "Gräfin Walewska auf dem Pferdegestüt". Den Abschluss bilden ein paar kurze Kapitel zur gegenwärtigen Situation von Medien, Politik und Kultur sowie zu (welt)bekannten Polen im In- und vor allem Ausland. Den Schlusspunkt markiert die skurrile "Legende von dem versunkenen Ghettoblaster".
Bei Knapps charmantem Plauderton besteht die Gefahr, dass man manches überliest, was er nur (allzu) dezent andeutet. Etwa, welche Nachwirkungen die deutsch-polnische Geschichte auf die Gegenwart hat: "Den Warschauern sagt man heute in Polen dasselbe nach wie den Römern oder den Parisern. Sie seien arrogant, herablassend, schlichtweg anders. Bei den Warschauern allerdings kommt ein ungewöhnlicher Umstand hinzu: Die meisten Warschauer kommen nicht aus Warschau. Ein Warschauer also, der von sich sagen kann, sein Großvater stamme aus Warschau, gibt es so gut wie gar nicht. Nach dem Zweiten Weltkrieg, in dessen Folge die Bevölkerung der Stadt von 1,2 Millionen auf vierhunderttausend dezimiert wurde, war man gezwungen, sich die neuen Warschauer auf dem polnischen Land zu suchen. Heute ist die Zahl der Warschauer auf zwei Millionen angestiegen – wenn man die Ukrainer und Russen dazurechnet, die auf dem Weg in den goldenen Westen auf dem Zentralbahnhof übernachten und mit dem Verkauf verblüffend billiger DVD-Filme ihren Unterhalt bestreiten." (S. 41 f.)
Das ist sehr elegant gemacht: Ein brisantes Thema als beiläufige Assoziation in einen Kommentar über die "Hauptstädter" eingeflochten, kurz und ohne jeden negativen Beiklang thematisiert und sofort wieder verlassen, bevor es unangenehm oder gar peinlich werden könnte. Aber genau das ist mir – vermutlich bin ich da "sehr deutsch" – etwas zu charmant. Gewiss, Radek Knapp schont auf diese Weise die Gefühle seiner deutschen Leser, und er legt offenkundig Wert darauf, ihnen kein schlechtes Gewissen zu machen. Doch seine elegante Beiläufigkeit hat den Preis, dass viele Leser das Gewicht dieses Nebensatzes gar nicht wahrnehmen werden. "... von 1,2 Millionen auf vierhunderttausend dezimiert" – da bleibt einem fast das Herz stehen. Und natürlich stellt sich die Frage, welche Nachwirkungen diese gerade mal 70 Jahre zurückliegenden Erfahrungen im heutigen Verhältnis der Polen zu uns Deutschen hinterlassen haben. Hier lässt uns Knapp vor lauter Charme ohne Auskunft.
Was freilich auch etwas mit unterschiedlichen "Kulturstandards" zu tun haben dürfte und insbesondere der Unterscheidung von "schwachem und starkem Kontext": Während wir Deutsche uns explizite Aussagen wünschen (schwacher Kontext: Alles Wichtige muss ausdrücklich formuliert werden), tendieren (Mittel-)Osteuropäer dazu, kritische Botschaften nur anzudeuten und sich darauf zu verlassen, dass die Adressaten die Bedeutung der Aussage aus dem Zusammenhang erkennen (starker Kontext) und auch ohne explizite und (über)deutliche Benennung richtig einordnen werden. In diesem Sinne ist dieser Punkt wohl auch ein Beispiel für unterschiedliche Kommunikationsstile und die möglichen Missverständnisse, die sich daraus ergeben können.
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