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Zwischen Autobiographie und vertiefter Erläuterung

Quinn, Daniel (1994):

Providence

The Story of a Fifty-Year Vision Quest

Bantam Books (New York u.a.); 183 S.; 14,50 Euro


Nutzen / Lesbarkeit: 7 / 9

Rezensent: Winfried Berner, 10.07.2006

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Nicht die autobiographischen Darlegungen machen den größten Wert dieses Buchs aus, sondern jene Passagen, in denen Daniel Quinn zentrale Gedanken aus seinen anderen Büchern erläutert, erweitert oder auch nur mit anderen Worten noch einmal erklärt.

Auf den ersten Blick könnte man "Providence" für ein Buch für Quinn-Fans halten, in dem der Meister autobiographisch über die Entstehungsgeschichte seines eigenwilligen Bestsellers "Is(h)mael" (siehe Rezension) berichtet. Und in der Tat trägt dieses Buch, wie der Untertitel ja signalisiert, stark autobiographische Züge, einschließlich der im Untertitel angedeuteten Selbst-Stilisierung. Doch während die autobiographische Seite zwar interessant und unterhaltsam geschrieben ist, ist dieser Teil für die Sache nicht unbedingt erheblich. Der größte Wert des Buches liegt in meinen Augen darin, dass er einige von Quinns zentralen Gedanken noch einmal besser und/oder aus einer anderen Warte erklärt. Was angesichts des Gewichts und der Tragweite dieser Gedanken durchaus des Lesens wert ist.

Autobiographien von "Denkern" sind prinzipiell eine zweischneidige Sache, weil sie zum Psychologisieren einladen: Was in seiner Lebensgeschichte hat den Autor dazu veranlasst, sich auf bestimmte Themen zu fokussieren und seine Thesen genau so zu formulieren? Doch für die Qualität eines Gedankens spielt es keine Rolle, aus welchem lebensgeschichtlichen Zusammenhang er entsprungen ist: Entweder er ist schlüssig, oder er ist es nicht. Das Kennenlernen des Lebenswegs macht subjektiv nachvollziehbar, weshalb sich ein Individuum auf ganz bestimmte Themen geworfen hat und weshalb es zu ganz bestimmten Aussagen kommt, doch die Qualität der Gedanken wird dadurch weder besser noch schlechter: Wir verstehen zwar genauer, weshalb jemand sagt, was er sagt, aber dadurch wird eine falsche Argumentation nicht richtig und eine richtige nicht falsch.

Daher ist es für die Bewertung von Quinns Gedanken in der Tat unerheblich zu lesen, dass er eine sehr einsame und verlassene Kindheit erlebt hat, mit der bitteren Erfahrung, von niemandem wirklich gewollt und gebraucht zu werden. Wir verstehen daraus, weshalb er als Kind davon träumte (und sich erträumte), dass die Tiere der Wildnis ihn zu sich riefen und ihm sagten: "You are needed there!" (S. 17, 173) Wir verstehen, weshalb er seinen Platz nicht in der Gemeinschaft der Menschen sucht, die in nicht haben wollten, sondern in der übergeordneten "community of life" (S. 174), und weshalb der sich mit den Opfern der menschlichen Zivilisation solidarisierte. Wir verstehen, weshalb er seine ganze laut Untertitel "50-jährige Visionssuche" in den Dienst jener Community of Life stellte, von der er sich – im Gegensatz zu den Menschen – gebraucht fühlte. Und wenn wir lesen, dass er von dem Trappisten-Orden noch während der Probezeit abgelehnt wurde, verstehen wir auch, weshalb Quinn für "The Story of B" den Plot gewählt hat, dass der Generalobere eines katholischen Ordens den Prediger (s)einer neuen Weltsicht als den Antichrist verfolgt und dabei auch vor Mord nicht zurückschreckt.

Aber genau hier liegen auch die Grenzen des Psychologisierens oder, weniger unfreundlich ausgedrückt, eines einfühlenden Verstehens und einer lebensgeschichtlichen Deutung: Sie machen den subjektiven Hintergrund transparent, aber sie liefern weder ein positives noch ein negatives Argument für die Beurteilung der inhaltlichen Aussagen. Die ausgedehnten autobiographischen Abschnitte des Buchs befriedigen zwar die persönliche Neugier, was der Autor solcher Bücher wohl für ein Mensch sein mag, und sie geben eine Antwort darauf, wie er dazu kam, solch außergewöhnliche und weitreichende Gedanken zu entwickeln, aber sie liefern – natürlich! – keine Antwort darauf, ob Quinns Thesen einer kritischen Hinterfragung standhalten. Einige zusätzliche Argumente für seine Thesen liefern aber die im Verlaufe des Buchs umfangreicher werdenden inhaltlichen Abschnitte, in denen Daniel Quinn einige seiner zentralen Thesen weiter ausarbeitet und mit Auszügen aus Vorläufer-Versionen von "Ishmael" untermauert.

So etwa im Kapitel 11, wo sich Quinn ausführlich mit den Unterschieden zwischen den theistischen Religionen und dem (vermeintlich primitiven) Animismus befasst, welcher die Natur insgesamt als mit Göttern und Geistern belebt ansieht Darin legt er meines Erachtens überzeugend dar, dass es keine schlüssigen Anhaltspunkte darauf gibt, ob die Anzahl der Götter in unserem Universum Null, Eins, Mehrere oder unendlich viele beträgt. Und noch mehr: "The presence of the divine in the universe doesn't necessarily depend on or argue for the presence of gods." (S. 139) Je geringer die angenommene Zahl der Götter jedoch ist, desto höher ist ihr Monopolanspruch: Wenn nach dem Animismus Berge, Quellen, Bäume, Flüsse und das Meer von "lokalen" Göttern belebt sind, dann können unendlich viele davon konkurrenzlos nebeneinander existieren; wenn es aber nur einen Gott gibt, dann kann das in Teheran kein anderer sein als in Rom oder Jerusalem.

Im diesem und dem folgenden Kapitel macht Quinn noch einmal deutlich, dass sämtliche theistischen Religionen maßgeblich dazu beitragen, den Menschen vom Rest der Biosphäre zu trennen und ihm eine Sonderrolle zuzuweisen. Schon die ägyptischen, griechischen und römischen Götter hatten die Menschen nach ihrem Bilde geschaffen: "Gods have personal lives, just like us. Gods have gender, sex lives, and even babies, just like us. They visit the earth and talk to people (who else would they talk to?), get involved in our lives. They listen to our troubles, take sides in our quarrels, look after us on our journeys, see that our enterprises get a little help, and so on." (S. 155)

Noch einen Schritt weiter gehen die monotheistischen Religionen und an deren Spitze das Christentums. Nicht nur wegen des verhängnisvollen Auftrags: "Macht euch die Erde untertan!", sondern auch wegen vieler anderer expliziter und impliziter Botschaften, die einen extremen Anthropozentrismus forcieren: "God did not give his only-begotten son for anything in the world but the people in it. Christ very definitely did not come to save the whales." (S. 169) Der Mensch ist demnach höherrangig und höherwertig als alles, was sonst auf der Welt existiert, und das rechtfertigt es nicht nur, dass der Mensch die Welt nach Belieben und ohne Rücksicht auf die Folgen für andere Arten nutzt, sondern es erlaubt es auch, störende Arten auszurotten. Klar, die biographische Analyse legt nahe, darin eine Trotzposition Quinn zum christlichen Gott zu sehen, der (bzw. dessen Trappistenorden) ihn nicht haben wollte. Doch selbst wenn es so wäre: Würde es seine Argumentation widerlegen?

Quinns scheinbar simple Gegenposition ist: "Man belongs to the world." (S. 146) Allerdings meint er das in einem sehr viel fundamentaleren Sinne als bloß, dass der Mensch eben auch "irgendwie" Teil dieser Welt ist: Nach seinem Verständnis sind wir in gleicher Weise Teil des Kreislaufs des Lebens, wie es Wespen, Haie, Spatzen und Bären sind – bzw. wir sollten es sein und müssten es sein, wenn wir diese Welt nicht vor die Wand fahren wollen. Wir sollten und dürfen uns keine Sonderstellung anmaßen: Wir stehen nicht über der Schöpfung, sondern sind ein Teil von ihr, nicht wichtiger, aber auch nicht weniger wichtig als alle anderen Teile. Aber vor allem: Nichts "Besonderes", nicht die "Krone der Schöpfung", sondern nur eine hochentwickelte Art, das heißt eine fortgeschrittene Stufe der Evolution. Sich als Teil des Kreislaufs des Lebens zu sehen, heißt nach Quinn auch, zu sehen und zu akzeptieren, dass wir "Futter sind", und zwar im doppelten Sinne: Physisch entstanden aus dem, was wir essen, aber am Ende unseres Lebens Futter auch für andere, so wie jede Art auf dieser Welt, gleich ob Pflanze oder Tier, zugleich Futter für andere Arten ist. Eine schreckliche Vorstellung? "Geschmackssache". In jedem Fall aber ist das der Kreislauf des Lebens: Nicht (anorganischer) Staub zu Staub, sondern organisches Futter für lebendige Futterverwerter.

Mit beinahe der gleichen Verve widmet sich Daniel Quinn im 10. Kapitel den Themen Schule und Lernen. Und auch hier bürstet er die herrschende Meinung konsequent gegen den Strich. Und auch hier macht er einige Punkte, gegen die man schwer argumentieren kann. So etwa, dass Kinder bis zum Schuleintritt unglaublich viele Dinge unglaublich schnell und mühelos erlernen – und dass sich diese Leichtigkeit des Lernens innerhalb weniger Schuljahre in ihr genaues Gegenteil verkehrt. Quinns Erklärung für dieses Phänomen ist, dass sich Lernen mit spielerischer Leichtigkeit entwickelt, sobald Kinder / Menschen unmittelbar an der betreffenden Sache interessiert sind – und dass sich das Lernen unweigerlich zur unendlichen Quälerei entwickelt, wenn es nicht dem natürlichen Interesse folgt, sondern einem fremdbestimmten Lehrplan.

Die Doktrin der Schule ist jedoch, dass es nicht möglich sei, sich an individuellen Interessen und an den Lernbereitschaften zu orientieren; stattdessen müsse man sich ein festes Programm durchziehen und die Schüler eben entsprechend "motivieren". Die Idee, die Quinn dieser Schul-Doktrin gegenüberstellt, ist weniger originell und einzigartig als das, was er zu den Themen Ökologie und Zukunftsgestaltung zu sagen hat; sie hat einen Beiklang von Summerhill und antiautoritärer Erziehung. Dennoch hat sie etwas, und vor allem, sie fügt sich gut mit den Ideen alternativer Lebensformen zusammen, die Quinn später in "Beyond Civilization" entwickelt. Seine Idee geht in Richtung offener Lernzentren, in denen sich erfahrene Experten zu Verfügung stellen, um den Kids (und interessierten Älteren) ihre Fähigkeiten und Künste beizubringen: "The rule is, you can come and go as you please, do anything you please, study with anyone you please for as long as you please. (...) It'd be a never ending feast of learning, and if you wanted to keep kids out, you'd have to put up a razor-wire fence ..." (S. 124)

Natürlich muss solch ein Ansatz das geballte Misstrauen gegen die freiwillige Lernwilligkeit von Menschen auf sich ziehen, dem wir ja unser gesamtes rigides Schulsystem verdanken. Der Einwand liegt allzu nahe, dass Kinder und Jugendliche auf diese Weise niemals all das Wissen erwerben würden, das sie für ihr späteres Leben brauchen. Aber lernen sie das denn in der Schule? Im Grunde sind unsere Schulen doch furchtbar ineffiziente Einrichtungen, in denen mit gigantischem Aufwand und unter großer Quälerei für alle (!) Beteiligten ein erschreckend geringer Output produziert wird, und noch dazu ein Output an Kenntnissen und Fähigkeiten, dessen größter Teil später nie wieder genutzt wird (auch nicht als "Allgemeinbildung"). Warum also nicht damit experimentieren, Lernen, Arbeiten und Leben wieder enger zusammenzuführen? Was dabei herauskommen könnte, wären keine neuen Schulen, sondern Sozialsstrukturen, in denen die Lebensbereiche nicht klinisch separiert, sondern integriert sind: "People in these cities ouldn't get as much 'done' as people in New York City, wouldn't have as sharp a competivite edge, but they'd have a hell of a lot more fun and they'd find out what it's like to live like human beings instead of workers–-and they wouldn't pay a nickel in school taxes. It would be costly in terms of time, of course, but how many hours does the average worker spend right now paying for a system that doesn't work?" (S. 125)

Die Auswahl der Themen, die Quinn in diesem Buch weiter ausarbeitet, hat natürlich Gründe, die stark mit seinem Lebensweg und Lebensstil (bzw. Charakter) verknüpft sind. Umso erfreulicher, dass dabei immer wieder auch Gedanken abfallen, die über das Interesse an der Person Daniel Quinn und an der Entstehungsgeschichte von "Ishmael" hinausgehen. Dennoch ist und bleibt dieses Buch primär eine Kreuzung von Autobiographie und Werkgeschichte. Muss man es gelesen haben, um die zentralen Gedanken von Daniel Quinn verstehen und richtig einordnen zu können? – Nein, dafür taugen "Ishmael", "The Story of B" und "Beyond Civilization" besser. Kann man sich die Lektüre also schenken? – Nein, so würde ich es nicht formulieren. Die Lektüre lohnt, wenn man sich für die Entstehungsgeschichte eines so außergeöhnlichen Werks wie "Ishmael" und dessen Urheber interessiert. Und erst recht, wenn man einige originelle Gedanken zum Verhältnis von Religion(en) und Ökologie sucht. Allerdings sollte man darauf gefasst sein, dass diese Gedanken nicht nur für (christlich) gläubige Leser, sondern (zum Beispiel) auch für Buddhisten stark irritierend sein können. Reizvoll ist das Buch auch für (tiefen)psychologisch interessierte Leser, die Lust haben, den Zusammenhängen zwingen Lebensstil / Charakter und "Lehre" nachzuspüren – vor allem, wenn sie es dabei fertigbringen, zwischen dem einfühlenden Nachvollziehen und der rationalen Überprüfung der Stringenz von Quinns Gedanken zu trennen.

Schlagworte:
Ökologie, Zukunft, Theistische Religionen, Animismus, Lebensformen, Zivilisation

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