Ein wirklich lesenswerter Landesführer für alle, die Polen besser kennen- und verstehen lernen wollen als man es aus einem bloßen Ratgeber für Business Traveler könnte: Die polnische Geschichte wird zum Schlüssel für die Gegenwart.
Entgegen den Erwartungen, die der schrille Titel "Kulturschock Polen" weckt, begegnen wir einem Buch, das keineswegs auf Knalleffekte aus ist, sondern sich diesem nahen fernen Nachbarland mit großer Sorgfalt und viel Kenntnis nähert. Und so wie man die Beziehungsstrukturen in einer Familie und ihre Entstehungsgeschichte verstehen muss, wenn man begreifen will, weshalb (ausgerechnet!) Geschwister so unterschiedlich sind, so muss man die gemeinsame (und gerade deshalb oft trennende) Geschichte kennen, wenn man verstehen will, weshalb benachbarte Völker so unterschiedlich sind.
Deshalb ist es gut, dass das Buch mit einem 60 Seiten umfassenden Kapitel "Erinnerungen und Epochen" beginnt, das dem Leser einen Überblick über die polnische Geschichte gibt. Diese Geschichte spiegelt sich auch im 2. Kapitel "Kultur und Kirche" wider – was, mit Verlaub, eine sehr polnische Assoziation ist, zumal sich die Reihenfolge und Gewichtung der beiden Begriffe im Text – ohne erkennbaren Widerspruch zur Realität – umkehrt.
"Die Polen und die großen Nationen der Welt" ist das 3. Kapitel überschrieben, doch der Text macht rasch deutlich, dass hier nur höflichkeitshalber das Wörtchen "anderen" weggelassen wurde. Als relevante Nationen führen die Autoren nur – und in dieser Reihenfolge – die Amerikaner (glorifiziert), die Franzosen (enttäuschte Liebe), die Russen (gefürchtet und verachtet) und die Deutschen (gefürchtet und bewundert) auf. Die restliche Mischpoche kommt dann in Kapitel 4 "Die Polen und ihre Minderheiten" an die Reihe, wobei deutlich wird, dass die Polen ein durchaus gespanntes Verhältnis zu "ihren" zahlreichen Nachbarn und nationalen Minoritäten – Juden, Kaschuben, Litauer, Weißrussen, Tataren, Roma, Schlesier und andere – haben.
Erst auf Seite 172 (von netto 238) dieses Länderführers folgen "Streiflichter aus dem politischen Alltag": Eine Vergangenheitslastigkeit, die für die vielbewunderten USA völlig unvorstellbar wäre, die aber wohl durchaus charakteristisch für das östliche Mitteleuropa (und nicht nur Polen) ist. Denn über diese Länder ist die Geschichte – oder genauer: sind die netten Nachbarn – immer wieder mit dem Feingefühl einer Planierraupe hinweggewalzt. Man muss sich nur einmal in irgendeinem historischen Atlas die Grenzverläufe Polens in den letzten 500 oder 1000 Jahren anschauen, dann weiß man, dass das kollektive Erfahrungen sind, die wir Deutsche kaum und die Amerikaner überhaupt nicht nachempfinden können.
Aber zurück zu den "Streiflichtern": Erstaunlich, welche Prägnanz und Dichte das Buch nun, da das Fundament einmal gelegt ist, entwickelt. Ich merke, dass ich als Deutscher aufatme, nachdem der lange, lange Anlauf durch die Geschichte absolviert ist und es (endlich!) zur Sache geht. Aber ich muss anerkennen, als wie wertvoll sich, um diese Dynamik in der Sache entfalten zu können, das Fundament erweist, welches das polnisch-deutsche Paar Gawin / Schulze gelegt hat. In den "Streiflichtern" geht es um "Kind sein und erwachsen werden" ebenso wie um "Liebe und Sexualität", um "Die schöne Polin" ebenso wie um den (adjektivisch absichtsvoll nicht näher charakterisierten) polnischen Mann, um Familienleben, Wohnen, Einkaufen und – besonders wichtig – um Essen und Trinken, aber auch um "Arbeit und Reichtum", "Korruption", "Krank sein" und das "Leben auf dem Land" sowie um die in Teilen der Bevölkerung wiedererstandene "Sehnsucht nach dem Sozialismus". Nach diesen 50 streiflichternden Seiten hat der Leser ein erstaunlich farbiges und lebendiges Bild von der polnischen Lebensart.
Ein kurzer "Reise-Knigge" (18 Seiten) rundet das Bild ab, und versorgt uns mit Tipps, von denen einige auch zuhause mit Vorteil eingesetzt werden können ("Lieber mündlich als schriftlich"), während manche andere (wie zum Beispiel "Begrüßung mit Handkuss") doch recht Polen-spezifisch sind. Auf einen Wesenszug der Polen, der eher untypisch für das östliche Mitteleuropa ist, macht dabei die Empfehlung "Lieber direkt als diplomatisch" aufmerksam: Damit würde man sich in Tschechien oder Ungarn wenig Freunde machen. Überhaupt sind die Polen offenbar konfliktfreudiger als viele ihrer Nachbarn – der "kleine Unterschied zwischen Polen und Tschechen" kommt sehr hübsch in einer Anekdote zum Ausdruck, die im Kapitel über die Minderheiten eingestreut ist: "Der Pole besucht den Tschechen und staunt über die herrliche, im Krieg nicht zerstörte Altstadt. Kurz darauf kommt der Tscheche nach Polen und staunt über die zerfledderte Hauptstadt. 'Wir haben gegen die Deutschen gekämpft', erklärt der Pole. 'Daraufhin haben sie Warschau in Schutt und Asche gelegt.' Unbeeindruckt darauf der Tscheche: 'Na, hat es sich gelohnt?'" (S. 165)
Dass Gawin und Schulze auch vor sehr weltlichen Themen nicht zurückschrecken, beweist ihr buchstäblich allerletzter Hinweis: "Öffentliche Toiletten sind mit Dreieck oder Kreis markiert. Der Herr darf nur beim Dreieck hinein, die Dame beim Kreis. Unabhängig davon, wie schmutzig die Toiletten sind, ist bei der Garderobenfrau eine Gebühr zu zahlen." (S. 237)
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