Ein kompakter Überblick über den aktuellen Stand der Bemühungen, den Wert des Human Capital konzeptionell in den Griff zu bekommen, ihn quantitativ zu bestimmen und Strategien zur systematischen Wertsteigerung zu entwickeln. Überzogener Preis.
Das Stichwort Human Capital liefert Stoff für mancherlei kluge und nützliche, aber auch für mancherlei ziemlich entbehrliche Diskussionen. Den bisherigen Spitzenplatz auf der nach oben offenen Skala besserwisserischen Moralisierens nimmt wohl die "Wahl" des Begriffs Humankapital zum "Unwort des Jahres" ein. Statt aus einer Position moralischer Überlegenheit die angeblich so menschenverachtende Verbindung der Begriffe "Human" und "Kapital" zu brandmarken, halte ich es sowohl für redlicher als auch für ergiebiger, sich mit den Gedanken und Intentionen hinter diesem Begriff auseinanderzusetzen. Denn dann wird klar, dass dahinter ein sehr viel würdigerer Umgang mit den "Human Resources" steht als er das Geschäftsleben derzeit vielerorts prägt. In den gängigen Kostenstrukturen finden sich die Mitarbeiter als "Personalaufwendungen" wieder, das heißt als Kostenfaktor. Und bei Kosten richtet sich das Augenmerk des Managements reflektorisch darauf, wie sie gesenkt werden können. Das hinterlässt seine Spuren – nicht nur in der Arbeitsbelastung, sondern auch im Lebensgefühl. Jedenfalls höre ich in den letzten Jahren immer häufiger den Satz: "Ich empfinde mich hier nur noch als Kostenfaktor. Und ich frage mich, ob es nicht das Beste wäre, wenn ich einfach wegbleiben würde!"
Diesem fatalen Kostenfokus hat, soweit ich weiß, erstmals der amerikanische Managementpsychologe Wayne Cascio den Vorschlag gegenübergestellt, die Mitarbeiter nicht als Betriebskosten, sondern als Bestandteil des Betriebsvermögens anzusehen (vergl. Buch "Responsible Restructuring"; siehe Rezension). Denn beim Anlagevermögen denkt der wackere Manager nicht darüber nach, wie man es reduziert, sondern wie man es bestmöglich nutzen kann. Darüber kannsich moralisch noch heftiger entrüsten, wer daran Freude hat, denn die Zuordnung zum Betriebsvermögen lässt sich ja so deuten, dass die Mitarbeiter dabei ebenso als Eigentum des Unternehmens betrachtet werden wie Betriebsgrundstücke und Fertigungsanlagen. Mit jenem entschlossenen Mut zur Fehlinterpretation, der die Debatte stellenweise auszeichnet, könnte man den Begriff Humankapital somit als ideologischen Vorreiter der Wiedereinführung der Leibeigenschaft entlarven.
Aus Sicht der Mitarbeiter freilich sind solche säuerlichen Einwände absurd. Für sie ist es ein himmelweiter Unterschied, ob ihr Unternehmen den größtmöglichen langfristigen Nutzen aus ihren Fähigkeiten und Potenzialen ziehen oder ob es primär ihre Kosten reduzieren möchte. Und natürlich zielt die Human-Capital-Diskussion nicht auf eine Änderung der Bilanzierungsrichtlinien, sondern auf eine Änderung der Blickrichtung: Je stärker Unternehmensführer die Mitarbeiter als wesentlichen Bestandteil des Unternehmenswerts begreifen, desto achtsamer, sorgfältiger und weitblickender werden sie mit diesem sensiblen Wertbestandteil umgehen.
Die Deutung als "Betriebsvermögen" trägt lediglich der Tatsache Rechnung, dass ein Teil des Marktwerts eines jeden Unternehmens in den Köpfen seiner Mitarbeiter und in der Qualität von deren Zusammenarbeit liegt. Dieser Wertanteil kann relativ gering sein, etwa in einer hochstandardisierten Fließbandproduktion, aber auch extrem hoch, etwa in einem eingespielten professionellen Wissensunternehmen (gleichgültig übrigens, ob es dem Produktions- oder Dienstleistungssektor zuzuordnen ist). Doch in jedem Fall liegt es sowohl im ökonomischen Interesse des Unternehmens, den Wert des Humankapitals – das heißt, den Wertbeitrag aus Fähigkeiten, Engagement und reibungsloser Zusammenarbeit – zu steigern, wie auch im besten Interesse der Mitarbeiter selbst. Denn es macht nicht nur mehr Spaß, in einem solchen Umfeld zu arbeiten, sondern eröffnet auch bessere Zukunftschancen und steigert den eigenen Marktwert. Insofern kann man nur jedem gratulieren, der das Glück hat, in einem Unternehmen zu arbeiten, das konsequent auf jenes "menschenverachtende" Konzept setzt, statt – politisch offenbar korrekt – auf die kontinuierliche Senkung des Personalaufwands zu setzen.
Doch wer in diesem Sinne den Wert seines Humankapitals steigern möchte, braucht zweierlei: Zum einen ein Verfahren, den aktuellen Wert des Humankapitals zu bestimmen, zum anderen ein Konzept sowie konkrete Ansatzpunkte, was er tun kann, um dessen Wert zu steigern. Und sowohl das Messverfahren als auch die Ansätze zur Wertsteigerung sollten nach Möglichkeit nicht willkürlich aus der Luft gegriffen sein, sondern schlüssig begründet und idealerweise empirisch abgesichert. Beide Denkrichtungen sind derzeit erst in der Entwicklung, und das schmale Bändchen von Anja Deusen fasst sowohl die Entstehungsgeschichte als auch den aktuellen Stand des "Human Capital Management" zusammen.
Nach einer kurzen Einführung und einem zweiten Kapitel, welches "Die Bedeutung des Faktors Personal im internationalen Wettbewerb" auf gnädigen 8 Seiten herausstreicht, kommt die Autorin im dritten Kapitel zur Sache, nämlich zu den "Grundlagen des Human Capital Management". Dabei unterscheidet sie drei Entwicklungsphasen der HC-Diskussion: Erste Versuche einer Bewertung des Human Capital gab es bereits in den 60-er und 70-er Jahren. Die damaligen Versuche, das "Humanvermögen" in einer einzigen Zahl auszudrücken, erweisen sich jedoch als allzu angreifbar und setzten sich nicht durch. Die zweite Welle in den 80-er und 90-er Jahren zielte vor allem auf eine Bewertung des "Intellectual Capital", das nach der gängigen Begrifflichkeit neben dem Humankapital auch das Strukturkapital (Kunden- und Organisationskapital) umfasst. Der Anstoß dazu kam nicht zuletzt aus dem Problem, dass das Anlagevermögen bei der wachsenden Zahl von wissensintensiven Unternehmen, seien es Softwareschmieden, Entwicklungslabors oder Beratungsfirmen, ein völlig unzureichender Indikator für den Firmenwert ist. Die dritte Phase sieht Deusen vom Begriff des Human Capital geprägt: "In dieser Phase wird die Personalbewertung mit der finanziellen Erfolgsrechnung der Unternehmen verbunden, qualitative und quantitative Messgrößen werden zur Ermittlung des Personalwertes kombiniert. Das Konzept des Humankapitals zielt hierbei auf die strategische Steuerung des Personals ab, mit dem Ziel, langfristig den Wert der Mitarbeiter und damit auch den Unternehmenswert zu steigern." (S. 32)
Weiter stellt Deusen in diesem dritten Kapitel "Anforderungen an Human Capital Management-Modelle" sowie vier "Grundmodelle des Human Capital Management" vor: Input- und output-orientiert, vergleichswertorientiert und indikatorgestützt.
Das umfangreiche vierte Kapitel ist der "Darstellung und Bewertung ausgewählter Human Capital Management-Modelle" gewidmet. Eine Auswahl ist notwendig, weil mittlerweile eine Vielzahl von Modellen auf dem Markt ist. Eine Übersicht von Sveiby, die Deusen wiedergibt, führt immerhin 21 davon auf; dabei sind einige der von Deusen ausgewählten (und vermutlich noch etliche weitere) noch gar nicht enthalten. Allerdings sind darunter auch so einfache und in ihrer Schlichtheit durchaus eindrucksvolle Modelle wie "Tobin's Q". Es teilt einfach die Marktkapitalisierung eines Unternehmens durch den Wiederbeschaffungswert von dessen Anlagevermögen und erhält so einen Quotienten, der (wenigstens im Prinzip) Auskunft darüber gibt, um wie viel ein Unternehmen wertvoller ist als das darin gebundene Kapital. Einen ähnlichen Gedanken verfolgt das "Market-to-Book-Value"-Modell, nur dass dieser Quotient stark durch die Abschreibungspolitik und das Anlagenalter verzerrt ist.
Als Beispiele für die Phasen 1 und 2 stellt Anja Deusen verschiedene Modelle des Human Capital Accounting sowie den auf Indikatoren basierenden Skandia-Navigator vor. Letzterer kann als ein Vorläufer der Balanced Scorecard gelten. Er stellt den "Human Focus" in den Mittelpunkt zwischen "Customer Focus", "Process Focus", "Renewal & Development Focus" und "Financial Focus", doch trotz starker positiver Resonanz wurde er von der schwedischen Skandia-Gruppe mittlerweile aufgegeben. Als Beispiele für die dritte Phase bespricht sie das "Human Capital Appraisal" von Arthur Andersen, das Werttreibermodell von Wucknitz und das "Workonomics-Konzept" der Boston Consulting Group. Vielleicht liegt es an meinem Werdegang, auf jeden Fall spricht mich dieses Modell besonders an, weil es am stärksten von einer strategischen Perspektive geprägt ist und am wenigsten an einen Bauchladen erinnert. BCG bestimmt den Wert des Human Capital als "Economic Value Added"; er ergibt sich aus der Netto-Wertschöpfung pro Mitarbeiter (also nach Abzug von Materialaufwand, Abschreibungen, Kapital- und Personalkosten) mal der Zahl der Mitarbeiter.
Leider bleibt etwas konventionell, was meine Ex-Kollegen zu der Frage sagen, wie sich der "Value Added per Person" steigern lässt. Dass dabei Führung eine wichtige Rolle spielt, ist keine Einsicht, die genügen wird, um Insidern die Schuppen von den Augen fallen zu lassen. Dennoch ist die Perspektive nützlich, denn die Frage "Wie können wir die Wertschöpfung pro Mitarbeiter erhöhen, und idealerweise zugleich die Zahl der Mitarbeiter?" lenkt das Denken von Vorständen schon in eine grundlegend andere Richtung als die ewige Frage nach der Verbesserung des ROI. Dennoch schwingt hier auch das Thema Personalkosten mit, denn die Nettowertschöpfung pro Mitarbeiter lässt sich eben auch durch eine Senkung der Personalkosten steigern. Deusen kritisiert mit Scholz, "dass die ermittelten Kennzahlen nicht den tatsächlichen Wertschöpfungsbeitrag einzelner Mitarbeiter widerspiegeln, sondern lediglich auf Individuen herunter gebrochene Durchschnittswerte" (S. 73). Was stimmt zwar, mir aber im Prinzip lösbar scheint, wenn auch mit erheblichem Aufwand. Dennoch könnte das ein lohnender Ansatz sein, weil ein positiver Nettowertbeitrag ja letztlich der einzige unternehmerische Grund für die Einstellung eines Mitarbeiters, aber auch für dessen Gehaltsfindung ist. Wenn dies auf Individual-, Team- oder Prozessebene gelänge, würde dies ausgesprochen fruchtbare Diskussionen über Möglichkeiten zur Steigerung des Nettobeitrags – und der Vergütung! – eröffnen.
Zuletzt und mit spürbarer Sympathie gibt Deusen die "Saarbrücker Formel" nach Christian Scholz und Mitarbeitern vor. Trotz Scholzens Kritik an Workonomics liefert sie ebenfalls nur eine Wertbestimmung des Human Capital als Ganzes und lässt keine Aussagen über einzelne Mitarbeiter oder Arbeitseinheiten zu. Der Wert für die Gesamtbelegschaft ergibt sich aus vier Komponenten: Erstens dem Durchschnittslohn aller Vollzeitmitarbeiter, der zweitens mit dem Quotienten aus Wissensrelevanzzeit und Betriebszugehörigkeit gewichtet wird, zuzüglich drittens der Personalentwicklungskosten. Das Ergebnis wird viertens mit einem Motivationsindex gewichtet, der "über ein standardisiertes Mitarbeiterbefragungs-Modul" ermittelt wird (S. 79f.). Die Zusammenfassung von Deusen macht keine Angaben darüber, was die empirische Basis dieser Formel ist oder wie hoch ihre Vorhersagegüte oder ihre Korrelation mit handelsüblichen Unternehmenskennzahlen ist. Ohne solche Belege wirkt die Formel recht willkürlich und, zumindest was die Addition der PE-Aufwendungen und die Gewichtung mit dem Motivationsindex betrifft, etwas populistisch. Auch wenn es mir fern liegt, die Bedeutung der Motivation zu unterschätzen: Der Human Capital-Wert einer restlos demotivierte Belegschaft (Motivationsindex = 0) läge demnach bei Null, was mir denn doch etwas überzogen scheint. Vor der angekündigten Entwicklung einer Softwarelösung schiene es mir vordringlich, empirische Belege für die Aussagekraft der Scholzschen Formel zu erbringen und für ihre Fähigkeit, die langfristige Wertentwicklung eines Unternehmens vorherzusagen. (Einen groben Schnitzer leistet sich Deusen mit dem Satz: "Der Motivationsfaktor liegt per Definition zwischen 0 und 2 und kann somit den Humankapitalwert maximal verdoppeln." Vor dessen Drucklegung hätte sie ein aufmerksamer Lektor eigentlich bewahren müssen.)
Im fünften Kapitel versucht Deusen, "Anwendungsbereiche der HCM-Modelle" aufzuzeigen. Den wichtigsten davon, nämlich ihre Nutzung zum langfristigen Management des Unternehmenswerts, skizziert sie freilich nur etwas vage. Ihren Ausführungen über "Die HR Due-Diligence für Mergers & Acquisitions" merkt man an, dass sie dieses Feld nur vom Hörensagen kennt. Nun wäre es sicherlich nicht fair, einer Berufsanfängerin mangelnde Vertrautheit für die Praxis vorzuwerfen – wenn sie nicht versuchen würde, Empfehlungen für ebendiese Praxis zu geben. Richten wir unsere Aufmerksamkeit dennoch lieber auf die Stärken dieser Arbeit. Sie liegen eindeutig darin, dass sie einen kompakten Überblick über den derzeitigen Stand der Human Capital Management-Diskussion und einige wichtige Modelle gibt, die man sich anderenfalls mühsam zusammensuchen müsste. Für alle, die sich mit begrenztem Aufwand und mäßiger Leseanstrengung einen solchen Überblick verschaffen wollen, ist dieses Bändchen allemal der Lektüre wert. Allerdings ist sein Preis mit 49,00 Euro für ein 100-Seiten-Paperback ziemlich unverschämt.
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