Ausgezeichnetes Lehrbuch für Empathie. Gewaltfreie Kommunikation heißt für Rosenberg und sein Center for Nonviolent Communication, auf Be- und Verurteilungen zu verzichten und sich stattdessen den Gefühlen und Bedürfnissen der Beteiligten zuzuwenden.
Gestoßen bin ich auf dieses Buch, weil es in Friedrich Glasls Konfliktmanagement-Monographie mehrfach zitiert ist. Nun umfasst Glasls 30-seitiges Literaturverzeichnis zirka 800 Referenzen, und etliche davon zitiert er auch im Text, viele davon zustimmend und etliche auch mehrfach. Es muss also mehr als die Tatsache des mehrfachen Zitierens gewesen sein, das mich dazu veranlasst hat, mir ausgerechnet dieses Buch zu besorgen. Offenbar war zu spüren, dass Glasl diesem Autor und seinem Ansatz eine besondere Bedeutung zumisst. Und genau dies bestätigt Glasl auch in einem der drei Geleitworte zu diesem Buch. Und in der Tat lohnt sich die Lektüre: Ich rechne "Gewaltfreie Kommunikation" zu den wertvollsten Büchern, die ich in den letzten Jahren gelesen habe, speziell für den Umgang mit Emotionen im (Top) Management, die in der Regel nicht geäußert werden (das heißt als Aussage über die eigenen Gefühle), sondern in einer Form, die Rosenberg "lebensentfremdete Kommunikation" nennt, wie etwa in Form von – unterschwellig of sehr emotionalen – Urteilen, Bewertungen, Vorwürfen, Beschuldigungen, Zurechtweisungen etc.
Solche "moralischen Urteile" sind nach Rosenberg genau das, was unser Einfühlungsvermögen und das unserer Kommunikationspartner blockiert. Wir sind von klein auf darin trainiert, sowohl uns selbst als auch andere zu be- und zu verurteilen, von "Bin ich blöd!" bis "Was für ein Idiot!" Damit erschweren wir uns, wie Rosenberg im zweiten Kapitel darlegt, sowohl den Zugang zu unseren eigenen Gefühlen und Bedürfnissen als auch zu einem Verstehen der anderen beteiligten Personen. Überdies blockieren wir durch ausgesprochene oder unausgesprochene negative Bewertungen auch die andere Person: Wer Ungeduld, Missachtung oder Schuldvorwürfe spürt, reagiert fast unvermeidlich defensiv, sei es mit Rechtfertigungen und Entschuldigungen oder mit Gegenangriffen. Mit solch "gewalttätiger" Kommunikation, wie Rosenberg das nennt, kann man sich wunderbar zerstreiten; Lösungen hingegen, die den beiderseitigen Bedürfnissen gerecht werden, werden äußerst unwahrscheinlich.
Aufgrund solcher Erfahrungen hat der Psychotherapeut Marshall B. Rosenberg, ursprünglich ein Carl Rogers-Schüler, die Methodik der gewaltfreien Kommunikation entwickelt, die er und sein Center for Nonviolent Communication seither weltweit an die unterschiedlichsten Adressaten vermitteln: An "Ausbilder, Schüler, Studenten, Eltern, Manager, medizinisches und psychologisches Fachpersonal, Militärs, Friedensaktivisten, Anwälte, Gefangene, Polizisten und Geistliche" (Cover). Sie besteht, wie er im ersten Kapitel erläutert, im Kern aus vier scheinbar simplen Komponenten: Beobachtungen; Gefühle; Bedürfnisse; Bitten. Das klingt täuschend harmlos: Was es mit dieser Methodik auf sich hat, wie schwer sie unter Druck umzusetzen ist, aber auch, was sie zu bewirken vermag, wird erst im weiteren Verlauf des Buches klar.
In fünf Schritten (und fünf Kapiteln) vermittelt Rosenberg die methodischen Grundlagen seiner Gewaltfreien Kommunikation: "Beobachten, ohne zu bewerten" (Kap. 3), "Gefühle wahrnehmen und ausdrücken" (Kap. 4), "Verantwortung für unsere Gefühle übernehmen" (Kap. 5), "Um das bitten, was unser Leben bereichert" (Kap. 6) und "Empathisch aufnehmen (Kap. 7). Die Kapitel sind immer wieder mit – zum Teil sehr bewegenden – Beispielen sowie mit einzelnen praktischen Übungen angereichert, sodass gut verständlich und nachvollziehbar wird, was jeweils gemeint ist. Allerdings sollte das nicht zu dem Schluss führen, dass man nach dem Durcharbeiten dieser Kapitel die Gewaltfreie Kommunikation bereits verstanden hat oder gar beherrscht. Denn die größte Hürde ist im Ernstfall nicht das Handwerkliche, sondern die eigene Bereitschaft, sich auch und gerade dann empathisch zu verhalten, wenn man sich angegriffen oder entwertet fühlt und/oder selbst bereits moralisch urteilt.
Die Grundlagen fasst Rosenberg in einem achten Kapitel "Die Macht der Empathie" zusammen. Dort hebt er sowohl die heilende und verbindende Wirkung von Empathie hervor als auch ihre Fähigkeit, Gefahrensituationen zu entschärfen und generell das zwischenmenschliche Klima und die Qualität der Kommunikation zu verbessern: "Wenn wir auf ihre Gefühle und Bedürfnisse hören, betrachten wir andere Menschen nicht mehr als Monster." (S. 139) Danach wendet er sich in fünf weiteren Kapiteln speziellen Aspekten zu. Ihre Themen sind "Einen einfühlsamen Kontakt mit uns selbst aufbauen" (Kap. 9), "Ärger vollständig ausdrücken" (das tun auch gewaltfreie Kommunikatoren, allerdings anders als im normalen Alltag gebräuchlich), "Die beschützende Anwendung von Macht" (Kap. 11), "Uns selbst befreien und andere unterstützen" (Kap. 12) sowie "Wertschätzung und Anerkennung ausdrücken" (Kap. 13).
Am Ende stellt sich die Frage: Ist Rosenbergs "Gewaltfreie Kommunikation" wirklich eine ernstzunehmende Methodik der Kommunikation, die auch für den harten Geschäftsalltag Anregungen bietet, oder handelt es sich dabei nur um ein altmodisch-naives Lehrbuch für Gutmenschen? Es ist ein interessantes, wenn auch nicht unbedingt beruhigendes Zeichen unserer Zeit, dass das Bemühen, ein halbwegs guter – gütiger, friedlicher, versöhnlicher, beitragender – Mensch zu sein, mit solchen Schmähbegriffen entwertet und geradezu stigmatisiert wird. Das wirft die Frage auf, was der Zweck, was die un- oder vorbewusste Absicht hinter dieser Entwertung ist. Unser dringendstes gesellschaftliches Problem im Großen wie im Kleinen ist ja wohl nicht, dass wir an einem Übermaß an Güte und Wohlwollen zu ersticken drohen. Also drängt sich die Vermutung auf, dass die Entwertung von "Gutmenschen" als Alibi für den eigenen Rückzug aus gesellschaftlicher und sozialer Mitverantwortung dient. Wobei ich nicht einmal glaube, dass Egoismus das Hauptmotiv für diesen Rückzug ist – ich befürchte eher, dass es ein Ausdruck von Entmutigung angesichts des Zustands unserer Welt ist, und vielleicht auch ein Ausdruck von eigenem emotionalem Zu-Kurz-Gekommen-Sein, also letztlich von einem Mangel an erhaltener Empathie. Deshalb verlangt uns schon die erste Beschäftigung mit gewaltfreier Kommunikation, und erst recht das vertiefte Erlernen, eine Überprüfung unserer persönlichen Bereitschaft ab, uns mit den Gefühlen und Bedürfnissen unserer Mitmenschen, aber auch mit unseren eigenen, auseinanderzusetzen. Insofern ist die Gewaltfreie Kommunikation sicher keine geeignete Spielwiese für Softies, sondern eine große Herausforderung an mutige und beherzte Männer und Frauen.
Ich für meinen Teil jedenfalls sehe in Rosenbergs Gewaltfreier Kommunikation eine ausgesprochen wertvolle Grundhaltung und Methodik (auch) für die Kommunikation in Unternehmen und speziell für das Management von Veränderungsprozessen. Denn ich erlebe immer häufiger, dass meine wichtigste Aufgabe als Change Coach darin besteht, die abgerissenen Verbindungen zwischen Top Management, mittlerem Management und Belegschaft notdürftig so weit zu flicken, dass wieder eine sachliche Verständigung und ein koordiniertes Handeln möglich wird. Wenn man sich fragt, weshalb diese Verbindungen abgerissen sind, liegt es meistens daran, dass einerseits die Belegschaften wütend, verbittert und voller Vorwürfe darüber sind, dass das Top Management ihre Gefühle und Bedürfnisse kaum wahr- und ernstzunehmen, geschweige denn zu berücksichtigen scheint, während andererseits die Vorstände oft frustriert, wütend und verzweifelt darüber sind, dass es den Belegschaften an "Veränderungsbereitschaft" mangelt, dass sie also auf die Anliegen des Top Managements nicht in der erwünschten Weise reagieren. Das mittlere Management hängt meist irgendwo dazwischen, solidarisiert sich mal mit der einen, mal mit der anderen Seite – und bekommt von beiden Seiten die Dresche. Wo immer es gelingt, eine Verständigung herbeizuführen, die aus den Schützengräben gegenseitiger Vorwürfe und Schuldzuweisungen herausführt, kommt auch wieder Bewegung in die Sache. Allerdings ist das wahrlich ein Knochenjob, für den viele "Tough Guys" wohl einfach nicht hart genug sind...
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