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Weshalb sich Zusammenarbeit auch für kluge Egoisten lohnt

Ridley, Matt (1996):

The Origins of Virtue

Deutsch: Die Biologie der Tugend – Warum es sich lohnt, gut zu sein

Penguin (London) 1997; 16,00 Euro deutsch: Ullstein (Berlin) 1997, TB 1999; 379 S.; 8,95 Euro 3548358322)


Nutzen / Lesbarkeit: 10 / 8

Rezensent: Winfried Berner, 07.11.2006

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Ein wirklich erhellendes, mit unzähligen Forschungsbefunden zum Denken anstoßendes Buch über die Frage, weshalb Menschen eigentlich kooperieren, wo sie doch durch ihre "egoistischen Gene" auf brutalstmögliche Konkurrenz angelegt zu sein scheinen.

Wenn Wissenschaftsjournalismus wirklich gut ist, kann er nicht nur zur Bildung und Erbauung beitragen, sondern ganzheitliches Denken in Theorie und Praxis voranbringen. Denn nicht nur wissbegierige Laien, sondern auch und erst recht Fachleute ertrinken in der Flut der Veröffentlichungen, die sie lesen müssten, lesen wollen, zu lesen versuchen – fast immer mit der Frustration, dass der Stapel der noch zu bearbeitenden Literatur deutlich höher ist als der der bereits verarbeiteten. Genau hier liegt der Wertbeitrag exzellenter Wissenschaftsjournalisten: Auch wenn sie den Papierberg zunächst weiter vergrößern, können sie es durch die ebenso sorgfältige wie eingängige Aufbereitung ganzer Themenkomplexe schaffen, Laien wie Wissenschaftlern einen breiteren Blick auf übergeordnete Zusammenhänge zu ermöglichen als es ihnen ohne diese Arbeiten möglich wäre.

Das freilich setzt zwei beinahe gegenläufige Leistungen voraus: Einerseits die Fähigkeit und Bereitschaft, nicht nur auf seine "gute Schreibe" zu vertrauen und anhand weniger Datenpunkte eine Story zu erdichten, die nur lose mit dem Stand der Forschung verbunden ist, sondern tief in Details Fachliteratur einzutauchen und sich mit einzelnen Forschungsarbeiten wie mit hochspezialisierten Monographien abzumühen. Andererseits verlangt es die Bereitschaft und Fähigkeit, nicht nur akribisch Forschungsbefunde aneinanderzureihen, sondern daraus einen großen Bogen und letzten Endes doch eine Story zu spinnen, die deutlich mehr ist als eine Dokumentation von Einzelbefunden. Exzellenter Wissenschaftsjournalismus ist dann gelungen, wenn solch ein Buch einerseits ein schlüssiges Gesamtbild entwirft, andererseits die Befunde so gut dokumentiert, dass daraus auch andere Schlussfolgerungen gezogen werden könnten. Diesem hohen Anspruch wird "Die Biologie der Tugend" des britischen Zoologen und Soziobiologen Matt Ridley in hervorragender Weise gerecht.

Das Buch beginnt wie ein Krimi. Ridley beschreibt die abenteuerliche Flucht des russischen Prinzen und Anarchisten Peter Kropotkin aus dem zaristischen Militärgefängnis in St. Petersburg, die überhaupt nur dadurch möglich wurde, dass zahlreiche Gesinnungsgenossen ihm unter Einsatz ihres Lebens zur Seite standen. In seinem Hauptwerk "Gegenseitige Hilfe: Ein Faktor der Entwicklungsgeschichte" befasste sich Kropotkin später mit genau der Frage, die auch das Leitthema dieses Buchs ist: "Wenn das Leben ein Konkurrenzkampf ist, wieso gibt es dann allerorten soviel Zusammenarbeit? Und vor allem – warum sind ganz besonders die Menschen so eifrig auf Kooperation bedacht? Ist der Mensch instinktiv ein antisoziales Tier, oder ist er instinktiv ein prosoziales Tier? Das ist die Frage meines Buches: die Frage nach den Wurzeln der menschlichen Gesellschaft. Ich werde zeigen, dass Kropotkin zur Hälfte Recht hatte und dass jene Wurzeln viel tiefer liegen als wir annehmen. Die Gesellschaft funktioniert nicht deshalb, weil wir sie bewusst erfunden hätten, sondern weil sie ein uraltes Produkt unserer entwickelten Anlagen ist. Sie liegt, im wörtlichsten Sinne, in unserer Natur." (S. 19)

Das ist nun vermintes Terrain, auf dem sich seit Jahrhunderten viele Denker und Propheten tummeln – von Adam Smith und Jean-Jacques Rousseau über Karl Marx und Margaret Mead bis hin zu den Religionsgemeinschaften. Viele Menschen hegen hier feste Überzeugungen, die sie nicht mehr in Frage gestellt sehen wollen. Dies erklärt wohl auch manche der zum Teil recht heftigen Amazon-Leserrezensionen. Dennoch halte ich es für mehr als lohnend, auch auf so einem sensiblen Gebiet einmal zu schauen, was der Diskussionsstand der versammelten Wissenschaften – von Evolutionsbiologie und Anthropologie über Psychologie und mathematische Spieltheorie bis hin zu den Wirtschaftswissenschaften und der Philosophie – ist. Das heißt nicht unbedingt, dass man jedes Argument sofort "kaufen" und sich zu eigen machen muss, aber es heißt allemal, dass es das eigene Denken weiterbringt, wenn man sich dem komplexen Thema in einer so gut aufbereiteten Form nähert. Auch für meine Überzeugungen hielt Ridley einige unangenehme Provokationen bereit. Aber soll ich sein Buch deswegen verdammen oder sollte ich mich besser dieser Herausforderung stellen und sie entweder widerlegen oder akzeptieren?

Denn es hilft alles nichts: Wenn die zentrale Erkenntnis der Soziobiologie richtig ist, dass die Evolution nicht etwa an der Art ansetzt, wie die klassische Verhaltensforschung um König, Tinbergen und Lorenz noch glaubte, sondern am Individuum (bzw. an dessen Genen), dann bedarf nicht die Konkurrenz der Erklärung, sondern die Tatsache, dass Menschen (und viele Tiere) zuweilen ihre eigenen Interessen zurückstellen und mit anderen kooperieren. Weshalb ist das Leben dann nicht ein erbarmungsloser Kampf aller gegen alle, bei dem der kleinste Vorteil Grund genug ist, seine Konkurrenten skrupellos auszubeuten und zu betrügen? Die Antwort – die uns nicht unbedingt gefallen muss – lautet: Aus Sicht unserer Gene ist es dann (und nur dann) sinnvoll zu kooperieren, wenn uns dies kurz-, mittel- oder langfristig nützt. Daraus folgt unter anderem auch: Es liegt in unserem eigenen Interesse, uns so zu verhalten, dass es für andere attraktiv ist, mit uns zu kooperieren. Dabei scheint die Evolution sehr viel weitsichtiger zu sein als die Vorstellungen, die viele Ökonomen von "rationalem Verhalten" hegen.

Beispielsweise stellt Ridley ein für die Psychologie wie für die Ökonomie gleichermaßen lehrreiches spieltheoretisches Experiment vor, nämlich das "Ultimatum Bargaining Game" (S. 139). Dabei erhält ein Spieler einen Geldbetrag von 100 Pfund, den er mit seinem Mitspieler in einem beliebigen Verhältnis teilen muss. Der Mitspieler kann nur entscheiden, ob er seine Zuteilung annimmt. Wenn er es tut, erhalten beide Spieler den zugeteilten Betrag; wenn er ablehnt, erhält keiner etwas. Nach den gängigen Lehren der Ökonomie wäre es für den ersten Spieler rational, stark zu seinen Gunsten zu teilen, also etwa im Verhältnis von 99 zu 1, und für den zweiten Spieler wäre es rational, anzunehmen, was immer ihm zugeteilt wird, denn ein Pfund ist immer noch besser als kein Pfund.

Führt man dieses Experiment mit lebenden Menschen durch, zeigt sich aber, dass sich beide Spieler scheinbar irrational verhalten: Typischerweise teilt der erste relativ "gerecht", und der zweite weist stark asymmetrische Aufteilungen zurück, wenn sie doch vorkommen oder durch einen instruierten Mitspieler experimentell erzeugt werden. Irrational ist dieses Verhalten jedoch nur, wenn das Ziel ausschließlich darin besteht, den Ertrag im jeweiligen Spielzug zu optimieren: ein ziemlich kurzatmiges Verständnis von Rationalität. Bei einem Spiel über mehrere Runden kann es für den zweiten Spieler sehr rational sein, ein paar Pfund zu investieren, um dem ersten Spieler klarzumachen, dass er mit einer ungerechten Aufteilung nicht durchkommt. Gerade bei einer extrem asymmetrischen Aufteilung ist das eine sehr effiziente Sanktion, denn wo der eine nur auf ein Pfund verzichtet, verliert der andere ob seiner "Raffgier" 99 Pfund. Generell kann die vermeintlich irrationale Bereitschaft, Nachteile in Kauf zu nehmen, um Ungerechtigkeiten abzuwehren, eine sehr wirksame Warnung an die Umgebung sein, es mit unfairen Spielchen gar nicht erst zu versuchen.

Wenn das so ist, dann ist es für den ersten Spieler aber gar nicht mehr rational, eine Aufteilung zu seinen eigenen Gunsten vorzunehmen, sich also im klassischen ökonomischen Sinne rational zu verhalten. Im Interesse seines Gesamtertrags müsste er dann vielmehr eine Aufteilung vornehmen, die von dem zweiten Mitspieler als gerecht oder zumindest als gerade noch akzeptabel angesehen wird. Doch nicht nur aus diesem Grund sollte er in seinem wohlverstandenen Eigeninteresse (!) auf eine einigermaßen faire Aufteilung achten: Im wirklichen Leben müssen wir ja nicht nur darauf achten, bei unserem momentanen Geschäft einen guten Schnitt zu machen – mindestens genauso wichtig ist, unserer Umgebung als ein redlicher Partner zu gelten, mit dem man gut und zum beiderseitigen Vorteil zusammenarbeiten kann. Ein allzu "rationales", selbstsüchtiges Verhalten der kurzfristigen Ergebnisoptimierung kann sich da rasch als ziemlich irrational erweisen. Interessanterweise haben Experimente gezeigt, "that economics students, after being taught that people were essentially self-interested, grew more so themselves: They defected in prisoner's dilemma games more than other students." (S. 260) Doch wer einen schlechten Ruf hat, mit dem will keiner mehr Geschäfte machen – und Menschen sind offenbar ziemlich gut darin, dies zu erkennen. Die Ökonomie erweist ihren Schülern daher einen schlechten Dienst, wenn sie sie zu "rationalen Narren" (S. 137) erzieht.

Es ist nicht möglich, ein solch umfang- und gedankenreiches Buch in einer Rezension zusammenzufassen; die bisherigen Beispiele mögen als Appetitanreger genügen. Die Bandbreite der 13 Kapitel reicht von "The Society of Genes" und "The Division of Labour" (weshalb kooperieren Gene und Zellen überhaupt, wenn sie doch nur ihre eigenen Interessen verfolgen?) über "Duty and the Feast", "Public Goods and Private Gifts" und "Theories of Moral Sentiments" bis hin zu "The Source of War", "The Gains from Trade" und "Ecology as Religion".

Das letztgenannte Kapitel haben dem Autor einige Amazon-Rezensenten übel genommen, und auch für mich als engagierten Umweltschützer waren einige Aussagen schwer zu schlucken, was durch den zuweilen spöttisch-süffisanten Ton Ridleys noch verschärft wird. Doch auch hier gilt: Entscheidend ist nicht, ob uns die Botschaft freut, sondern ob sie nach menschlichem Ermessen richtig ist. Ridleys Kernaussage in diesem Kapitel ist, dass die Vorstellung, Naturvölker würden die Natur schützen und schonen mit den natürlichen Ressourcen umgehen, nichts als eine nostalgische Retro-Vision ist: "Unless forcibly reminded of nature's cruelty, people tend to romanticize wildlife, seeing benevolence and overlooking viciousness." (S. 215) Zwar belasten "primitive" Völker die Umwelt weitaus weniger als wir – aber nicht, weil sie "im Einklang mit der Natur leben", sondern nur, weil ihre Möglichkeiten, Schaden anzurichten, weitaus begrenzter sind als die unserer "culture of maximum damage", wie Daniel Quinn sie genannt hat. Allerdings scheint mir Ridley hier den Punkt zu verfehlen: Entscheidend ist ja auch in diesem Falle nicht, aus welchen Gründen Menschen tun, was sie tun, sondern es zählt allein, was sie tun (oder unterlassen). Auch Ridley bestreitet nicht, dass wir auf dem besten Wege sind, die Belastbarkeit dieser einzigen uns derzeit verfügbaren Erde überzustrapazieren – er macht sich lediglich über das nostalgisch-verklärtes Menschenbild vieler "Ökos" lustig. Insofern empfinde ich sein Kapitel 11 trotz der spöttischen Zuspitzung nicht als wissenschaftlich verbrämte Polemik, sondern als nützlichen Hinweis, uns in der Ökologiebewegung von romantisierenden Natur- und Menschenbildern zu lösen. Denn es hilft der Sache ja nichts, wenn wir unsere Arbeit und unsere Hoffnungen auf ein falsches Ideal ausrichten.

Ausgesprochen bereichernd fand ich die angrenzenden Kapitel 10 "The Gains from Trade" und 12 "The Power of Property". Im ersteren macht Matt Ridley klar: "Trade is the precursor of politics, not the consequence." (S. 202) Dieser harmlos klingende Satz bringt viele philosophische und ökonomische Theorien ins Wanken, die Staat und Politik als Voraussetzung für Wohlstand ansehen. Doch offenbar bestanden im Europa des 11. und 12. Jahrhunderts florierende Kaufmannsgilden, die zum Schutze von Geschäftssicherheit und Redlichkeit ihr eigenes Rechtssystem entwickelt hatten und Regelverstöße im schlimmsten Fall mit dem Ausschluss ahndeten. Die Staaten folgten dieser Entwicklung mit respektvollem Abstand – um sie dann beherzt zu vereinnahmen und zu bürokratisieren.

In Kapitel 12 "The Power of Property" arbeitet Ridley die wohlstandsmehrenden Wirkungen von Privat- und Gemeineigentum heraus und kontrastiert sie mit öffentlichem Eigentum. Seine These ist hier: Gerade weil Menschen sich im eigenen Interesse vernünftig verhalten, schützen und bewahren sie, was ihnen – individuell oder gemeinsam – gehört. Doch sie beuten aus und lassen verwahrlosen, was allen – und damit niemandem – gehört. Die sogenannte "Tragik der Allmende", bei der alle Miteigentümer ein Besitztum (wie zum Beispiel eine Weide) durch übermäßige Beanspruchung zerstören, ist nach seiner Meinung die ausschließliche Folge eines zu weit gefassten Gemeineigentums: Wenn ein Gut allen gehört, dann ist es für niemanden mehr sinnvoll, in dessen Erhalt zu investieren; stattdessen wird es für jeden Einzelnen sinnvoll, das Maximale herauszuholen, denn wenn er es nicht tut, wird es ein anderer tun. Anders ist das, wie er an Beispielen zeigt, wenn ein Gut – wie zum Beispiel Bewässerungsanlagen – im Gemeineigentum steht und verbindliche Regeln seine übermäßige Ausbeutung verhindern. Auch hier muss man nicht jedem Argument und jeder Schlussfolgerung des Autors folgen, um von seinen faktenreich dargelegten Gedanken profitieren zu können.

Ein Wort noch zur Sprache. Obwohl ich es eigentlich bevorzuge, Bücher, wenn ich kann, im Original zu lesen, habe ich "The Origins of Virtue" doch zu zwei Dritteln auf Deutsch gelesen. Der Hauptgrund war – neben der größeren und besser lesbaren Schrifttype –, dass das Buch viele Fachbegriffe aus allen möglichen Fachgebieten, vor allem der Biologie, enthält, mit denen ich nicht vertraut bin. Zwar habe ich auch auf Deutsch nur eine sehr unscharfe Vorstellung davon, was sich hinter einer "grünen Meerkatze" oder einer "Blattschneiderameise" verbirgt. Dennoch vermittelt mir die deutsche Bezeichnung wenigstens noch eine schemenhafte Vertrautheit, die den entsprechenden englischen Worten abgeht. Die deutsche Übersetzung "Die Biologie der Tugend" (Ullstein 1997) von Angelus Johansen und Anne Weiland ist, wenn auch nicht kongenial, doch gut genug, um die Sehnsucht nach dem Original nicht ständig überwältigend werden zu lassen. Ihr fehlt zwar die eloquente Eleganz des very britischen Originals, aber die ist auch wirklich schwer ins Deutsch zu übertragen. Und die Übersetzung liest sich über weite Strecken flüssig. Wer also nicht ausgesprochene Freude daran hat, das britisch-englische Original zu studieren, kann und darf das Buch auch "in Deutsch" lesen – falls er es schafft, noch ein Exemplar der derzeit vergriffenen deutschen Ausgabe zu ergattern. (Eine gute Quelle für antiquarische Bücher ist immer zvab.de.)

Schlagworte:
Kooperation, Zusammenarbeit, Altruismus, Egoismus, Soziobiologie, Spieltheorie, Homo oeconomicus

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