Eine kompakte, sehr informative Einführung in Marshall Rosenbergs Gewaltfreie Kommunikation – mit 21 Seiten gerade der richtige Umfang für einen Inlandsflug. Wer sie liest, könnte den Flieger als ein etwas anderer Mensch verlassen als er ihn bestieg.
In dieser kurzen Broschüre mit dem Beatles-Titel "We Can Work It Out" gelingt es Marshall Rosenberg, seine Methodik der Gewaltfreien Kommunikation anschaulich, nacherlebbar und zugleich so begeisternd zu vermitteln, dass dies bei vielen Lesern den Wunsch wecken dürfte, sich diese Methodik anzueignen. Was meines Erachtens nicht die schlechteste Entscheidung wäre: Rosenbergs Denkansatz und Methodik sind mittlerweile zum festen Bestandteil vieler Mediatoren-Ausbildungen geworden. Sie hilft insbesondere, unsere Empathie-Fähigkeit (und vielleicht auch unsere Empathie-Bereitschaft) zu verbessern, die nach Rosenberg der Schlüssel zu einer konstruktiven Konfliktbewältigung und zu einem gelingenden Zusammenleben und einer erfolgreichen Zusammenarbeit ist.
Allerdings könnte sich dabei die Namensgebung für Leser aus der Geschäftswelt als Hürde erweisen. "Nonviolent Communication" bzw. "Gewaltfreie Kommunikation" – das hat im Deutschen (und wohl auch im Amerikanischen) einen Beigeschmack von Alternativszene, Protestdörfern und atomwaffenfreien Zonen, und das könnte bei Geschäftsleuten Vorbehalte bzw. Distanzierungsreflexe auslösen. Ich weiß nicht, ob diese politische Konnotation Zufall ist oder ob Rosenberg sie mit Bedacht gewählt hat – am praktischen Nutzwert seines Ansatzes ändert die Bezeichnung jedenfalls nichts; seine Methodik entfaltet ihre entlastende und öffnende Wirkung unabhängig von politischen Präferenzen und Bekleidungsgewohnheiten. Was allerdings nicht heißt, dass sie weltanschaulich neutral und damit beliebig ist: Ihr Fundament ist ein Menschenbild, das von der Gleichwertigkeit aller Menschen und der prinzipiellen Legitimität ihrer Bedürfnisse ausgeht. Dahinter steht Rosenbergs Überzeugung, dass es möglich ist, gewaltfrei miteinander zu leben und bei Konflikten den Bedürfnissen aller Beteiligten gerecht zu werden. Selbst wenn einem das utopisch vorkommt, ist es sich wohl sinnvoll, diese Utopie zumindest anzustreben, selbst wenn sie nicht in jedem Falle einlösbar sein sollte.
Was die Verständigung und Konfliktklärung im Alltag oft schwierig macht, ist eigentlich ein ganz banales Problem: Wer seine eigenen Anliegen und Bedürfnisse nicht akzeptiert und gewürdigt sieht, ist in aller Regel auch nicht bereit, sich auf die Bedürfnisse anderer Menschen einzulassen. Daraus kann sich sowohl im privaten als auch im beruflichen Bereich leicht eine Sackgasse entwickeln, in der sich jeder den Bedürfnissen der anderen verschließt, weil sie es mit den eigenen auch tun. Das ist die zentrale Schwierigkeit bei vielen verhärteten Konflikten – und zugleich der Ansatzpunkt zu ihrer Lösung, jedenfalls in Marshall Rosenbergs Konzept der Gewaltfreien Kommunikation. Sein Ansatz und Vorgehen zielt vor allem darauf, hinter Vorwürfen und Beschuldigungen, hinter Angriffen und Entwertungen die Gefühle und Bedürfnisse herauszuarbeiten, die in einer beruflichen oder privaten Beziehung – oft über viele Jahre hinweg – zu kurz gekommen sind. Sobald die Kontrahenten sich nicht mehr auf Standpunkte, Positionen und Forderungen versteifen, sondern die eigenen Bedürfnisse zu erkennen geben und die ihres Kontrahenten wahrzunehmen bereit sind, werden Konflikte oftmals sehr schnell lösbar. Denn dann muss eine Konfliktlösung nicht mehr versuchen, die unvereinbaren Forderungen beider Seiten unter einen Hut zu bringen, sondern sie muss nur noch einen Weg finden, den Bedürfnissen beider Seiten gerecht zu werden.
Damit ist die Rosenbergs Gewaltfreie Kommunikation in gewisser Weise das psychologische Gegenstück zum "Harvard Konzept des Verhandelns" (siehe Rezension). Auch dessen Urheber, die Harvard-Dozenten Roger Fisher und William Ury empfehlen, sich nicht auf Positionen zu versteifen, sondern sich auf die Interessen der Verhandlungsparteien zu konzentrieren. Nur dass sie dabei im Gegensatz zu Rosenberg primär die sachbezogenen Interessen der Parteien im Blick haben. Dagegen fokussiert Rosenberg auf ihre emotionalen Interessen bzw. Bedürfnisse: "Needs, as I use the term, can be thought of as resources life requires to sustain itself. For example, our physical well-being depends on our needs for air, water, rest, and food being fulfilled. Our psychological and spiritual well-being is enhanced when our needs for understanding, support, honesty, and meaning are fulfilled." (S. 4)
Ein verbreitetes Problem besteht nach Rosenberg darin, dass viele Menschen kaum darin geübt sind, ihre zentralen Bedürfnisse mit klaren Worten zu benennen und sie auseinanderzuhalten von den Strategien, mit denen sie diese Bedürfnisse zu erfüllen hoffen: "As I'm defining needs, all human beings have the same needs. Regardless of gender, educational level, religious beliefs or nationality, we have the same needs. What differs from person to person is the strategy for fulfilling needs. I've found that it facilitates conflict resolution to keep our needs separate from the strategies that might fulfill our needs." (S. 4) Zur Erleichterung der Unterscheidung bietet er eine einfache Faustregel an: "One guideline for separating needs from strategies is to keep in mind that needs contain no reference to specific people taking specific action. In contrast, effective strategies–or what are more commenly referred to as wants, requests, desires, and 'solutions'–do refer to specific people taking specific actions." (S. 5)
Weil diese elementaren Bedürfnisse in Rosenbergs Denken eine so zentrale Rolle spielen, steht im Zentrum seines gesamten Ansatzes die Empathie, das heißt die Fähigkeit und Bereitschft, sich in die Gefühle und Bedürfnisse anderer Menschen hineinzufühlen und hineinzudenken. Das ist zwar ein sehr intuitiver Prozess, aber das heißt keineswegs, dass es keine Regeln, oder sagen wir besser, keine Leitlinien für ihn gibt. Die vielleicht wichtigste lautet: "I believe that every message, whatever its form or content, is an expression of a need. If we can accept this assumption, we can train ourselves to sense what needs might be at the root of any particular message. Thus, if I ask someone a question about what they have just said, and they respond, 'That's a stupid question,' I choose to sense what the other person might need as expressed through that particular judgement of me. For example, I might guess that their need for understanding was not being fulfilled when I asked that particular question." (S. 7)
Und wie geht es weiter, wenn die Bedürfnisse geklärt und die Konfliktpartner dazu bereit und in der Lage sind, die Bedürfnisse der jeweils anderen Seite treffend mit ihren eigenen Worten zu benennen? Dann ist der nächste Schritt, Bitten an die andere Seite zu richten bzw. ihr Strategien vorzuschlagen, wie die Bedürfnisse erfüllt werden könnten. Wichtig ist Rosenberg dabei erstens, dass sich diese Vorschläge auf die Gegenwart beziehen und nicht auf die Vergangenheit oder Zukunft, und zweitens, "that requests be expressed in positive action language by stating clearly what we want done to meet our needs, rather than what we don't want." (S. 15) Er illustriert dies am Beispiel einer Frau, die ihrem Mann in den Ohren liegt, er solle nicht so viel arbeiten – und dann völlig konsterniert ist, als er sich diesen Wunsch zu Herzen nimmt und einem Kegelclub beitritt.
Bitten und Vorschläge geben der anderen Seite die ehrliche Möglichkeit, sie abzulehnen: "Respect ist not the same as conceding" (S. 19) Hier gibt Rosenberg einen ganz entscheidenden Hinweis, gerade für Menschen, die deshalb Angst vor zu viel Empathie haben, weil sie befürchten, sonst all diese Bedürfnisse erfüllen zu müssen: "Understanding the other person's need does not mean you have to give up your own needs. It does mean demonstrating to the other person that you are interested in both your needs and theirs. When they trust that, there's much more likelihood of everyone's needs getting met" (S. 19).
Andererseits impliziert Empathie auch keinen Anspruch darauf, dass sich die anderen nach den eigenen Wünschen richten, nachdem man "Empathie demonstriert" hat: "It's very important, in expressing our requests, to be respectful of the other person's reaction regardless of whether they agree to the request. One of the most important messages another person can give to us is 'no' or 'I don't want to'. If we listen well to this message, it helps us to understand the other person's needs. If we are listening to other people's needs, we will see that every time a person says 'no', they're really saying they have a need that is not addressed by our strategy, which keeps them from saying 'yes'. If we can teach to hear the need behind that 'no', we will find an openness toward getting everybody's needs met." (S. 19)
Diesen Kern seiner Methodik – "keep everybody's attention focused on meeting everyone's needs" (S. 19) – illustriert Rosenberg in dieser Broschüre mit einigen beeindruckenden und zum Teil bewegenden Fallstudien, die sowohl dem privaten Lebensbereich (Ehepaar) als auch dem beruflichen (Schule) als auch dem politischen (Vermittlung in einem Bürgerkrieg) entstammen. Danach weiß der Leser sicherlich noch nicht genug über Rosenbergs Gewaltfreie Kommunikation, um sie wirklich anwenden zu können, aber er weiß in jedem Fall genug, um entscheiden zu können, ob er sich vertiefend mit ihr beschäftigen möchte. Wofür sowohl auf Englisch als auch auf Deutsch ein umfangreiches Angebot an Büchern und Seminaren zu Verfügung steht.
PS: Unter dem Titel "Das können wir klären – Wie man Konflikte friedlich und wirksam lösen kann" ist diese Broschüre auch auf Deutsch verfügbar. Die deutsche Übersetzung ist so gut, dass die Sehnsucht nach dem Original, wie sie mir von vielen Übersetzungen vertraut ist, diesmal nicht auftauchte. Da macht sich wohl bemerkbar, dass die ganzen Rosenberg-Bücher von Mitgliedern der deutschen GFK-Community übersetzt wurden. In einer Zeit exzessiver Sparbesessenheit ist allerdings der Preisunterschied zu beachten: Das amerikanische Original ist bei amazon.de um 41 Cent billiger!
|