Eine Broschüre, aus der man viel über Wut und Ärger lernen kann sowie darüber, wie man besser mit diesen Gefühlen umgehen kann – auch wenn einige von Rosenbergs theoretischen Annahmen wohl unzutreffend sind.
Obwohl diese Broschüre netto nur knapp 40 Seiten umfasst, bietet sie, wie alle Veröffentlichungen, die ich bislang von Marshall Rosenberg gelesen habe, wertvolle Anregungen für das eigene Leben und Handeln. Natürlich ist es am Ende die Entscheidung des Lesers, was er daraus macht, aber die Impulse, die Rosenberg da vermittelt, sind so stark und klar, dass man sie nicht so ohne weiteres wieder vergessen kann. Da man eine Einsicht, wenn sie einen erst einmal überzeugt hat, auch dann nicht mehr rückgängig machen kann, wenn man es gerne möchte, könnte es sein, dass diese paar Seiten selbst bei denjenigen ihren Umgang mit Ärger und Wut verändern, die sich entscheiden, Rosenbergs Ansatz nicht weiterzuverfolgen.
Der erste wichtige Gedanke, den uns Marshall B. Rosenberg in dieser Broschüre vermittelt, ist, dass Ärger und Wut als Hinweis auf eigene Bedürfnisse verstanden werden können und sollten, die entweder gerade frustriert wurden oder zumindest nicht in ausreichendem Maße erfüllt sind. Wenn wir unseren Zorn spontan ausleben, bestrafen wir unsere Umgebung dafür, dass sie uns in bestimmten Bedürfnissen frustriert hat, die uns möglicherweise nicht einmal voll bewusst sind. Die zweite wichtige Erkenntnis ist die Feststellung, dass Wutausbrüche und andere Zornesreaktionen in den seltensten Fällen dazu führen, dass unsere Bedürfnisse erfüllt werden, geschweige denn, dass sie bereitwillig erfüllt werden. Stattdessen sind die Folgen häufig Streit und eine schlechte Stimmung. Der dritte wichtige Impuls ist zwar nicht neu, aber immer wieder wert, sich in Erinnerung zu rufen: dass Ärger und Wut nämlich nicht die Folge dessen sind, was andere getan (oder unterlassen) haben, sondern die Folge dessen, wie wir dies bewerten. Nur wenn wir deren Handeln missbilligen und verurteilen, entsteht in uns Ärger und Wut. Das Schlüsselwort dafür ist "hätte": "Das hätte man doch wirklich von ihm verlangen können!" oder: "Das hätte sie auf keinem Fall tun dürfen!"
Rosenbergs Botschaft ist dabei keine moralische. Seine Lehre ist nicht, dass es verwerflich wäre, zu missbilligen und zu verurteilen. Er stellt lediglich fest, dass uns die Wut, die wir so produzieren, der Erfüllung unserer Bedürfnisse nicht näher bringt. Wir dürfen also verurteilen und uns damit in eine ärgerliche oder wütende Stimmung versetzen, und wir dürfen den Übeltäter attackieren, beschimpfen oder mit Liebesentzug bestrafen – wir müssen nur mit den Folgen leben, die wir damit auslösen. Das kann man als schlechte Nachricht auffassen, weil es uns die Ausrede raubt, unsere Mitmenschen seien an all unserem Ärger schuld. Man kann es aber auch als eine gute Nachricht verstehen, die uns völlig neue Einfluss- und Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet. Hier ist Rosenberg sehr nahe bei der brisanten individualpsychologischen Forderung, Verantwortung für die eigenen Gefühle zu übernehmen.
Als praktische Empfehlung für den Umgang mit Ärger und Wut schlägt Rosenberg vor, vor jeder äußerlichen Reaktion zunächst innerlich drei Schritte zu vollziehen: "1. den Auslöser für unsere Wut erkennen, ohne dass wir diesen mit den Bewertungen in unserem Kopf vermischen; 2. die inneren Bilder oder Urteile in uns erkennen, die die Ursache für unsere Wut sind; 3. diese verurteilenden Bilder in die Bedürfnisse umwandeln, die sie ausdrücken. Das heißt, dass wir unsere volle Aufmerksamkeit auf die Bedürfnisse lenken, die sich hinter dem Urteil verbergen." (S. 20) Nach einiger Übung lässt sich das beschleunigen: "Sobald ich mich selbst dabei ertappe, dass ich beginne, mich zu ärgern, nehme ich einen tiefen Atemzug, halte inne, schaue in mich hinein und frage mich schnell: 'Was sage ich mir jetzt gerade, das mich so ärgerlich macht?'" (S. 22)
Erst wenn wir innerlich so weit sind, dass wir im Kontakt mit unseren Bedürfnissen sind, sollten wir, so empfiehlt Rosenberg, in die Kommunikation mit dem Auslöser unserer Verstimmung eintreten: "Der vierte Schritt umfasst das, was wir tatsächlich laut gegenüber der anderen Person aussprechen, nachdem wir unseren Ärger in andere Gefühle umgewandelt haben und sobald wir in Kontakt mit dem Bedürfnis hinter dem Urteil getreten sind. In diesem vierten Schritt teilen wir einer anderen Person vier Dinge mit. Zuerst nennen wir ihr gegenüber den Auslöser für unsere Wut: Was genau hat die Person getan, wodurch verhindert wird, dass meine Bedürfnisse erfüllt werden? Zweitens drücken wir aus, was wir fühlen, ohne dabei Wut und Ärger zu unterdrücken. Wir wandeln unsere Wut in Gefühle um wie traurig, schmerzhaft, ängstlich, erschrocken, frustriert. Und dann lassen wir auf die Nennung unsere Gefühle eine Aussage über unsere nicht zufrieden gestellten Bedürfnisse folgen. Abschließend fügen wir eine klare, gegenwartsbezogene Bitte hinzu: Was wir von der anderen Person in Bezug auf unsere Gefühle und unerfüllten Bedürfnisse brauchen." (S. 21)
"Sobald wir genug geübt haben, um unsere Wut und unseren Ärger auf diese Weise anzugehen, ist es sehr häufig zu unserem Vorteil, auch empathisches Verständnis dafür aufzubringen, was sich gerade in der anderen Person abspielt und wie sie sich verhält. Wenn wir dazu in der Lage sind, uns damit zu verbinden, bevor wir etwas über uns selbst sagen, kann der Vorteil sogar noch größer sein." (S. 22) Natürlich kann man einwenden, dass es ein bisschen viel verlangt ist, sich, wenn man stinksauer ist, in diejenigen einzufühlen, die diesen Ärger verursacht haben. Und es mag auch durchaus sein, dass man zu so viel "Selbstverleugnung" in einer gegebenen Situation ganz einfach nicht bereit ist. Genau besehen ändert das aber nichts an der Sache: Selbstverständlich können und dürfen wir uns auch weiterhin entscheiden, unserem Ärger auf traditionelle Weise Luft zu machen – aber das ist dann unsere eigene Entscheidung und keineswegs die "automatische Folge" des Ärgers.
Wie Rosenbergs andere Werke, so ist auch diese Broschüre reich an Beispielen. Vielleicht weil es, wie der Innentitel offenbart, die "bearbeitete Mitschrift einer Präsentation und eines Workshops mit Marshall B. Rosenberg" ist, hat der Text jedoch nicht ganz die gleiche Stringenz und Prägnanz wie in den anderen Rosenberg-Texten, die ich bisher gelesen habe. Was allerdings keineswegs heißt, dass er schwer verständlich oder mühsam zu lesen wäre. Dabei ist auch eine Aussage in Druck gegangen, die als flotter Spruch in einem Vortrag durchgehen mag, als Zwischenüberschrift jedoch Befremden auslöst: "'Menschen umzubringen ist viel zu oberflächlich'" (S. 26). Auch wenn sie in Anführungszeichen steht, stellt sich doch die Frage, ob das der wesentliche Grund ist, keine Menschen umzubringen. Was Rosenberg damit wirklich sagen will, wird dadurch eher verdeckt: Dass nämlich Ärger- und Wut-Reaktionen unabhängig von ihrer Heftigkeit wenig dazu beitragen, den darunter liegenden tieferen Bedürfnissen gerecht zu werden.
Den Schluss bildet eine zweiseitige Zusammenfassung "Wut – in mundgerechten Portionen", in der Rosenberg (oder seine Ghostwriter) die Kernaussagen noch einmal in 18 knappen Thesen auf den Punkt bringen. Das ist ausgesprochen prägnant und nützlich, auch wenn der unglückliche Spruch "Menschen umzubringen wäre zu oberflächlich" hier noch einmal wiederholt wird. Dabei werden auch die theoretischen Annahmen deutlich, von denen Rosenberg ausgeht, und von denen verleitet mich eine doch zum Widerspruch: "Wut ist ein natürliches Gefühl, das durch unnatürliches Denken ausgelöst wird." (S. 45) Das würde ja die Frage aufwerfen, weshalb uns die Evolution überhaupt mit einem Gefühl ausgestattet hat, das nur durch unnatürliches Denken ausgelöst werden kann. Statt auf diese Weise die natürliche Auslese für doof zu erklären, würde es sich meines Erachtens lohnen, dem biologischen Nutzen von Ärger und Wut nachzuspüren. Dies zu tun, bedeutet keineswegs, die daraus entstehende Aggression zu legitimieren – es heißt lediglich, ihren Sinn und Nutzen verstehen zu wollen. Je besser wir ihn verstehen, desto besser können wir beurteilen, welcher Umgang mit diesen Gedanken und Gefühlen unter unseren heutigen Lebensumständen sinnvoll ist.
Der biologische Sinn der Emotionsgruppe Ärger / Zorn / Wut lässt sich erahnen, wenn wir daran denken, dass auch Tiere aggressiv werden können, wenn wir sie "ärgern". Hunde zum Beispiel knurren in solchen Fällen zuerst, fangen dann zu bellen an und werden schließlich zunehmend "wild". Die zunächst ärgerliche, dann zunehmend wütende Reaktion ist eine Warnung an den Urheber des Zorns: "Sieh dich vor, du kommst meinen Bedürfnissen ins Gehege! Das wird dir, wenn du so weiter machst, Ärger einbringen!" Der Fitness-Vorteil dieser abgestuften Warnfunktion könnte darin liegen, dass er hilft, durch frühzeitiges und deutliches "Markieren der Grenzen" zum einen die eigenen Bedürfnisse zu schützen, zum anderen unnötige Auseinandersetzungen (und damit Verletzungsrisiken) zu vermeiden. Wenn das so ist, wäre das ein ausgesprochen sinnvoller Mechanismus, der auch im zwischenmenschlichen Umgang zuweilen effizienter sein dürfte als empathische, aber halt auch zeitaufwändige Kommunikation. Der entscheidende Trick dürfte deshalb darin bestehen, zu unterscheiden, wo eine wohldosierte Unmutsäußerung ausreicht und wo es angebracht ist, den höheren Aufwand für empathische Kommunikation zu treiben, um kein unnötiges Porzellan zu verbrauchen und den Bedürfnissen aller Beteiligten gerecht zu werden.
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