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Keine wirkliche Vorbereitung auf den letzten Lebensabschnitt

Blumenthal, Erik (1984):

Der hohen Jahre Ziel und Sinn

Es ist nie zu spät, aber immer höchste Zeit

Rex (Luzern, Stuttgart); 154 S (vergriffen)


Nutzen / Lesbarkeit: 5 / 8

Rezensent: Winfried Berner, 23.12.2006

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Eine Empfehlung kann ich für dieses Buch nicht aussprechen, obwohl es ein wichtiges Thema behandelt und aus berufener Feder stammt. Trotz etlicher kluger Gedanken wirkt es wie "Kraut und Rüben"; zudem vermengt es Religion und Tiefenpsychologie.

Älter werden wir alle, ob es uns gefällt oder nicht. Spätestens ab dem vierzigsten Geburtstag gefällt es den meisten nicht mehr so recht, aber das hilft auch nichts. Doch bevor wir selber alt werden, erleben die meisten von uns das Altern und irgendwann den Tod unserer Eltern – und werden uns zugleich gewahr, das wir damit die nächste Generation sind, die an der Reihe ist. Das können wir wegschieben, wir können es aber auch – und sei es widerwillig – zur Kenntnis nehmen und uns damit auseinandersetzen. Wer dazu bereit ist, für den kann dieses Buch zwar nicht viele Antworten liefern, aber immerhin Impulse zum Nachdenken: Nicht als Vorbereitung auf das Jenseits (wie immer das aussehen mag), sondern zur besseren Gestaltung unserer verbleibenden Zeit im Diesseits. Das ist auch die Botschaft des Untertitels: "Es ist nie zu spät, aber immer höchste Zeit!"

Ein tiefenpsychologischer Ratgeber für das eigene Älter- und Altwerden (und das der Elterngeneration) ist daher eigentlich eine gute Idee. Und der beim Erscheinen dieses Buches 70-jährige Erik Blumenthal (1914 – 2004) wäre als erfahrener Individualpsychologe und Psychotherapeut eigentlich auch der ideale Autor für dieses Thema. Wenn ich dennoch nicht recht froh mit diesem Werk geworden bin, dann zum einen deshalb, weil sich mir die innere Logik der Themenzusammenstellung und des Aufbaus dieses Buches nicht erschließt, zum anderen weil Blumenthal bunt und ohne erkennbare Trennung psychologische Erkenntnisse und Empfehlungen seiner (Baha'i-)Religion vermengt. Das mag für religiöse Menschen weniger irritierend sein; für mich als Agnostiker sind religiöse Überzeugungen, so sehr ich sie respektiere, ebenso wenig eine Orientierungshilfe wie seitenlange Zitate des Religionsstifters Baha'u'llah.

Blumenthals Buch hat zwei Hauptteile. Der erste ist "Die Gegebenheiten" überschrieben und umfasst Themen wie "Vorurteile", "Unser irdisches Leben und sein Sinn" und "Das Menschenbild"; der zweite Teil "Unsere Möglichkeiten" befasst sich mit Selbsterkenntnis, Traumdeutung, Ermutigung, dem "Entzweiungssyndrom" sowie den "wesentlichen Lebensentscheidungen".

Auch wenn ich aus der Zusammenstellung und Abfolge dieser Themen nicht so recht schlau werde, enthält das Buch viele kluge Einzelgedanken und Teilaspekte, wie zum Beispiel eine kompakte Einführung in die individualpsychologische Traumdeutung. Zwar hege ich heftige Zweifel, ob man ohne einschlägige Vorerfahrung nach diesen 19 Seiten dazu in der Lage sein wird, seine eigenen Träume zu verstehen; doch als komprimierte Einführung in die Logik und die Herangehensweise ist der Abschnitt sehr gelungen. Ähnliches gilt auch für die kürzeren Kapitel über Ermutigung (5 Seiten) und "Das Entzweiungssyndrom" (11 Seiten).

Hier findet sich auch mal eine brauchbare Erläuterung des oft sehr oberflächlich verwendeten Begriffs "Negative Gefühle", der keine Antwort auf die Frage geben kann, weshalb diese Gefühle eigentlich negativ sind. Blumenthals Vorschlag: "Gefühle nennen wir negativ, wenn sie das Zusammenleben mit anderen erschweren, wie zum Beispiel Ärger, Enttäuschung, bis hin zu Affekten wie Zorn und Wut. Solche Gefühle erlauben mir, mich so zu benehmen, wie mein gesunder Menschenverstand und das Gemeinschaftsgefühl es mir niemals gestatten würden." (S. 95) Gefühle als Rechtfertigung, sich daneben zu benehmen – so einfach ist das. Auch was der alte Meister zum Thema Ichbezogenheit sagt, ist auf anderthalb Seiten wirklich auf den Punkt.

Trotz aller Ausführlichkeit weniger erhellend fand ich hingegen, was Blumenthal über "Die wesentlichen Lebensentscheidungen" sagt. Darin hat er aus Adlers ursprünglichen drei Lebensaufgaben sechs gemacht. Hinzugekommen sind "Ich selbst" (ähnlich Rudolf Dreikurs' "Umgang mit der eigenen Person"), "Diener und Helfer" sowie "Weltanschauung und Religion". Die "Diener und Helfer" sind ein, wenigstens in meinen Augen, kurioses Potpourri aus sehr unterschiedlichen Aspekten, nämlich "Unser Körper", "Tiere", "Natur", "Materie", "Kunst" und "Wissenschaft". Schwer nachvollziehbar ist für mich die Trennung des Körpers von dem Entscheidungsfeld "Ich selbst"; es wirkt wie ein Rückfall hinter die von Adler überwundene Zergliederung des Menschen in Sphären bzw. Instanzen. In Weiterentwicklung der Adlerschen Lebensbereiche wäre es wohl sinnvoll, "Tiere", "Natur" und "Materie" zusammenzufassen in eine Lebensaufgabe "Natur und Umwelt", die uns heute in der Tat in ganz anderem Umfang eine Stellungnahme abverlangt als Anfang des letzten Jahrhunderts. Darin müsste es nicht nur um Tier- und Artenschutz gehen, sondern auch darum, diesen Planeten wenigstens noch so lange bewohnbar zu halten, wie wir noch keine Ausweichlösung zu Verfügung haben.

"Weltanschauung und Religion" könnte man, eventuell unter Einbeziehung von Wissenschaft und Kunst, ebenfalls als ein Entscheidungsfeld verstehen, zu dem wir Stellung nehmen müssen. Allerdings sollte diese Stellungnahme wohl aus etwas mehr bestehen als aus seitenlangen Zitaten von Baha'u'llah (oder anderen Religionsführern). Die Grenze zum religiösen Dogmatismus streift Blumenthal mit seinen Empfehlungen: "Ich darf die Kirche kritisieren, ich darf aber auch erkennen, dass Kirche und Religion nicht das Gleiche ist, aber eines darf ich nicht: Gott abschaffen wollen. Ich darf an Gott zweifeln, ich darf aber auch erkennen, dass Glauben trainiert werden kann, aber eines darf ich nicht: die Nichtbeweisbarkeit Gottes dazu missbrauchen, die Religion zu leugnen." (S. 142)

Umgekehrt werden in dem Buch eine ganze Reihe praktischer Themen nicht behandelt oder nur gestreift, in denen qualifizierter psychologischer Rat durchaus erwünscht wäre, wie zum Beispiel der Umgang mit dem Nachlassen der eigenen Kräfte, mit eigenen Krankheiten und denen des Partners, mit altersbedingten Behinderungen und Gebrechlichkeit, mit einem eventuellen Umzug in ein (wie auch immer bezeichnetes) Altenheim, mit dem Tod des Partners und der Vorbereitung auf den eigenen Tod. Auch die mutig und eindrucksvoll formulierte Titelfrage nach "Der hohen Jahre Ziel und Sinn" wird leider nicht vertiefend bearbeitet. Schade eigentlich – der alte Blumenthal hätte uns dazu wohl einiges zu sagen gehabt.

Schlagworte:
Alter, Altern, Sinn des Lebens

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