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Die tieferen Ursachen existenzbedrohender Unternehmenskrisen

Probst, Gilbert; Raisch, Sebastian (2005):

Organizational Crisis: The Logic of Failure



Academy of Management Executive 2005, Vol 19, No. 1; 16 S. (90 – 105) (Bezug über: http://journals.aomonline.org/amp/)


Nutzen / Lesbarkeit: 10 / 9

Rezensent: Winfried Berner, 22.05.2007

Probst und Raisch arbeiten in diesem wichtigen Artikel zwei Ursachen existenzbedrohender Unternehmenskrisen heraus: einerseits die Übertreibung von Wachstum, Veränderung, visionärer Führung und Leistungsorientierung, andererseits deren Untertreibung.

Erkenntnisse gehen in der globalisierten Welt manchmal seltsame Wege. Diese bahnbrechende Untersuchung zweier Schweizer Forscher erreicht uns aus den USA; sie wurde 2005 von der mir bis dato unbekannten "Academy of Management Executive" publiziert. Der renommierte Genfer Professor Gilbert Probst und der St. Gallener Dozent Sebastian Raisch, der offenbar bei Probst promoviert hat, haben untersucht, was die typischen Auslöser existenzbedrohender Unternehmenskrisen sind, und dabei zwei typische Muster identifiziert. Denn Unternehmenskrisen häufen sich keineswegs am Ende des natürlichen Lebenszyklus' von Organisationen, wie es die Organisationstheorie vorhersagt, sondern sie ereilen sehr häufig Unternehmen, die noch kurz davor im Zenith ihres Erfolges zu stehen schienen und die zudem keineswegs sterbenden Branchen angehören, sondern oft solchen, in denen wichtige Wettbewerber zur gleichen Zeit wachsen und prosperieren.

Vorbildlich das Design der Untersuchung, in der Probst und Raisch die 100 größten Unternehmenskrisen der letzten fünf Jahre unter die Lupe nahmen. Als Grundgesamtheit wählten sie zum einen die 50 größten Bankrottfälle zwischen 1998 und 2002, zum anderen die 50 größten "Abstürze" (crashes). Um letztere zu bestimmen, suchten sie zunächst aus den wichtigsten Aktienindizes all jene Firmen heraus, die zwischen November 1998 und Oktober 2003 mindestens 40 Prozent ihres Werts eingebüßt hatten und dabei Milliardenverluste eingefahren und/oder existenzbedrohende Schulden aufgebaut hatten. (Durch diese Wahl der Periode umgingen sie den 2000-er Aktienboom samt nachfolgendem Crash.) Die 50 Firmen, die in der fraglichen Zeitspanne den meisten Wert vernichtet hatten, bezogen sie in ihre Untersuchung ein: "The resulting 100 firms have, within five years, destroyed a total worth of US$ 2,500 billions. This sum is equivalent to the gross national product of Australia during the same period." (S. 91) Von diesen 100 Firmen schließlich untersuchten sie jene 57 im Detail, die davor in ihrer Branche Marktführer gewesen waren und mindestens fünf Jahre in Folge einen positiven Nettoertrag ausgewiesen hatten. Die 43 Firmen, die dieses Kriterium nicht erfüllten, schlossen Probst und Raisch von der weiteren Analyse aus, weil ihr Ziel darin bestand, eine Erklärung für das Scheitern von bis dato erfolgreichen Firmen zu finden.

"The result of the study is astonishing: however different the individual cases are, most examples have the same failure logic in common. In all cases the crash was home-made and not at all inevitable." (S. 91) Fast alle Fälle ließen sich einem von zwei Mustern zuordnen: Entweder dem "Burnout Syndrome", das für 40 (bzw. 70 Prozent) der untersuchten Misserfolge zutraf, oder dem "Premature Aging Syndrome", dem sie 12 (bzw. 20 Prozent) ihrer Stichprobe zuordneten. (Dass die zweite Gruppe deutlich kleiner ist, dürfte eine Folge der Vorauswahl sein, bei der angeschlagene Firmen ausgeschlossen wurden.)

Die Firmen, die dem Burnout-Syndrom zum Opfer fielen, schienen alles richtig gemacht zu haben, was in gängigen Management-Lehrbüchern gefordert wird: Sie waren stark gewachsen, hatten sich ständig verändert, wurden visionär geführt und besaßen eine ausgeprägt erfolgsorientierte Unternehmenskultur. "The great majority of the failed organizations possessed these success factors in abundance – and exactly here lay their problem. It seems that there is a boundary outside of which these success factors have a counterproductive effect. Companies that classify as 'burnouts' owe their failure to at least three of the following four characteristics: excessive growth; uncontrolled change; autocratic leadership; and an excessive success culture." (S. 91) Diese Risikofaktoren führen sie detailliert weiter aus und nennen auch die Indikatoren, an denen sie sie festmachen. (Damit bestätigen sie empirisch, was ich ohne wissenschaftliche Belege über die Gefahren permanenter Umstrukturierungen – Artikel "Kontinuität" – sowie übertriebener interner Konkurrenz geschrieben habe.)

Völlig anders gelagert ist die Problematik des "Premature Aging Syndrome", also der vorzeitigen Altersschwäche von Unternehmen. Die betroffenen Firmen haben zu wenig von dem, was die Burnouts zu viel haben: "stagnating growth, tentative change, weak leadership, lacking success culture" (S. 96). Sie scheinen ein ähnliches Schicksal zu erleiden wie Menschen mittleren Alters, die nur noch vor dem Fernseher sitzen, sich zuwenig bewegen und jede Art von körperlicher und geistiger Anstrengung vermeiden: Sie altern rapide, und ihre Leistungsfähigkeit lässt stark nach, sodass sie dem Wettbewerb schon bald nicht mehr gewachsen sind.

Das Erfolgsrezept, das Probst und Raisch aus ihren Analysen ableiten, liest sich trotz der Veröffentlichung in einer amerikanischen Zeitschrift sehr europäisch, um nicht zu sagen, schweizerisch: Sie empfehlen "sustainable growth", "stable change", "shared power" und eine "healthy organizational culture" – mit einem Wort: "Keeping the Balance" (S. 99). Doch das ist keineswegs nur ein bieder-unverbindlicher Maßhalte-Appell aus dem alten Europa, sondern ein recht handfestes und schlüssiges Programm. Die nachhaltige Wachstumsrate, so lehren sie, muss unternehmensspezifisch bestimmt werden, und zwar primär aus der finanziellen Leistungsfähigkeit, aber auch aus der Marktdynamik und den verfügbaren Management-Ressourcen. Auch bei den drei anderen Faktoren kommt es offenbar darauf an, die richtige Balance zwischen "zu viel" und "zu wenig" zu finden.

Jede der drei Konstellationen illustrieren die Autoren mit einer Fallstudie. Das Burnout-Syndrom veranschaulichen sie am Beispiel DaimlerChrysler, und ihre Überschrift "Two Burnouts and an Open End" wirkt aus heutiger Sicht ausgesprochen weitsichtig. Das "Premature Aging Syndrome" stellen sie anhand des einstigen bririschen Flaggschiffs Marks & Spencer dar: "Enduring Success Causes Lethargy". Dass sie als Beispiel für eine "Balanced Organization" ausgerechnet Siemens verwenden, mag man angesichts der aktuellen Turbulenzen als Beweis für die zuweilen geringe Halbwertszeit positiver Beispiele beschmunzeln. Doch vielleicht wird es den gigantischen Veränderungen, die Siemens in der Ära von Pierer auf dem Weg von einer ebenso verwöhnten wie ineffizienten Elektrobehörde zu einem wettbewerbsstarken Unternehmen bewältigt hat, besser gerecht als so manche zeitgenössische Schlagzeile.

Was sind die Schlussfolgerungen aus diesen Erkenntnissen? Probst und Raisch empfehlen zunächst ein "Effective Early Warning System", das sich keinesfalls allein auf quantitative Kennzahlen verlassen darf: "Our investigation (...) shows that it is only during the final phase of a crisis that there are recognizable effects on the organization's quantitative characteristics. Then it is usually too late to prevent the crisis from occurring." (S. 101) Eine wichtige Rolle bei der Früherkennung messen sie dem Top Management (board of directors) insgesamt zu: "Moreover, our investigation has verified that whether and how effectively an organization reacts to the signs of a crisis very strongly depends on the board of directors. In almost all cases the CEO persistent with the previous recipe for success. (...) An independent and competent board of directors (...) is therefore essential for countermeasures to be introduced promptly." (S. 101)

Und wie sehen die Gegenmaßnahmen aus, falls das Frühwarnsystem anschlägt? Bei drohendem Burnout-Syndrom empfehlen Probst und Raisch naheliegenderweise ein "Stabilization Program", das sowohl das Wachstum reduziert als auch die internen Strukturen und die Führung zur Ruhe kommen lässt. Im umgekehrten Fall, bei drohender vorzeitiger Alterung, raten sie dringend zu einem "Transformation Program". Dazu zählt "opening up of the system", einschließlich des Austauschs von Mitarbeitern und Führungskräften: "Breaking open familiar routines by means of fresh stimuli from outside is the primary aim. The injection of fresh blood should simultaneously take place on all levels, on the board of directors as well as on the management level and among the employees." (S. 101) Weiter zählen dazu das "investment in growth and change" sowie "cultural change".

Aus diesen Überlegungen leiten die Autoren abschließend vier "Implications for Managers" ab, die ich im Wortlaut wiedergeben möchte, wenn auch ohne die detaillierten Erläuterungen:

* "Growth is important – unless it becomes excessive.
* Change is positive – if you preserve your company's identity.
* Visionary leaders are beneficial – as long as they share the power.
* Internal competition spurs performance – if incorporated in a culture of trust." (S. 102)

Ausgerechnet bei diesem letzten Punkt scheinen mir die Autoren in die Falle eines verbreiteten Management-Mythos zu gehen, nachdem sie zuvor in ihrem Artikel so viele davon zerpflückt haben. Denn interner Wettbewerb bewirkt mit logischer Unerbittlichkeit, dass es subjektiv sinnvoll wird, mit den Kollegen zu konkurrieren und sich gegen sie durchzusetzen – was sich ziemlich schlecht mit Offenheit und Vertrauen verträgt, und zwar auch dann, wenn man sie explizit als Gegengewicht postuliert. Angesichts der ohnehin unvermeidlichen Konkurrenz um knappe Ressourcen (Budgets, Reputation, Boni, Beförderungen) tun weitsichtige Unternehmensführer gut daran, den Wettbewerb nicht zusätzlich anzustacheln, sondern stattdessen ein Klima zu schaffen, das Leistung fordert und fördert und nicht Konkurrenz. (Siehe ausführlicher in meinem Artikel "Interne Konkurrenz").

Doch das ist nur ein geringfügiger Einwand gegen einen insgesamt überragenden Artikel. Noch nie habe ich in vergleichbarer Klarheit und Stringenz gelesen, was die wahren Auslöser und Ursachen von Unternehmenskrisen sind. Und noch nie ist mir so klar geworden, wie eng erfolgreiche Unternehmensführung damit verbunden ist, den "goldenen Mittelweg" zwischen den Gegenpolen von Überhitzung und Unterkühlung zu finden. Das klingt schon fast wieder nach platter Lebensweisheit. Aber so banal es klingen mag, das Geheimnis des nachhaltigen Erfolgs liegt wohl wirklich darin, sowohl Übertreibung als auch Unterforderung zu vermeiden und dazwischen einen anspruchsvollen mittleren Weg zu gehen.

Schlagworte:
Krisen, Unternehmenskrisen, Wachstum, Führung

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