Der erfahrene Individualpsychologe Hermann Bayer beschreibt einen Coaching-Ansatz, der nicht auf die Korrektur von Schwächen zielt, sondern auf die Weiterentwicklung von Stärken und Potenzialen – und damit ausgesprochen ermutigend wirkt.
Wenn man die Veröffentlichung eines geschätzten Kollegen bespricht, mit dem man (aus gutem Grund!) schon viel zusammengearbeitet hat, besteht die Gefahr der Befangenheit. Ich tue es in diesem Fall trotzdem, wenn auch mit deutlichem Hinweis auf meine positive Voreingenommenheit, weil dieser Artikel von Hermann Bayer einige Gedanken und Impulse enthält, die ich als sehr anregend empfinde und von denen ich es daher schade fände, wenn sie im Archiv einer weniger bekannten Zeitschrift in Vergessenheit gerieten.
Coaching wird, wie Psychotherapie, häufig zur Korrektur von Schwächen und Defizitbereichen eingesetzt: Der Klient hat ein Problem, und der Coach / Therapeut arbeitet mit ihm daran, es zu lösen (oder so weit zu mildern, dass der Klient und seine Umgebung damit leben können). Auch wenn Firmen ihre Führungskräfte coachen lassen, tun sie es oft mit dem dezidierten Auftrag, durch das Coaching bestimmte Schwächen oder "Entwicklungsbedarfe" zu beheben. Was aber, wenn der Klient kein Problem (mehr) hat, aber trotzdem (weiter) gecoacht werden möchte? In der klassischen Psychotherapie würde man ihn vermutlich nach Hause schicken – "mission completed" –, in der Psychoanalyse würde man möglicherweise vorher noch seinen Widerstand gegen die Beendigung der Therapie bearbeiten. Im Coaching ist es, wie Bayer in diesem Artikel darlegt, die Chance, einen neuen Fokus für die Weiterarbeit zu entwickeln und den Schwerpunkt auf eine positive, stärkenorientierte Weiterentwicklung des Klienten zu legen – ohne dabei die Schwächen auszublenden, aber auch ohne primär auf sie zu fokussieren.
Das klingt auf den ersten Blick nicht so revolutionär – bis man den Blick auf die betriebliche Realität wirft. Dort hat das Coaching meist erstens einen klaren (Problem-)Fokus, auch wenn das Ziel positiv formuliert ist ("Verbesserung der Konfliktfähigkeit"), und ist zweitens auf eine bestimmte Zahl von Sitzungen limitiert, wenigstens fürs Erste. Und zum Abschluss wird meist ein – allgemein gehaltener – Bericht erwartet, dessen zentrale Botschaft sinngemäß lauten sollte: Ziel erreicht, Reparatur gelungen, "mission completed". Bei einem auf Stärken und Entwicklungspotenziale ausgerichteten Coaching wäre es schwieriger, a priori konkrete Ziele zu formulieren, und weniger sinnvoll, die Zahl der Sitzungen von vornherein zu limitieren (was keineswegs heißt, dass sie unbegrenzt sein müsste oder in der Praxis zu werden drohte). Auch aus eigenem Antrieb wird Coaching wohl weit häufiger in Anspruch genommen, weil der Klient ein Problem hat, als weil er keines hat, sondern sich "nur" weiterentwickeln möchte. Eigentlich seltsam, ist es doch gerade diese (mögliche) Zentrierung auf Stärken und Potenziale, die das Coaching besonders markant von der Psychotherapie unterscheidet, die ja zwangsläufig auf Leiden und damit auf Probleme fokussiert ist.
Nach Bayer wird dieses "Opportunity Coaching" von den Klienten als ausgesprochen ermutigend empfunden – weit stärker als klassisches problemzentriertes Coaching, obwohl das ja auch den Klienten unterstützen und ermutigen soll, seine Probleme besser zu lösen. Aber was ist das Ziel und der Fokus des "Opportunity Coaching"? Verliert es sich nicht angesichts des Fehlens einer klaren Problemstellung in empathischem Geplauder? Ausgangspunkt muss laut Bayer ein "zukunftsorientierter Veränderungswunsch" sein, den es im Coaching zunächst herauszuarbeiten gilt: "Er wirkt wie ein Sog, wie eine Vision und übertrifft mit seinen in ihm angelegten Perspektiven und Hoffnungen die 'Bremswirkung' von Schwierigkeiten und Problemen im jetzigen Alltag eines Klienten.'Was wäre wenn' ist also beispielsweise die Frage, deren Beantwortung durch Bilder, Metaphern etc. von Seiten des Klienten diese Perspektiven verdeutlicht und erstrebenswert macht. Aktuelle Schwierigkeiten und Hindernisse sind dann 'halb so wild'." (S. 273)
Als wesentliche Elemente dieses Opportunity Coaching beschreibt Bayer - das "Erkennen und 'Bekennen' von selbst erarbeiteten Erfolgen",
- das "Bewusstmachen von Potenzialen: Schwächen als Keim von Stärken",
- "Aktivierung und Bereitschaft: Reframing zur Chance statt zum Problem",
- "Generelle Bereitschaft: Selbstwirksamkeit, Eigenstärke und Pro-Aktivität",
- das "Gestalten von kreativen Denkräumen",
- sowie "'Fill in Gaps' statt 'Bearbeiten von Schwächen'".
Einige dieser Elemente sind ausgesprochen schlüssig und anschaulich erläutert; bei anderen ist mir ihre Logik bzw. ihr Bezug zum Opportunity Coaching nicht so recht klar geworden. Auch werden begriffliche Querbezüge zu unterschiedlichen psychologischen Schulen (Reframing, Selbstwirksamkeit ...) nicht in die individualpsychologische Theorie eingebunden, sodass ihr Aufruf etwas eklektisch wirkt und die sonstige Präzision der Argumentation etwas verschwimmt.
Wichtiger als diese Einzelfacetten ist jedoch der zentrale Impuls, den Bayer seinen Lesern mitgibt: Coaching nicht bloß auf die Korrektur von Schwächen und das Ausbügeln von Mängeln zu begrenzen, sondern sein ermutigendes Potenzial für eine ganzheitliche, chancenorientierte Persönlichkeitsentwicklung zu erkennen und zu nutzen.
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