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"Mit der Natur führt man keine Konsensgespräche"

Radermacher, Franz Josef; Beyers, Bert (2006):

Welt mit Zukunft

Überleben im 21. Jahrhundert

Murmann (Hamburg); 224 S.; 16,00 Euro


Nutzen / Lesbarkeit: 8 / 7

Rezensent: Winfried Berner, 17.06.2009

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Ein anstrengendes Buch, weil man es trotz des flüssigen Sprache sehr analytisch lesen muss, um ihm seine zentralen Gedankengänge zu entreißen. Doch die Anstrengung lohnt sich, auch wenn ein zentrales Element des Lösungskonzepts m.E. nicht trägt.

Gekauft habe ich mir dieses Buch, nachdem ich einen Vortrag von Professor Radermacher gehört hatte, der mich in einer gelungenen Verbindung von klarer und mutiger Analyse und exzellenter Rhetorik wirklich beeindruckt hatte. (Franz-Josef Radermacher ist Professor an der Universität Ulm und Präsident des Bundesverbands für Wirtschaftsförderung und Außenwirtschaft; sein Koautor Bert Beyers ist Redakteur beim Norddeutschen Rundfunk.) Meine Hoffnung und Erwartung war, die zentralen Gedanken des Vortrags noch einmal in Ruhe nachlesen zu können, vielleicht noch um zusätzliche Fakten, Analysen und Querverbindungen angereichert.

Diese Hoffnung ging indes nur teilweise in Erfüllung. Zum einen enthält dieses Buch keine wirklich analytische Beweisführung – es hat eher den Charakter einer Politikerrede: Fakten werden genannt, um Argumentationslinien zu untermauern, aber sie sind so ausgewählt, dass sie die jeweilige Aussage unterstreichen – oder wirken zumindest so. Beweiskräftige Analysen, Zahlen, Daten, Fakten, Zeitreihen, empirisch gesicherte Zusammenhänge fehlen (mir) weitgehend. Das hat zwei Konsequenzen, die ich ausgesprochen ärgerlich finde: Das Lesen wird zur Glaubensfrage – man muss sich entscheiden, ob man Radermacher und Beyers folgen will oder nicht, und das auch bei vielen Punkten, wo durchaus "harte" Belege möglich wären. Aus diesem Grund kann man die Argumentation auch schlecht weitervermitteln, außer wiederum als Glaubensbekenntnis.
 
Zum anderen plätschert der Text so dahin. Im Gegensatz zum Vortrag, der wesentliche Gedanken und Zusammenhänge äußerst prägnant herausmeißelte, verfließen die gedanklichen Linien im Buch auf eigenartige Weise: Der Text liest sich durchaus flüssig und ist gut zu verstehen, aber man verliert leicht den roten Faden, weil die Autoren den Leser zu wenig "führen", zum Beispiel zu wenig dafür tun, Kernaussagen herauszustreichen oder wichtige Gedankengänge noch einmal zusammenzufassen. So hatte ich entgegen meinen sonstigen Gewohnheiten nur selten das Bedürfnis, mir etwas anzustreichen, weil ein Zusammenhang besonders schlüssig beschrieben oder eine neue Einsicht entstanden war.
 
Schon früh beim Lesen entstand der Eindruck: Das kann doch nicht alles sein – wo mir der Vortrag von Radermacher doch so brillant und wegweisend erschienen war! Aber es erfordert wirklich Lese-Arbeit, dem Buch seine zentralen Gedankengänge zu entreißen.
 
Im ersten Kapitel beschreiben die Autoren die Menschheit als einen extrem erfolgreichen "Superorganismus", der nun in akuter Gefahr ist, an seinem eigenen Erfolg zu ersticken. Vor allem dank Sprache, Kommunikation und angesammeltem Wissen ist dieser Superorganismus weitgehend unabhängig von seinen einzelnen Mitgliedern; das Bevölkerungswachstum, das durch die technischen Errungenschaften ermöglicht wurde und wird, steckt Rückschläge durch Kriege, Seuchen und andere Katastrophen binnen weniger Jahrzehnte weg. Es gibt nur ein Problem mit dem technischen Fortschritt: den "Bumerangeffekt" ("Rebound Effect"). Jede Innovation bringt gerade durch seinen Nutzen auch Nebenwirkungen hervor, die seinen Nutzen konterkarieren und oft ins Gegenteil verkehren. So führt die effizientere Ressourcennutzung zu einer steigenden Nachfrage und so unter dem Strich zu einem erhöhten Ressourcenverbrauch. Dies wiederum führt zu einem wachsenden Innovationsdruck, der uns nicht mehr die Zeit lässt, die Folgen unseres Handelns zu durchdenken – wir sind vom Treiber der Entwicklung zum Getriebenen geworden.
 
Im zweiten Kapitel "Der Mythos vom freien Markt" zeigen Radermacher und Beyers, dass die glorifizierte "unsichtbare Hand" ziemlich schlecht darin ist, die Ressourcenbasis zu schützen, auf deren Fundament das "freie Spiel der Kräfte" sich austobt. Die Wettbewerber finden sich nämlich in einem klassischen Gefangenendilemma: Wenn sie sich im langfristigen Gesamtinteresse vernünftig verhalten, fallen sie im Wettbewerb zurück, sobald auch nur ein Konkurrent sich rücksichtsloser verhält – und erst recht natürlich, wenn die meisten es tun. Raubbau – sozialer wie ökologischer – ist daher kein "Systemversagen", sondern systemimmanent, er ist die logische und unvermeidliche Konsequenz ungeregelter Märkte. Und so ist es eigentlich kein Wunder, aber trotzdem gruselig zu lesen, dass die Menschheit bereits heute "rund die Hälfte der weltweiten Netto-Photosynthesekapazität" nutzt und bei unverändertem Verhalten "bis zur Mitte des Jahrhunderts fast die gesamte Netto-Photosynthesekapazität beanspruchen" wird (S. 64) Extrem wichtige Zahlen, die ich gerne besser untermauert statt nur beiläufig in den Text eingestreut gefunden hätte!
 
Die einzige Möglichkeit, die Welt aus diesem Gefangenendilemma zu befreien, sind klare Spielregeln, das heißt gesetzliche Regulierungen. Da das Spielfeld die Welt ist, können das nur internationale Regeln sein; die herrschende Regulierungskonkurrenz der Nationalstaaten bietet keine Lösung, sondern ist ein zentraler Teil des Problems. Radermacher und Beyers präsentieren schlüssige Überlegungen, wie dies angegangen werden könnte und welche Fallstricke dabei lauern. Im Kern geht es ihnen dabei darum, wie "Klimagerechtigkeit" erreicht werden kann, also, "dass jeder Mensch auf dem Globus (…) den gleichen Umfang an Emissions- oder Verschmutzungsrechten erhält." (S. 69) Ein plausibler Weg dazu – und vielleicht der einzige – ist, dass Staaten "Doppelbeschlüsse" treffen, das heißt Selbstverpflichtungen, die an die Bedingung gekoppelt sind, dass die anderen Länder sich und ihren Bürgern auch solche Regeln auferlegen.
 
Einen seltsamen Bruch enthält das dritte Kapitel "Aufklärung in Zeiten der Globalisierung". Es belegt zunächst sehr schlüssig, dass der "perverse Steuerwettbewerb" (S. 103) zwischen den Staaten bereits heute dazu führt, dass die geschicktesten globalen Akteure auf legale Weise kaum Steuern zahlen und dass aus genau diesem Grund diejenigen, die der Besteuerung nicht ausweichen können, darunter vor allem der Mittelstand, immer höher belastet werden, während zugleich die Leistungsfähigkeit der Staaten immer mehr zurückgeht. Diese legalen Fluchtwege zu schließen, ist mit Sicherheit eine notwendige Voraussetzung dafür, eine nachhaltige Form des Lebens und Wirtschaftens zu ermöglichen und so etwas wie die von Radermacher und Beyers propagierte "Ökosoziale Marktwirtschaft" zu realisieren.
 
Doch im weiteren Verlauf des Kapitels scheinen sie zunehmend zu ignorieren, was sie weiter vorne in ihrem Buch selbst hergeleitet haben. Im Abschnitt "Für ein ökosoziales Weltwirtschaftswunder" plädieren sie zunächst für eine doppelte Zurückhaltung: "Erstens muss sich die Menschheit als Ganzes auf Obergrenzen des Verbrauchs einigen, damit die Ökosysteme des Planeten nicht weiter aus dem Gleichgewicht geraten. Zweitens muss sich der Norden als reicher Teil sogar überproportional zurückhalten, damit der arme Teil eine Chance hat aufzuholen." (S. 117)
 
Damit das dem reicheren Teil der Welt jedoch keine unerträglichen Einschränkungen zumutet, fordern Radermacher und Beyers nicht weniger als ein Wunder: "Wenn man die doppelte Zurückhaltung in Zahlen ausdrückt, eröffnet eine Steigerung der Ressourcenproduktivität um den Faktor 10 in Verbindung mit angepassten Preisstrukturen und Regelwerken die Chance auf eine Steigerung des Weltbruttosozialprodukts um das Zehnfache." (S. 118) Einmal angenommen, eine solche Produktivitätssteigerung sei möglich, ohne flächendeckend das Perpetuum Mobile einzuführen, würde sie dem "Süden" eine Wohlstandswachstum um den Faktor 34 ermöglichen, dem "Norden" immer noch um den Faktor 4 – allerdings ohne das Ökosystem im Geringsten zu entlasten. Was sie im ersten Kapitel über den Bumerang-Effekt gesagt haben, ist in diesem Ausbruch von Technikeuphorie auf einmal vergessen, desgleichen das vorerst ungebrochene Wachstum der Weltbevölkerung, der Raubbau an natürlichen Ressourcen und die mit beidem einhergehende Verdrängung konkurrierender Arten.
 
Im Grunde ist das beängstigend. Wenn selbst so kluge und nachdenkliche Leute wie die Autoren dieses Buchs zu solchen märchenhaften Fiktionen greifen, um sich eine Wende zu einer nachhaltigen Lebensform vorzustellen, dann scheint die Lage des Planeten noch verzweifelter zu sein als ohnehin zu befürchten war. Doch völlig zu Recht haben sie weiter vorne eindringlich geschrieben, dass es keinen Sinn hat, sich in die Tasche zu lügen: "Die Erde betrügt uns nicht. Wenn es ihr gut geht, tut sie nicht so, als ginge es ihr schlecht. Wenn es ihr aber schlecht geht, hilft auch kein Zureden mehr. Die Menschheit muss ihren Stoffwechsel, ihren Metabolismus, an die Möglichkeiten ihres Biotops anpassen. Mit der Natur führt man keine Konsensgespräche." (S. 75)
 
Andersherum könnte ein Schuh daraus werden: Dass wir nämlich die Steigerungen der Ressourceneffizienz der nächsten Jahrzehnte zunächst einmal dazu nutzen, wieder auf ein Belastungsniveau zu kommen, das langfristig durchhaltbar ist ("echte Nachhaltigkeit"). Erst wenn das erreicht ist, steht das verbleibende Produktivitätswachstum (sofern durch eine Steigerung der Ressourceneffizienz erreicht und nicht zum Beispiel durch höheren Energieeinsatz) zur Verteilung zu Verfügung – und muss dann sicherlich so verwendet werden, dass erst einmal die Entwicklungs- und Schwellenländer aufholen, bevor wir unseren (materiellen) Wohlstand weiter steigern. Ein "doppelter Faktor X" könnte dabei nur dann herauskommen, wenn sich herausstellen sollte, dass das Ökosystem doch tragfähiger ist als ihm führende Forscher heute zutrauen. Wenn nicht, besteht die erste große Herausforderung darin, einen Weg aus dem gegenwärtigen Raubbau heraus zu finden. Nur was danach an Effizienzgewinn übrig ist, kann verteilt werden; anderenfalls schreiten wir nur – vielleicht ein bisschen langsamer – weiter auf dem Weg der Verwüstung voran.
 
Im vierten Kapitel "Globale Ökosoziale Marktwirtschaft" stellen die Autoren drei Zukunftsszenarien gegenüber: "Kollaps", "Ökodiktatur / Brasilianisierung" und – klar – ihr Modell einer ökosozialen Marktwirtschaft. Während wir momentan auf einen gebremsten Kollaps zusteuern, sind Tendenzen zu einer "Brasilianisierung" auch in den wohlhabenden Ländern bereits im Gange, das heißt zu einer Absinken des Lebensstandards der Mittelschicht, deren Realeinkommen stagnieren und die in wachsendem Maße zur Finanzierung des Staates und der Sozialsysteme herangezogen werden, weil die internationalen Unternehmen sich ihrer Besteuerung weitgehend entziehen können. Die "Anti-Vision" ist eine Gesellschaft wie Brasilien, wo wenige Reiche über 80 Prozent des Volkseinkommens verfügen, in hochgesicherten Luxuswohnparks oberhalb verslumter Millionenstädte leben und die Macht haben, zumindest für sich und ihre Familien auch ökologisch angenehme Lebensbedingungen zu erzwingen.
 
In diesem und im folgenden Kapitel ("Der Global Marshall Plan") arbeiten Radermacher und Beyers weiter aus, wie eine solche weltweite ökosoziale Marktwirtschaft aussehen und wie man dorthin kommen könnte. Eine zentrale und unverzichtbare Rolle hat dabei die Ordnungspolitik, denn es ist völlig undenkbar, dass uns der (von langfristigem Denken) freie Markt etwa zu "weltweit verbindlichen ökologischen und sozialen Standards" führen könnte, geschweige denn zu einem "neuen und durchsetzbaren Ordnungsrahmen für die globalen Finanzmärkte", "zu weltweit verbindlichen steuerpolitischen Grundsätzen", einem "globalen Finanzausgleich" oder gar zur "Durchsetzung des Verursacherprinzips und der ökologischen Kostenwahrheit" (S. 157f). Wenn das stimmt, dann wird die entscheidende Auseinandersetzung der nächsten Jahre sein, ob sich ein weiteres Mal die marktradikalen Kräfte durchsetzen oder ob es gelingt, belastbare internationale Spielregeln durchzusetzen. Die Zeit läuft dabei gegen uns, denn, wie gesagt: "Mit der Natur führt man keine Konsensgespräche." (S. 75)

Schlagworte:
Ökologie, Weltwirtschaft, Wachstum, Umweltkrise, Klimawandel, Ökosystem, Grenzen des Wachstums

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