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Unser Geldsystem als die eigentliche tiefere Krisenursache

Engels, Wolfram (1996):

Der Kapitalismus und seine Krisen

Eine Abhandlung über Papiergeld und das Elend der Finanzmärkte

Schäffer Poeschel (Stuttgart), Verlagsgruppe Handelsblatt (Düsseldorf), 2. Aufl. 1997; 382 S. (derzeit vergriffen)


Nutzen / Lesbarkeit: 9 / 8

Rezensent: Winfried Berner, 16.08.2009

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Eine grundlegende Kritik unserer Geldverfassung und ihrer krisenhaften Konsequenzen, die gerade angesichts der Finanzkrise mehr Beachtung verdient hätte, samt der Entwicklung einer bedenkenswerten Alternative, eines Volksvermögen-gedeckten Geldes.

Wenn der Name des Autors Engels lautet und der Titel "Der Kapitalismus und seine Krisen", lädt das zu falschen Schlussfolgerungen in Bezug auf Urheberschaft und Inhalt förmlich ein. Doch der Autor dieses Werks ist nicht der Freund und Finanzier von Karl Marx, sondern der 1995 verstorbene Journalist und Volkswirtschaftsprofessor Wolfram Engels, der lange Jahre Herausgeber und Kolumnist der Wirtschaftswoche war. Und für diesen Engels hatte der Begriff Kapitalismus, im Gegensatz zu seinem Namensvetter Friedrich, eine ausgesprochen positive Konnotation. Dennoch gibt es eine bedeutende Gemeinsamkeit mit dem historischen Engels und dessen Schützling: Es ist die Entschlossenheit, nicht bei der gängigen Lehrmeinung stehenzubleiben, sondern den Dingen wirklich auf den Grund zu gehen und sie glasklar und sauber bis zu Ende zu analysieren.

Die Schlussfolgerung, bei der Engels nach über 300 Seiten ankommt, ist ein "Vorschlag zur Gründung einer privaten Währungsbank" (S. 319 ff.). Sie soll nach seinen Vorstellungen auf das "Marktportefeuille" lauten, das heißt auf einen Anteil an dem weltweiten Volksvermögen, und zwar in genau dem Mix von Sach- und Geldvermögen, wie er im Durchschnitt von der Weltbevölkerung (bzw. deren besitzendem Teil) gehalten wird. Diese Währung wäre also nichts anderes als ein passiv gemanagter Mischfonds auf das "Weltvermögen", und er hätte gegenüber dem heute üblichen Papier- bzw. Giralgeld den entscheidenden Vorteil, dass er einen "festen Anker" besäße: Wenn das Marktportefeuille an Wert gewinnt, stiege auch der "Standard", wie Engels seine fiktive Währung in Anlehnung an Friedrich A. von Hayek nennt; verliert es an Wert, sänke auch der Preis der Währung, sodass zyklische Schwankungen durch die Synchronbewegung der Währung weitgehend abgepuffert würden.
 
Denn im Gegensatz zu Marx sieht Engels die Ursachen für die Krisen des Kapitalismus' nicht in dessen Wesen, sondern vor allem in den Unzulänglichkeiten unseres Geldsystems. Zwar wurde die unflexible und willkürliche Goldbindung der Währung(en) schon vor fast 100 Jahren abgeschafft, nicht zuletzt um den Staaten finanzielle Freiräume durch den Nachdruck von bunten Zetteln zu verschaffen, die sie etwa für die Finanzierung von Kriegen und andere Abenteuer nutzten – was sich prompt in einem Wertverlust dieser Zettel, genannt Inflation, niederschlug. Aber es wurde nichts an die Stelle dieses Edelmetall-Standards gesetzt, mit der Folge, dass der Wert des Geldes nun keinen Anker mehr hat und die Währungen von den Wellen herumgeworfen werden wie Boote in der Brandung.
 
Engels' Kritik an unserer gegenwärtigen Finanz- und Geldverfassung ist vernichtend: "Naturwissenschaften und Technik haben einen unvergleichlichen Triumphzug hinter sich: der Fortschritt hat sich im Zeitablauf beschleunigt. Auf den Finanzmärkten und beim Geld dagegen gab es einige Verbesserungen, überwiegend aber Rückschritt." (S. 307) So etwa die Derivate: "Die Finanzmärkte haben Instrumente hervorgebracht, um die Risiken zu beherrschen, die die Finanzmärkte selber geschaffen haben." (S. 309) Dies betrifft vor allem das Geldsystem: "Es wäre die Aufgabe der Finanzingenieure gewesen, diese unzuverlässige Dampfkutsche Goldwährung zu einem zuverlässigen und schnellen Fahrzeug zu entwickeln. Stattdessen haben sie sie zerstört und müssen nun zu Fuß gehen." (S. 310)
 
Bei der Lektüre dieses Buchs lernt man, dass das Geld ein sehr viel komplizierteres Ding ist als es uns, die wir damit aufgewachsen sind und es von Kindesbeinen an für selbstverständlich zu nehmen gelernt haben, normalerweise scheint. Zwar liest man immer mal wieder Kritik an der Aufhebung des Goldstandards, vor allem von den "Gold-Bugs", weil Papiergeld ein beliebig vermehrbares – und im gleichen Tempo an Wert verlierendes – Gut sei. Engels teilt diese Kritik, doch eine Rückkehr zu dem starren und unflexiblen Goldstandard scheint ihm ebenso absurd wie eine Wiederherstellung des Postkutschenverkehrs. Schließlich ist Gold vor allem eines, nämlich totes Kapital. Es muss mit hohem Aufwand – und, wie man hinzufügen muss, unter brutaler Schädigung der Umwelt – aus dem Boden gewonnen werden und dann wieder unter dem Boden in teuren Tresoranlagen eingelagert werden, ohne einen irgendeinen Nutzen zu generieren. Das kann in der Tat nicht der Weisheit letzter Schluss sein. Auf der Suche nach Alternativen kommt man zwangsläufig beim Thema dieses Buches an, nämlich der Geldverfassung und ihrem Zusammenhang mit der Funktion der Kapitalmärkte.
 
Bald 15 Jahre vor der gegenwärtigen Finanzmarktkrise geht Engels schon in seiner programmatischen Einführung mit dem "Tollhaus der Finanzmärkte" hart ins Gericht: "Der Markt ist ein geregeltes System oder sollte es wenigstens sein. Wenn ein Ingenieur ein geregeltes System, beispielsweise eine Heizungsanlage, beobachtet und dabei feststellt, dass sie völlig unprognostizierbar einmal bei Wärme und einmal bei Kälte anspringt, dann versucht er nicht, mit Hilfe der Chaostheorie das Verhalten der Heizung zu beschreiben, sondern er versucht, sie zu reparieren. (…) Das Bild unserer Lehrbücher, dass die Kapitalmärkte die verfügbaren Mittel in die jeweils günstigsten Verwendungsmöglichkeiten lenken, ist meilenweit von der Realität entfernt. Wenn die Aktienkurse, die Wechselkurse, die Zinsen, die Grundstückspreise unprognostizierbar hin und her taumeln, dann hat das überhaupt keine volkswirtschaftliche Funktion; es schafft im Gegenteil nur Risiken. Diese vom Kapitalmarkt geschaffenen Risiken beeinflussen dann die Finanzströme und lenken von den produktivsten Investitionsmöglichkeiten ab." (S. 3)
 
Deutlich prangert er die Theoriedefizite in diesem wichtigen Teil der Volkswirtschaftslehre an: "Die Theorie macht dabei keine besonders gute Figur. Wendet man die normalen Sätze der ökonomischen Theorie auf den Aktienmarkt an, so müssten die Aktienkurse eigentlich völlig stabil sein. Weil sie das aber offensichtlich nicht sind, hat noch kein Theoretiker das Wagnis unternommen, die gängige Theorie auf den Aktienmarkt auch wirklich anzuwenden." (S. 4f.) Anders bei den Wechselkursen, so fügt er an, wo ihre Vorhersagen für die Theoretiker in einer Blamage endeten. Engels beklagt, dass es in der Wirtschaftstheorie "ein Schisma zwischen monetären und realen Theorien" gebe: "Wer bei den realen Dingen ansetzt, wer also den 'Schleier des Geldes' wegzieht, der tut sich schwer, irgendwelche Konjunkturschwankungen abzuleiten (…) Wer dagegen beim Geld ansetzt, dem gelingt es, Konjunkturschwankungen zu beschreiben, bei dem hängt aber die Verteilung des Einkommens nicht von der Grenzproduktivität, sondern von den Investitionen der Unternehmer und dem Sparen der Nichtunternehmer ab, und das Wachstum ist instabil." (S. 6)
 
Das Grundproblem ortet Engels in der "Fehlkonstruktion unserer Geldverfassung. (…) Dieses Geldwesen, die Institutionen, die es hervorgebracht hat, und die Messergebnisse, die es produziert, sind für das Fehlfunktionieren unserer Finanzmärkte verantwortlich. Das Geldsystem, das wir heute haben, hat sich weder in der Konkurrenz von Geldanbietern als das beste herausgestellt, noch ist es aufgrund theoretischer Einsichten geschaffen worden. Es verdankt seine Existenz der Kriegsfinanzierung. (…) Wenn dieses System nicht völlig haltlos sein soll, dann muss irgendwo ein Nagel in die Wand geschlagen werden. Das war bis zum Ersten Weltkrieg der feste Goldpreis. Dieser Nagel war, und das hat die Literatur ausführlich dargestellt, an der falschen Stelle eingeschlagen. Aber die Folgerung, die daraus gezogen wurde, nämlich den Nagel ganz wegzulassen, war noch viel schlimmer. Fast alle Erscheinungen, die zu beklagen sind – Krisen, Volatilitäten, Kapitalfehllenkung – sind Konsequenzen eines falsch organisierten Geldwesens." (S. 7f.) Das ist denn auch die zentrale These dieses Buchs, die Engels auf den folgenden 370 Seiten ausführlich, gedankenreich und scharfsinnig untermauert.
 
Nach dieser fulminanten Einleitung folgen drei Hauptteile, ein – im doppelten Sinn – "Schluss" und der bereits erwähnte "Anhang: Die Standardbank – Vorschlag zur Gründung einer privaten Währungsbank". Wenn einem das Letzte beim ersten Blick in das Inhaltsverzeichnis noch etwas weit hergeholt und nicht sonderlich realistisch erscheint, so muss man Engels zugestehen, dass sein Modell eines alternativen Geldes im Laufe der Lektüre an Plausibilität gewinnt. Das liegt daran, dass der Leser auf seinem – teilweise durchaus anstrengenden – Weg durch die drei Hauptteile beginnt zu verstehen, auf welch schwankendem Boden wir uns mit unserem ankerlosen Papiergeldsystem befinden.
 
Im ersten Teil "Kapital, Geld und Wert" geht es vor allem um das Thema Wertaufbewahrung, das zum Beispiel für unsere Alterssicherung von zentraler Bedeutung ist (falls wir nicht dazu zurück wollen, uns als "Altersversorgung" eine große Zahl von Kindern anzuschaffen, was nicht nur ökonomisch, sondern auch ökologisch fatal wäre). Der zweite Teil "Geldpolitik als Glückspiel" zeigt auf, wie unser Papiergeld dazu beiträgt, dass wir von "Krise zu Krise" stolpern. Im letzten Kapitel dieses Teils, das den hübschen Titel "Die unsichtbare Hand würfelt" trägt, arbeitet er heraus, wie die Volatilität in den Märkten entsteht und welche Folgen sie hat: "Fazit: Die Volatilität des Assetpreisniveaus bringt nicht nur eine gewaltige Kapitalfehllenkung mit sich, sondern auch die Konjunkturen und Krisen. Je mehr sich die Wirtschaft gegenüber der Volatilität des Assetpreisniveaus immunisiert, desto kleiner werden zwar die Konjunkturausschläge, desto größer wird aber die Kapitalfehllenkung." (S. 217)
 
Der dritte Teil "Der Markt für diskontierte Hoffnungen" wird eingeleitet durch den Aphorismus-verdächtigen Satz: "An den Finanzmärkten werden nicht Güter gehandelt, sondern diskontierte Hoffnungen und abgezinste Versprechen. Ihre Eigenart ist, dass Güter knapp, Hoffnungen und Versprechen aber beliebig sind." (S. 229) In dessen erstem Kapitel "Glanz und Elend der Aktie" stellt Engels fest, dass die Aktie einerseits eine Basisinnovation ist, andererseits, dass sie wegen diverser Konstruktionsfehler – mangelnde Transparenz, hohe Besteuerung, Aktionärsdemokratie – ihre eigentliche Funktion, den Anlegern diversifizierte Anlagemöglichkeiten zu bieten und den Unternehmen Eigenkapital zu verschaffen, nur unvollkommen erfüllt. Stattdessen hätten die herrschenden Bedingungen zu einem "Triumph des Kredits" (S. 259) geführt, der weder für die Anleger noch – wegen des höheren Risikos – für die Unternehmen vorteilhaft sei, sondern eigentlich nur für die Banken, die die großen Profiteure dieser Bedingungen seien. "Finanzmärkte: Schlecht und teuer", lautet sein wenig schmeichelhaftes Resümee (S. 285).
 
In seinem "Schluss" fasst Engels zunächst "Das Elend der Finanzmärkte" noch einmal zusammen. Nach seiner Auffassung lösen sie "das Problem, das es zu lösen gilt", nämlich "die finanzielle Lebensplanung" (S. 283), denkbar schlecht, weil sie die Wertaufbewahrung, das heißt den Transfer von Einkommen in spätere Lebensjahre unnötig unsicher macht. "Finanzmärkte bei gutem Geld" S. 299) müssten und würden aber genau dies leisten. Dies wäre jedoch nach seiner Auffassung nur mit einer grundlegend anderen Geldverfassung möglich, nämlich mit einem Geld, das einen festen Anker in realen Werten – vorzugsweise eben dem Marktportefeuille – hat. Dann wäre nach Engels' Auffassung nicht nur das gesamte Wirtschaftssystem sicherer vor konjunkturellen Zufallsschwankungen, und das Geld wäre sicher vor Wertverlusten und Inflation. Vielmehr wäre auch das Problem der finanziellen Lebensplanung auf elegante Weise gelöst: "Der Produktivitätsfortschritt äußert sich [in einer solchen auf Realvermögen basierten Geldverfassung] nicht in steigenden Löhnen, Renten etc., sondern in wachsender Kaufkraft konstanter Löhne. Da es nominal keinen Zins gibt, gibt es nominal auch keine Kapitaleinkommen. Die reale Kapitalverzinsung äußert sich ebenfalls in steigender Kaufkraft." (S. 300)
 
Obwohl Engels klar, prägnant und verständlich schreibt, ist das 'Buch nicht ganz einfach zu lesen. Das liegt vor allem daran, dass die Materie kompliziert und, wie für mich, wohl für die meisten Leser weitgehend Neuland ist. Ich bekenne: So intensiv wie beim Lesen dieses Buchs habe ich noch nie über Geld nachgedacht, jedenfalls nicht über dessen Funktionsweise und seine inneren Gesetzmäßigkeiten. Stellenweise fand ich es daher schwer, Engels' Argumentation zu folgen, wenn sie allzu dicht wurde und zu viel Vorverständnis voraussetzte. Dennoch finde ich seine Darlegungen sowohl lesenswert als auch überzeugend, auch wenn ich mir kein abschließendes Urteil zutraue, inwieweit eine andere Geldverfassung tatsächlich die ultimative Lösung für den "Kapitalismus und seine Krisen" wäre. Doch selbst wenn sein Ansatz "nur" zu einem stabilen und sicheren, weil vermögensgedecktem Geld führen würde und damit nebenbei auch das Problem der finanziellen Lebensplanung löste, wäre er schon weit größerer Beachtung wert als ihm in der momentanen Diskussion zukommt. Gerade angesichts der Finanzmarktkrise und der bemerkenswerten konzeptionellen Hilflosigkeit bei ihrer Bewältigung wäre eine Neuauflage daher sehr zu begrüßen.

Schlagworte:
Geld, Geldsystem, Geldverfassung, Finanzverfassung, Kapitalismus, Krisen

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