Insgesamt etwas enttäuschend. Das mit dem Deutschen Wirtschaftsbuchpreis 2009 ausgezeichnete Werk liefert facettenreiche Einblicke in die "Große Rezession" und deren unmittelbare und fernere Vorgeschichte, aber wenig grundlegende neue Einsichten.
Etwas ratlos habe ich dieses Buch nach 278 gedanken- und detailreichen Seiten zugeklappt. Viele Einzelheiten habe ich erfahren, manche bedeutsame Hintergründe – wie zum Beispiel den amerikanischen Antagonismus zwischen "Wall Street" und "Main Street" und die viele Reformen verhindernde Spaltung der amerikanischen Gesellschaft in zwei sich geradezu feindlich gegenüberstehende politische Lager – besser verstanden, einige (wenige) wirklich wichtige Zusammenhänge neu erkannt – wie zum Beispiel, dass die Mechanismen des amerikanischen Politbetriebs starke Anreize dazu liefern, auf festen Standpunkten zu beharren und keine Kompromisse zu machen, was gut für das Einsammeln von Spenden ist, aber eine katastrophale Voraussetzung zum Regieren. Aber so große neue Erkenntnisse, dass mir die Auszeichnung dieses Werks mit dem "Deutschen Wirtschaftsbuchpreis 2009" gerechtfertigt schiene, habe wenigstens ich nicht daraus gewonnen. Mag sein, dass dies eine zu hohe Erwartung an ein Buch ist, das im Juni 2009 und damit nur drei Monate nach dem (vorläufigen) Tiefpunkt der Weltwirtschaftskrise fertig gestellt wurde. Aber ich habe ja gar nicht die Weltformel erwartet, sondern nur mehr Klarheit über die hochkomplexen Zusammenhänge – und vielleicht einen Ausblick auf die weitere Entwicklung.
Tatsache ist jedoch, dass ich mir in diesem Buch weniger angestrichen habe als bei den meisten anderen, die ich in den letzten Jahren gelesen habe. Es liest sich gut, die Argumentation ist schlüssig, doch sie führt (mich) selten zu Aha-Erlebnissen, zu dem Gefühl: Das muss ich mir markieren, damit ich diesen wichtigen Gedanken bei Bedarf schnell wiederfinde. Häufiger als in anderen Büchern habe ich hingegen den Faden verloren und stand etwas verwirrt vor der Frage: Wo war ich jetzt gerade? Was war noch mal der Gedankengang? Das mag vielleicht auch an Pipers Sprache liegen, die zwar gut lesbar ist und gefällig dahin fließt, aber die wichtigen Punkte so wenig herausarbeitet, dass man sie leicht überliest, wenn man sich nicht aktiv um die Kernaussagen bemüht.
Der New Yorker Wirtschaftskorrespondent der Süddeutschen Zeitung beginnt sein Buch eigentlich mit einer ausgesprochen spannenden These. In der Einleitung stellt er die Frage, weshalb sich eigentlich Nord- und Südamerika trotz ihrer ähnlichen Kolonialgeschichte so unterschiedlich entwickelt haben, dass heute die Migrationsströme vom Süden nach Norden fließen und nicht umgekehrt. Und fasst seine Antwort so zusammen: "Es waren also drei Faktoren, die die USA in ihrer ökonomischen Entwicklung begünstigten: ein funktionierender Rechtsstaat, ein ergiebiger Kapitalmarkt und das Fehlen übermäßiger Liquidität." (S. 5) Und setzt dann fort: "Um das Jahr 2001 jedoch schien die Geschichte eine groteske Wendung zu nehmen. Plötzlich zeigten die Vereinigten Staaten einige Züge der Wirtschaft im spanischen Weltreich: Das Defizit im Außenhandel stieg in vorher nie gekanntem Ausmaß, die Regierung führte zwei teure Kriege, sorgte aber nicht für deren Finanzierung. Amerikaner traten, wie Ökonomen damals formulierten, als Konsumenten und Schuldner der letzten Instanz auf: Sie beanspruchten den größten Teil des überschüssigen Kapitals der Welt für sich und die Verbraucher der USA stützten die Konjunktur fast überall jenseits ihrer Grenzen (…)" (S. 5) Zwei Seiten später verdichtet er seine These wie folgt: "Die Wall Street spielte beim Entstehen der Großen Rezession dieselbe Rolle wie 400 Jahre zuvor das Silber beim Niedergang des spanischen Weltreichs." (S. 7)
Das hätte ein großer Wurf werden können, wenn Piper sein Buch darauf verwandt hätte, diese These zu untersuchen und zu untermauern. Es hätte, wenn schon nicht eine Erklärung, so doch ein Denkmodell für die weltwirtschaftlichen Turbulenzen liefern können, in denen wir uns befinden – ein Modell, das auch Vorhersagen oder zumindest Hypothesen über die weiter bevorstehende Entwicklung erlaubt. Doch leider hat Piper nicht den Mut oder nicht die Kraft oder vielleicht auch bloß nicht die Absicht, diesen Gedanken konsequent weiterzuverfolgen. Stattdessen wirkt sein Buch wie eine Ansammlung von Seite-3-Features, die meist mit konkreten Ereignissen oder Einzelschicksalen beginnen und sie dann als Symptom für eine allgemeinere Entwicklung nehmen und ausleuchten: Interessant und informativ ohne Zweifel, aber es fügt sich – wenigstens für mich – nicht zu dem Gesamt- oder gar Zukunftsbild, das ich mir von dem "Wirtschaftsbuch des Jahres 2009" erwartet und erhofft hatte.
In den 14 Kapiteln erfährt man viele Details und Einzelaspekte, die die nähere und fernere Vorgeschichte der "Großen Depression" beleuchten. Man erfährt von halsabschneiderischen Payday Loans, Lügenkrediten und der durch die Immobilienblase bedingten Wohlstandsillusion, die in den USA zuletzt zu einer negativen Sparquote führte; man erfährt Hintergründe und Mechanismen der Asienkrise Ende der 90-er Jahre; man erfährt, wie 1907 der Bankier John P. Morgan nach dem Zusammenbruch des Knickerbocker Trusts in einem Akt von heroischem Paternalismus zusammen mit John D. Rockefeller und anderen Ikonen des amerikanischen Kapitalismus eine Bankenpanik verhinderte und wie dies zur Geburtsstunde der amerikanischen "Fed" wurde. Man erfährt auch manches, was nicht nur von historischem, sondern von theoretischem Interesse ist, insbesondere im Kapitel 8, wo Piper über die Forschungen des Bendheim Center for Finance an der Princeton University berichtet.
Dessen Erkenntnisse zur Logik der Finanzmärkte zählen für mich zu den lehrreichsten Abschnitten des Buchs. So etwa, dass dort die Optimisten einen strukturellen strategischen Vorteil gegenüber den Pessimisten haben, weil die einen nur kaufen und abwarten müssen, während die anderen das Risiko des Timings haben. Dies gibt dem gesamten Wertpapiermarkt eine systembedingte Asymmetrie, die Übertreibungen fördert. Pessimisten können auch dann verlieren, wenn sie in der Sache recht haben und nur in der Einschätzung des Zeitpunkts falsch lagen. Das macht es riskant, gegen Spekulationsblasen zu wetten, zumal solche Blasen erstaunlich lange Bestand haben können. Wie für fast alles, gibt es auch hier ein passendes Zitat von John Maynard Keynes: "Börsen können länger irrational sein, als du zahlungsfähig bist." (S. 158f.)
"Für Anleger kann es aber trotzdem sehr rational sein, auf einer Spekulationsblase zu reiten. Selbst wenn sie selbst genau wissen, dass es sich um eine Blase handelt." (S. 156) Denn solange die Mehrzahl der Marktteilnehmer an steigende Kurse glaubt, werden die Kurse steigen. Und vor allem für professionelle Investoren ist es weitaus schwieriger, ihren Kunden zu erklären, weshalb sie "viel zu früh" ausgestiegen sind; es ist weitaus leichter zu vermitteln, dass ein allgemeiner Crash leider auch den eigenen Fonds getroffen hat – wenn auch natürlich nicht so schlimm wie manche anderen. Doch leider enthält das Buch nur wenige Passagen, die solche ebenso spannenden wie grundsätzlichen Erkenntnisse enthalten. Über weite Strecken bleibt es bei der detailreichen Beschreibung dessen, was war und wie es dazu kam.
Eine bemerkenswert geringe Rolle spielen in Pipers Buch ökologische Aspekte. Nicht, dass sie gar nicht erwähnt würden; es finden sich ein paar Abschnitte, in denen sie erwähnt und ernsthaft diskutiert werden. Doch der Gedanke, dass in einer endlichen Welt kein unendliches Wachstum möglich ist und dass das auch tiefgreifende Konsequenzen für jede Wirtschaftspolitik haben müsste, ist offenbar in der heutigen Makroökonomie noch nicht angekommen. Das müsste es aber, denn sonst führt die Lösungssuche für das eine Problem – wie kommen wir zu mehr Wachstum? – unweigerlich zur Verschärfung des anderen: zu Ressourcenengpässen, Preisexplosionen und vor allem zu einem dramatischen Anstieg dessen, was die Volkswirtschaftlehre etwas gequält unter "negative externe Effekte" subsumiert: Umweltzerstörung, Schadstoffbelastung, Verlust an Lebensqualität, Artenschwund … Ja, noch mehr: Der Abbau ökologischer und sozialer Standards wird zum Preis, den angeblich für mehr Wachstum bezahlt werden muss.
Nein, so kommen wir nicht weiter. Das ist Sackgassen-Ökonomie. Aber das ist, genau genommen, nicht (bloß) eine Kritik an Nikolaus Pipers Buch, sondern am Mainstream der derzeitigen Nationalökonomie.
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