Aus diesem Buch lässt sich mehr über partizipative Führung lernen als aus vielen Führungsratgebern. Vor allem darüber, wie man ein Team im Dialog führt und Disziplin und ein gutes Arbeitsklima nicht durch Kontrolle, sondern im Konsens erreicht.
Lehrer haben nicht den allerbesten Ruf. Daher drängen sie sich nicht als natürliche Vorbilder für Führungskräfte auf. Doch sie stehen vor Herausforderungen, die von ihrer Struktur her große Ähnlichkeiten von der Führung von Mitarbeitern haben: Sie sollen mit ihren Klassen Ziele erreichen, während ihre Schüler die unteerschiedlichsten Eigenheiten, Interessen und Ziele haben. Sie haben es mit ehr-geizigen Schülern ebenso zu tun wie mit faulen und entmutigten, mit widerspenstigen ebenso wie mit überangepassten, mit ängstlichen ebenso wie mit aufsässigen sowie mit "Clowns", die immer mit störenden Späßen die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Ähnlich wie bei Führungskräften hängt auch der Erfolg von Lehrern keineswegs nur von ihren fachlichen Qualifikationen ab, sondern auch und vor allem davon, ob es ihnen gelingt, ein Mindestmaß an Disziplin zu wahren und ein Arbeitsklima zu schaffen, in dem sich alle auf ihre Arbeit konzentrieren, statt Unfug zu machen oder sich in Auseinandersetzungen untereinander oder in Machtkämpfe mit dem Lehrer zu verwickeln.
Warum also nicht, statt die nächste Charge neu erschienener Führungsliteratur darauf zu scannen, ob sich doch ein paar neue Erkenntnisse in der Flut der semantischen Paraphrasen eingeschlichen haben, einmal einen Blick über den Zaun wagen und schauen, was man von anderen Disziplinen für das eigene Geschäft lernen kann? Diese gelungene Neuübersetzung eines im Original bereits 1971 erschienenen Klassikers erweist sich hierfür als geradezu ideale Quelle, denn die Individualpsychologen Rudolf Dreikurs, Bernice Grunwald und Floy Pepper präsentieren hier einen Denkansatz, der sich sehr gut von der Schule auf den Betrieb übertragen lässt. Sie betrachten Kinder nicht, wie manche zeitgenössischen Gegenreformatoren, als unreife Wesen, die nur durch straffe autoritäre Führung auf den Pfad der Tugend zu zwingen sind, sondern nehmen sie als gleichwertige (ungleich: gleichberechtigte) Partner, die für die gemeinsame Sache des Lernens gewonnen werden können und müssen.
Die individualpsychologische Erziehungslehre geht davon aus, dass Kinder nicht gegen ihren Willen zum Lernen und zur Klassendisziplin gezwungen werden können – und dass der Versuch, es doch zu tun, unweigerlich in destruktiven Machtkämpfen endet. Vielmehr besteht die Aufgabe und Herausforderung für den Lehrer darin, durch Gespräche und Ermutigung eine Klassengemeinschaft zu formen, die sich das Lernen und die gegenseitige Unterstützung zur gemeinsamen Aufgabe macht. Das heißt, der Lehrer macht einen Fehler, wenn er alle Probleme des Schulalltags – von Unaufmerksamkeit über Konflikte bis zu Unterrichtsstörungen – im Alleingang zu lösen versucht. Damit übernimmt er sich erstens selbst, unterfordert zweitens die Schüler, und drittens entsteht zu solchen einseitigen Lösungen natürlich kein Commitment. Die Schüler versprechen vielleicht noch, sich an die gesetzten Regeln zu halten, haben sie aber wenig später vergessen. Und wenn der Lehrer dann ärgerlich reagiert und seine Regeln durchzusetzen versucht, verstrickt er sich leicht in einen Machtkampf mit der Klasse. Einige Schüler entdecken rasch die Profilierungschance, die darin liegt, die gesetzten Regeln bewusst zu durchbrechen – und lassen sich die Gelegenheit nicht entgehen. Das zwingt den Lehrer dazu, hart durchzugreifen, um seine Autorität zu wahren, worauf die Schüler wiederum mit Trotz und Widerstand reagieren – der Machtkampf ist da.
Besonders ergiebig für Führungskräfte und Personalentwickler dürften die ersten beiden Kapitel dieses Buchs, die zusammen gut zwei Drittel des Texts ausmachen. Im ersten legen die Autoren dar, wie Kinder (Menschen) aus Sicht der Individualpsychologie funktionieren: Dass sie keineswegs passive, auf Umwelt- und Erziehungseinflüsse nur reagierende Reiz-Reaktions-Maschinen sind, sondern aktiv handelnde, Entscheidungen treffende und ihre soziale Umgebung mitgestaltende Wesen: "Wir brauchen ein neues Verständnis für Kinder, das ihre ungeheure Kraft, Planung und Beharrlichkeit berücksichtigt, mit dem sie ihre Umgebung beeinflussen. Dieses Verständnis steht im starken Gegensatz zu der weit verbreiteten Vorstellung, dass Kinder Opfer ihrer Umwelt sind. Schon sehr früh im Leben eines Kindes können wir sehen, wie es von seiner Umgebung lernt und dieses Gelernte seinerseits dann benutzt, um sie zu steuern." (S. 15)
Ein zentrales Konzept der Individualpsychologie ist dabei das der Finalität, das heißt der Gedanke, dass alles menschliche Handeln zielgerichtet ist – auch solches, das scheinbar unsinnig, irrational oder störend ist. Das wichtigste Ziel von Kindern (und Erwachsenen) ist dabei, dazuzugehören und einen anerkannten Platz in ihrer jeweiligen Gemeinschaft zu haben. Dafür tun sie buchstäblich alles – auch Dinge, die ihnen selbst und/oder anderen schaden. Wenn es ihnen nicht gelingt oder sie sich nicht zutrauen, ihren Platz in der Gemeinschaft auf konstruktive, beitragende Weise zu gewinnen, dann tun sie es eben auf andere Weise – etwa durch Stören und destruktives Verhalten.
Zu den wichtigsten Entdeckungen von Rudolf Dreikurs (1897 – 1972) zählt, dass sie praktisch alle störenden Verhaltensweisen von Kindern auf vier sogenannte "Nahziele" zurückführen lassen: (1) Erreichen von Aufmerksamkeit und Beachtung, (2) Macht und Überlegenheit, (3) Rache und Vergeltung, und (4) Resignation und Rückzug. Das sind zugleich Abstufungen der Entmutigung: Während ein Kind, das sich als Clown geriert oder alles mehrfach erklärt haben möchte, um beachtet zu werden, noch relativ nahe an der Gemeinschaft ist (und allenfalls "nervt"), hat eines, das sich nur noch für seine geringe Akzeptanz rächt, kaum noch Hoffnung auf einen anerkannten Platz in der Gemeinschaft. Das Extrem der Entmutigung sind die Schulversager, die sich so überzeugend dumm stellen, dass sie ihre Lehrer wie Mitschüler damit restlos überzeugen – und damit erfolgreich ihr mutloses Ziel erreichen, in Ruhe gelassen und von allen Anforderungen verschont zu werden.
Die Darstellung ist reichlich mit Beispielen illustriert, und obwohl sie sich auf Schulkinder beziehen, muss man sich nicht anstrengen, um zahlreiche Parallelen zur Erwachsenenwelt zu entdecken. Genau besehen, gibt es ja auch keinen Grund, weshalb diese Nahziele nicht in ähnlicher Weise für Erwachsene zutreffen sollten – und damit auch zur Herausforderung in der Mitarbeiterführung werden. So gibt es Mitarbeiter, die zum Beispiel durch regelmäßiges Zuspätkommen, durch Versäumen gesetzter Termine oder andere Mittel die Aufmerksamkeit des Vorgesetzten und/oder der Kolegen erzwingen, es gibt die Sturen oder Rebellischen, die nur kooperieren, wenn man sich auf ihre Bedingungen einlässt; es gibt die "Rächer", und es gibt die "Unfähigen", die es geschafft haben, ihre Vorgesetzten und Kollegen davon zu überzeugen, dass es zwecklos ist, von ihnen irgendetwas zu erwarten, was über die Bewältigung des gefährlichen Wegs zur Kantine hinausgeht. Irritierend ist eigentlich nur, dass etliche dieser "Schwachleister" in ihrer Freizeit durchaus anspruchsvolle Tätigkeiten ausüben.
Im umfangreichen zweiten Kapitel geht es dann darum, wie der Lehrer mit der Klasse arbeiten und die Schüler in die anstehenden Entscheidungen einbeziehen kann, statt Problemlösungen einseitig vorzugeben (und sich anschließend bei deren Durchsetzung in Kämpfe zu verstricken). Das Kapitel trägt die etwas irreführenden Überschrift "Effektive demokratische Methoden", was den Verdacht wecken könnte, der Lehrer würde bei diesem Ansatz, ähnlich wie in der antiautoritären Erziehung, seine Führungsrolle aufgeben und die Entscheidungen den Schülern überlassen. Das Gegenteil ist der Fall: Der Lehrer übernimmt in diesem Modell eine sehr starke, aber dialogische Führungsrolle. Er lenkt die Aufmerksamkeit der Klasse auf Themen, die einer Klärung bedürfen, er leitet das Gespräch, indem er keineswegs nur Wortmeldungen verwaltet, sondern im Dialog Erkenntnisse und Zwischenergebnisse herausarbeitet, mit seinen Fragen ebenso auf die Bedürfnisse der Betroffenen eingeht wie auf die Auswirkungen auf die Klasse, und er führt das Gespräch schließlich zu einer gemeinsamen Entscheidung, die nach Möglichkeit im Konsens und nicht per Abstimmung getroffen wird.
Das ist eine sehr viel anspruchsvollere Form des Führens als das Halten von Monologen; es erfordert das Gestalten eines offenen Kommunikationsprozesses, der niemals voll plan- und kontrollierbar ist. Dazu gehört sehr viel mehr Mut und Kompetenz als zu einem monologischen Vorgehen, und es ist durchaus verständlich, dass viele Lehrer (und vermutlich auch Führungskräfte) angesichts des dabei drohenden Kontrollverlusts ein erhebliches Unbehagen verspüren. Denn mit diesem offenen Dialog geht der Führende weit mehr ins Risiko als wenn er nur seinem zuhause vorbereiteten Drehbuch folgt. Ohne Zweifel fällt diese Fähigkeit nicht vom Himmel, sondern erfordert Übung. Trotzdem ist es in meinen Augen genau der richtige Führungsstil für unsere Zeit, und er ist vermutlich der einzige, der freiwillige Disziplin und eine echte Bindungswirkung der getroffenen Entscheidungen herbei-führen kann – schon bei Kindern, und erst recht bei Jugendlichen und Erwachsenen!
Gerade beim Thema Disziplin wird auch der fundamentale Unterschied zur antiautoritären Erziehung deutlich: "Disziplin ist ohne Frage einer der wichtigsten und schwierigsten Aspekte der Erziehung, denn ohne Disziplin ist effektives Lehren unmöglich." (S. 73) Lehrern wie Führungskräften bleiben letztlich nur zwei Alternativen: Sie können versuchen, Disziplin autoritär zu erzwingen – was sie zum Gegenstand eines permanenten Machtkampfs macht, der auf die Dauer nur schwer zu gewinnen ist. Oder sie können auf eine freiwillige Disziplin setzen, die auf Einsicht in das Notwendige und Sinnvolle beruht und Resultat einer gemeinsamen Entscheidung ist, der jeder Einzelne zugestimmt hat. Das Dumme ist nur: Eine solche freiwillige Entscheidung für Disziplin entsteht nicht von allein, und vielen Lehrern (und Führungskräften) fehlt das methodische Rüstzeug, sie herbeizuführen. Sie erhalten in diesem Kapitel umfassende Anleitungen, wobei vor allem die Ausführungen über Gruppengespräche beinahe eins zu eins in den Führungsalltag übertragbar sind.
Drei kürzere Kapitel schließen das Buch ab. Darin geht es um den "Umgang mit Lernstörungen", den "Umgang mit Verhaltensproblemen" sowie um die "Zusammenarbeit mit den Eltern". Sie haben auf den ersten Blick weniger betrieblichen Bezug – aber nur auf den ersten Blick. Denn etliche Probleme, die hier angesprochen werden, treten in abgewandelter Form durchaus auch in Unternehmen auf. Was in der Schule Lernstörungen sein mögen, ist im Betrieb vielleicht die vermeintliche Unfähigkeit des Mitarbeiters, bestimmte Aufgaben mit annehmbarem Ergebnis zu bewältigen. Was in der Schule die "Kluft zwischen den Generationen" ist, hat in vielen Betrieben seine Entsprechung in der Polarisierung zwischen Management und einfachen Mitarbeitern. Und auch wenn vermutlich die wenigsten Führungskräfte Elterngespräche führen, so lässt sich doch bei einem kleinen gedanklichen Schritt zurück erkennen, dass es hier um die Zusammenarbeit mit anderen Personen geht, die ebenfalls Einfluss auf Einstellungen und Verhaltensweisen der eigenen Adressaten haben. Das kann aus Sicht einer operativen Führungskraft zum Beispiel der Betriebsrat sein, aber auch die Personalabteilung oder die Personalentwicklung; aus Sicht der Personaler sind es zum Beispiel die Linienmanager. Und genau wie in der Schule stellt sich auch hier die Frage, ob man unkoordiniert nebeneinander her arbeiten will, gegeneinander oder vielleicht doch miteinander.
Wer also bereit ist, sich die geringe gedankliche Mühe zu machen, die Gedanken und Anregungen dieses Buchs von der partizipativen Führung von Schulkindern auch die partizipative Führung erwachsener Mitarbeiter zu übertragen, dem kann ich dieses Buch nur empfehlen. An vielen Stellen wird sogar die verfremdete Perspektive mehr an Anstößen liefern als die Bearbeitung von mehr oder weniger realen Führungssituationen. Und es würde mich nicht wundern, wenn Sie sich genau wie ich an manchen Stellen fragen würden: Warum soll eigentlich mit Erwachsenen nicht möglich sein, was mit Kindern möglich ist?
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