In Ermangelung von Alternativen ist dieses Wörterbuch eine unverzichtbare Referenz für alle, die tiefer an der Individualpsychologie interessiert sind. Die Beiträge sind jedoch von sehr unterschiedlicher Qualität und überwiegend recht lebensfern.
Ein Wörterbuch liest man nicht von Seite 1 bis (in diesem Fall) 608, und auch eine Enzyklopädie nicht, um die es sich bei diesem Wörterbuch in Wirklichkeit handelt. Insofern ist diese Rezension nur von stichprobenartiger Lektüre geprägt. Nach dem Studium von etwa 15 Prozent der knapp 200 Stichwörter komme ich zu folgendem Resümee: Die Artikel der insgesamt 37 Autoren sind von recht unterschiedlicher Qualität, doch insgesamt eher theoretisch als praktisch orientiert und oft mühsam zu lesen. Wie die Zitate und Literaturverweise zeigen, sind die meisten Autoren in beeindruckendem Maße belesene Experten ihres Fachgebiets. Doch die allermeisten vermitteln mit ihren Texten den Eindruck, dass es ihnen nicht um irgendeine Art von praktischer Umsetzung ginge, sondern um "Erkenntnis an sich". Die Herrschaften diskutieren auf sehr hohem Niveau – auf so hohem, dass sie, ähnlich wie über weite Strecken die "Zeitschrift für Individualpsychologie", die Niederungen der Realität ohne nennenswerten Bodenkontakt überfliegen.
Das berührt eigenartig, wenn man bedenkt, dass Alfred Adler (1870 – 1937), der Begründer der Individualpsychologie, ein ausgesprochen praxisorientierter Mensch war. Er war an nichts weniger interessiert als an abgehobenen intellektuellen Debatten und an nichts so stark wie an dem Einsatz seiner Individualpsychologie zur Lösung praktischer Probleme in Erziehung, Psychotherapie und Gesellschaft. Zwar war Adler sehr wohl theoretisch interessiert und hat uns ja auch einen Beitrag zur psychologischen Theorie hinterlassen, dessen Bedeutung 70 Jahre nach seinem Tod längst noch nicht ausgeschöpft ist. Zugleich war er aber immer auch pädagogischer und therapeutischer Praktiker, der die Welt nicht von einer Raumstation aus analysieren, sondern sie vom Boden aus beeinflussen, verändern und verbessern wollte. Insofern ist es auch ein bisschen erschreckend, was (viele) seine(r) Anhänger heute aus seiner Lehre und seinem weltverbessernden Impetus gemacht haben. So unterschiedlich die Autoren und Beiträge sind, so einig scheinen sich die Autoren in einem unausgesprochenen "Comment" zu sein, dass man in seinen Beiträgen umfassende Bildung vorzuzeigen und aufs Feinste zu differenzieren habe, dass es aber umgekehrt eher unschicklich (oder vielleicht auch nur überflüssig) sei, auf die praktische Anwendung einzugehen. Selbst mit Beispielen halten sich die Autoren weitestgehend zurück, was die Lesbarkeit und Nachvollziehbarkeit erheblich erschwert. Letztlich liest sich das für mich oft wie intellektuell verklausulierte Mutlosigkeit: Die letzten Überlebenden einer aussterbenden Schule?!
Ich kommentiere hier beispielhaft einige Artikel; ihre Auswahl folgt einfach meinen derzeitigen Interessenschwerpunkten.
Enttäuschend der zweiseitige Artikel von Robert F. Antoch über die Themen "Mut / Ermutigung / Entmutigung". Diese zentralen Begriffe der Individualpsychologie werden mit definitionsähnlichen Erläuterungen abgehandelt, die insgesamt blutleer bleiben: "Ermutigung ist derjenige Kooperationsprozess, der zwischen zwei Personen in Gang kommen kann, wenn der eine zur Lösung eines für ihn allein nicht lösbar scheinenden Problems die Hilfe eines anderen in Anspruch nimmt. Jeder Versuch der Ermutigung hat zur Voraussetzung, dass sich die Kooperationspartner trotz ihrer verschiedenen Funktionen in diesem Prozess als prinzipiell gleichwertig verstehen und dass der Partner in der Hilfsfunktion die Lösung nicht mit von außen herangetragenen Mitteln, sondern im wesentlichen mit Hilfe von Mitteln und Motivationen vorantreibt, die er bei seinem Gegenüber vorfindet und belebt. Ein Ermutigungsprozess ist erfolgreich verlaufen, wenn der Betroffene das Problem aus einer erweiterten Einsicht in die eigenen Wünsche und Vorstellungen, in Sachnotwendigkeiten und in die Forderungen seiner sozialen Umwelt einer für ihn und seine Umwelt sachgerechten Lösung zuführen kann." (S. 340) Hier erleben wir das klassische Problem von Definitionen: Wer nicht schon vorher ein klares Bild von dem definierten Begriff hatte, bleibt nach der Definition noch ratloser zurück als er es zuvor war. Sehr viel nützlicher finde ich da eine Erläuterung, die Antoch gleich eingangs gibt: "Ermutigung (...) zielt auf nichts anderes ab als darauf, dem Entmutigten seine 'Furcht vor einem Misserfolg' (...) zu nehmen" (S. 339).
Hallo Leser, sind Sie noch wach? Dann hätten Sie vermutlich gerne noch erfahren, wie das geht und worauf es dabei ankommt. Doch dazu leider kein Wort.
Der ausführliche Artikel (10 Seiten) von Josef Seidenfuß über "Finalität / Kausalität" ist klar strukturiert und verrät umfassende wissenschaftsgeschichtliche Bildung, hält jedoch großen Sicherheitsabstand vor jeder Art von Praxis. Das einzige Beispiel, das Seidenfuß riskiert, stammt (sicherheitshalber) von Aristoteles: Ein Künstler "hat die Absicht, eine Zeusstatue zu schaffen (= Telos, causa finalis), so greift er zum Meißel (= Woher der Bewegung, causa efficiens) und bearbeitet einen Marmorblock (= Stoff, causa materialis) nach seiner Idee bzw. der ihm vorschwebenden Gestalt der künftigen Statue (= Form, causa formalis)." (S. 157) Das ist wohl alles klug und richtig, was Seidenfuß da schreibt; was aus seinem Artikel aber nicht annähernd spürbar wird, ist die Kraft und Tragweite der finalen Erklärung menschlichen Handelns. Wer das nicht schon als Vorwissen mitbringt, wird es aus diesem Artikel nicht erfahren. Noch weniger erhellend der dreiseitige Artikel "Ziel / Zweck" vom gleichen Autor.
Sehr lesenswert dagegen der 12-seitige Beitrag "Geschichte der Individualpsychologie" von Almuth Bruder-Bezzel. Er zeichnet sorgfältig und kenntnisreich die Abkehr Alfred Adlers von Freuds Psychoanalyse, den Aufbau des Individualpsychologischen Vereins und die "Blütezeit und Bewährung in der Reformbewegung im Roten Wien" nach, aber auch die "erste(n) Zeichen von theoretischer und organisatorischer Stagnation" (S. 198), die noch vor der Zerschlagung der organisierten Individualpsychologie durch den Nationalsozialismus und den Austrofaschismus einsetzten. Knapp, aber informativ behandelt Bruder-Bezzel auch die "Neuorganisation der deutschsprachigen Individualpsychologie nach 1945" und "Internationale Entwicklungen bis zur Gegenwart".
Recht nützlich auch die gut vier Seiten umfassende Erläuterung der "Nahziele" von Elsa Andriessens, die auch anschauliche praktische Beispiele umfasst. Sie erklärt dieses auf Rudolf Dreikurs zurückgehende Modell schlüssig und geht auch auf seine (nicht ganz triviale) Verbindung mit dem Adlerschen Konzept des Lebensstils und der darin enthaltenen "fiktiven Ziele" oder "Fernziele" ein, auch wenn die Erklärung nicht überzeugt, dass der Mensch wegen der Unerreichbarkeit der fiktiven Fernziele "notgedrungen (…) ersatzweise mit ihm erreichbaren, wenn auch immer nur kurzfristig wirksamen Zielen für eine aktuelle Situation vorlieb" nimmt. Schlüssiger ist, was sie zwei Sätze später schreibt: "Sie sind eine Art Notlösung in einer momentanen Belastungssituation und halten in ihrer Wirksamkeit nicht lange vor, vermitteln aber vorübergehend eine Art Genugtuung bei einer im Grunde schwelenden Unzufriedenheit mit sich selbst und seiner sozialen Position." (S. 341)
Ausgerechnet das ausgesprochen schwierige Konstrukt "Männlicher Protest", das ich für mich innerlich längst verworfen hatte, wird von Rainer Schmidt auf drei Seiten sehr klar erläutert. Er beginnt mit einer Definition, die dessen Bedeutung so präzise auf den Punkt bringt wie ich es noch nirgendwo sonst gefunden habe: "Mit männlichem Protest ist eine kulturbedingte Gleichsetzung von Weiblichkeit mit Minderwertigkeit als festgehaltene Erfahrung aus der Kindheit gemeint." (S. 312) So wie Schmidt es darstellt, bekommt der sperrige Terminus tatsächlich einen Sinn und einen Nutzen: "Die als minderwertig angesehene Weiblichkeit wird also protesthaft abgewertet, und zwar ebensosehr von Frauen wie von Männern. Der weiblichen Minderwertigkeit wird das fiktive Ideal einer übertriebenen Männlichkeit, einer männlichen Omnipotenz gegenübergestellt. Frauen wie Männer sind ausgerichtet auf diese 'entmutigende' Fiktion." (S. 313) Der für sich genommen kaum verständliche Terminus entpuppt sich auf diese Weise als glasklare Analyse des Geschlechterverhältnisses um das Jahr 1910, das auch heute noch nachwirkt.
Insgesamt also ein sehr gemischtes Bild, das aber, wie die letzten Beispiele zeigen, neben Schatten auch Licht enthält.
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