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Ein neues Verständnis von Wohlstand – reicht das?

Miegel, Meinhard (2010):

Exit – Wohlstand ohne Wachstum



Propyläen (Berlin); 301 Seiten, 22,95 Euro


Nutzen / Lesbarkeit: 7 / 8

Rezensent: Winfried Berner, 13.01.2011

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Erfreulich, dass ein renommierter Ökonom sich den Kollateralschäden unseres Wirtschaftens stellt und ernsthaft darüber nachdenkt, wie ein Wohlstand ohne Wachstum aussehen könnte – schade, dass er an entscheidenden Stellen nicht konkreter wird.

Da staunt der Leser: Über weite Strecken liest sich dieses Buch, als ob es nicht aus der Feder eines Ökonomen stammte, sondern aus der eines kritischen Ökologen. Seitenweise ist von Luft- und Wasserverschmutzung, von Land- und Rohstoffverbrauch, von Überbevölkerung und Armutsmigration die Rede, und die "Grenzen des Wachstums" schimmern eindringlich durch jede Zeile. Offenbar ist Meinhard Miegel auf seine alten Tage die Endlichkeit unseres Planeten in die Knochen gefahren, die viele seiner Kollegen weiterhin beharrlich ignorieren, so als ob es sich dabei um eine unfaire Behinderung des freien Spiels der Kräfte handelte. (Kurioserweise kritisieren ihn manche Altlinke dafür, als ob es unmoralisch wäre, sich in seinem Denken weiterzuentwickeln, und gebärden sich so als Konservative, die beleidigt sind, wenn ihre Feindbilder sich bewegen.)

Die Gretchenfrage, an der sich die Geister in Ökonomie und Politik heute scheiden, lautet, ob man die Belastbarkeit unseres ökologischen "Trägersystems" ungestraft ignorieren kann (und sie damit implizit als unendlich groß unterstellt) oder ob man sie anerkennt und daraus Konsequenzen zieht. Spätestens mit diesem Buch ist der wertkonservative Miegel eindeutig in das letztere Lager gewechselt.

Allerdings bringt es dies mit sich, dass Miegel über weite Strecken Erkenntnisse wiedergibt, die für ihn offenbar neuer sind als für Leser, die sich mit solchen Fragen schon beschäftigt haben. Er tut dies in erzählerischem Plauderton, was zwar den Vorteil leichter Lesbarkeit hat, aber den Nachteil, dass die analytische Untermauerung des zentralen Arguments, dass eine Wirtschaft ohne Wachstum sowohl notwendig als auch möglich sei, auch nicht belastbarer ist als in vielen anderen einschlägigen Veröffentlichungen. Auch er appelliert eher an Plausibilität und Common Sense als eine harte, analytische Beweisführung für seine zentrale These vorzulegen. 

Ich will das nicht zu hart kritisieren; vermutlich erreicht Miegel mit seinen Büchern ja ein Publikum, das sich bislang noch wenig mit diesen Aspekten unseres Lebens und Wirtschaftens befasst hat. Trotzdem schränkt es den Nutzwert dieses Buchs für Leser ein, die sich mit den Grenzen des Wachstums schon beschäftigt haben: Man liest halt im Wesentlichen die gleichen Argumente in gefälliger Aufbereitung noch mal – und macht sicherlich keinen Fehler, wenn man diese Abschnitte etwas "dynamischer" liest. Ich habe mir jedenfalls außergewöhnlich wenige Aussagen und Passagen angestrichen, weil sie für mich Zusammenhänge neu herstellten oder sie wenigstens prägnant formulierten. 

Manchmal ist Miegel im Ausbreiten der Befunde auch etwas unkritisch, wenn sie nur ins Bild passen: "13 Prozent der Acht- bis Elfjährigen beklagen in Deutschland, dass ihre Eltern zu wenig Zeit für sie haben, bei den Kindern erwerbstätiger Alleinerzieher sind es sogar 35 Prozent." (S. 142) Nun sind erstens 13 und selbst 35 Prozent nicht extrem viel, signalisieren diese Zahlen doch im Umkehrschluss, dass 87 Prozent aller Kinder und selbst 65 Prozent derer von erwerbstätigen Alleinerziehern kein Problem sehen, was die Verfügbarkeit ihrer Eltern betrifft. So gesehen, sind die 13 Prozent sogar ein extrem niedriger Wert. Denn wenn wir davon ausgehen, dass die "Kinder erwerbstätiger Alleinerzieher' eine Teilmenge aller Kinder sind und damit in den Durchschnitt von 13 Prozent eingegangen sind, würde das ja bedeuten, dass das beklagte Problem bei allen übrigen Kindern kaum existent sein kann, damit als Durchschnitt die 13 Prozent herauskommen. Ich vermute, wenn man Acht- bis Elfjährige fragte, ob in den Ferien oft genug die Sonne geschienen hat, würde man höhere Unzufriedenheitswerte feststellen – und ich wäre nicht überrascht, wenn auch hier die Prozentsätze bei den Kindern erwerbstätiger Alleinerzieher höher wären. Und zweitens gilt halt auch schon für Kinder, dass im Leben nicht alle Wünsche in Erfüllung gehen. Aber das Argument passt ins wertkonservative Weltbild: Eltern müssen so viel wie möglich für ihre Kinder da sein; also ist schlecht für sie, wenn sie zu viel Zeit mit Arbeit zubringen. (Mich würde sehr interessieren, welche Ergebnisse herauskämen, wenn man den Mut hätte, die Frage "zweiseitig" zu stellen, also auch die Antwortmöglichkeit zuließe, dass Eltern aus Sicht der Kinder zu viel Zeit für sie haben. Aber dieser Gedanke passt so wenig in das vorherrschende Weltbild, dass Befragungen diese Möglichkeit von vornherein ausschließen.) 

Am spannendsten fand ich den letzten Teil von Miegels Buch "Wie wir besser leben können". In diesen Kapiteln skizziert er einen veränderten Lebensstil, der – auf einer gesicherten materiellen Basis ruhend – das Materielle nicht mehr so sehr in den Mittelpunkt stellt, sondern sich, im Grunde ganz im Sinne eines wertkonservativen Bildungsbürgertums, auf geistige Dinge – Kultur, Kunst, Natur, aber auch auf gesellschaftliche und soziale Beziehungen – konzentriert. In der Tat zeigen ja sowohl die Glücksforschung als auch die Lebenserfahrung, dass zwar der Mangel an Geld und einer ausreichenden materiellen Basis unglücklich machen kann, dass aber ab einem gewissen Niveau eine immer weitere Steigerung von Einkommen und Konsum kaum noch zu Zufriedenheit und Glück beiträgt. Ein Zuwachs an Lebensqualität ist dann eher auf einem "postmateriellen" Weg möglich, also etwa über Lernen, Kultur und soziale Beziehungen, aber auch durch einen eigenen nutzbringenden Beitrag zur Gemeinschaft, der wiederum Sinn und Befriedigung in das eigene Leben bringen kann. 

Sein Fazit: "Jetzt muss ein neues Gleichgewicht hergestellt werden zwischen der Zahl der Menschen und ihren materiellen Ansprüchen einerseits und den Kapazitäten der Erde und den menschlichen Fähigkeiten andererseits. Für die Völker der frühindustrialisierten Länder bedeutet das, dass ihr materieller Lebensstandard vorerst nicht mehr steigen, sondern eher sinken wird. Doch das muss kein Wohlstandsverlust sein, wenn die Menschen wieder lernen, was ihnen während des längsten Teils ihrer Geschichte wohl bewusst war. (…) Eigentlicher, menschenspezifischer Wohlstand –das ist bewusst zu leben, die Sinne zu nutzen, Zeit für sich und andere zu haben, für Kinder, Familienangehörige, Freunde. Eigentlicher, menschenspezifischer Wohlstand – das ist Freude an der natur, der Kunst und dem Schönen, dem Lernen; das sind menschengemäße Häuser und Städte …" (S. 246f.) 

So sympathisch mir diese Sichtweise – sicherlich auch aufgrund ihrer Verwandtschaft zu meinem eigenen Weltbild – ist, eine durchaus fundamentale Frage stellt Miegel nicht: Nämlich, ob das reicht, um einen Lebensstil ohne eine weitere Ausplünderung des Planeten und ohne Überbelastung nachfolgender Generationen zu gewährleisten. Die Frage, wie viel Konsum "genug" ist, kann ja nur jeder für sich selbst beantworten – und dabei könnte sich leicht herausstellen, dass in Summe weit mehr als 100 Prozent des für das Ökosystem Erträglichen herauskommt, erst recht, wenn man diese Rechnung nicht nur für die relativ wohlhabenden Länder aufmacht, sondern für die gesamte Menschheit. Jeder Versuch der Bevormundung führt hier aber in massivste Konflikte, von denen sich Rechts- und Linksparteien ebenso reichhaltig ernähren können wie "antiimperialistische" Bewegungen und Diktaturen. 

Und noch eine weitere Frage stellt Miegel nicht, und zwar, welche ökonomischen Auswirkungen es hätte, wenn weite Teile der "frühindustrialisierten Länder", wie er sie nennt, ihren Konsum auf ein umweltverträgliches Maß herunterführen. Dass die Statistiker dann dauerhaft niedrigere oder negative Wachstumszahlen ausweisen würden, wäre dabei wahrscheinlich das geringste Problem – das wäre eher eine ästhetische Irritation für Ökonomen und Politiker, die sich daran gewöhnt haben, nur Zahlen größer als Zwei für "gut" zu halten. Aber hinter den Statistiken stecken ja nicht nur abstrakte Volkswirtschaften, sondern Menschen, die ein Erwerbseinkommen brauchen, weil sie mangels Masse nicht von ihrem Vermögen leben können. Und da es uns bislang nicht gelungen ist, die Befreiung vom Joch der Arbeit sozialverträglich zu organisieren, stellt sich zwangsläufig die Frage, wie wir mit einer Dauer-Rezession sowie der dann wohl unvermeidlichen Deflation und deren Folgen leben könnten. Das heißt keineswegs, dass dies unmöglich ist, aber es heißt wohl, dass noch viel an gesellschaftlicher und ökonomischer Konzeptentwicklung erforderlich ist, wenn sich die neue Normalität nicht auf dem Weg über eine lange und chaotische Krise herausbilden soll. An dieser Stelle hätte ich mir mehr Vor-Denkarbeit von dem profilierten Ökonomen Meinhard Miegel erhofft. 

Insofern ist "Exit" sicherlich keine abschließende Antwort auf die Frage, wie ein "Wohlstand ohne Wachstum" aussehen und wie er erreicht werden könnte, aber zumindest einmal ein Beginn einer gedanklichen Auseinandersetzung mit der wohl wichtigsten Herausforderung, vor der die Menschheit in diesem Jahrhundert steht.

Schlagworte:
Wirtschaftswachstum, Volkswirtschaft, Weltwirtschaft, Makroökonomie, Zukunft, Grenzen des Wachstums, Ökologie

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