Das "Opus summum" von Ed Schein, dem Nestor der Unternehmenskultur, in dem er die Ergebnisse seiner jahrzehntelangen Forschung in strukturierter, gut lesbarer Form zusammenfasst. Als Einführung zu komplex, aber Pflichtlektüre für Fortgeschrittene.
Edgar H. Schein, 1928 in Zürich geboren und als Jugendlicher über Odessa nach Chicago emigriert, war Sloan Fellow Professor of Management am Massachusetts Institute of Technology (MIT). Aus der Human Relations-Bewegung um Douglas McGregor und Dick Beckhard kommend, war er einer der ersten, der sich mit dem Thema Organisationskultur auseinandergesetzt hat. In seinem langen Forscherleben hat er das Denken dieser jungen Disziplin geprägt: Kaum eine Veröffentlichung zum Thema, die nicht auf Scheins Gedanken und Konzepte zurückgreift.
Sieht man sich die Struktur seines Buchs genauer an, fällt auf, wie wenig Raum Schein darin der Veränderung von Unternehmenskultur widmet: Nur der vierte der fünf Teile handelt davon, "How Leaders Can Manage Culture Change"; das sind 66 von 400 Seiten (ohne Register). Selbst wenn man den fünften Teil über "New Roles for Leaders and Leadership" mit 38 Seiten dazu rechnet, macht das in Summe kaum mehr als ein Viertel seines voluminösen Werks aus.
Scheins Schwerpunkt ist nicht das Verändern, sondern das Beschreiben, Erklären und Verstehen von Kultur – wobei schon der Titel deutlich macht, dass Schein Unternehmenskultur in enger Verbindung mit Führung sieht. Den ersten Teil seines Buchs verwendet er erst einmal ganz klassisch-akademisch darauf, Unternehmenskultur und Führung zu definieren. Der umfangreiche zweite Teil behandelt "The Dimensions of Culture", und der dritte "The Leadership Role in Building, Embedding, and Evolving Culture" – abermals ein Hinweis auf den hohen Stellenwert, den Scheint der Führung beimisst, was sich noch einmal im fünften Teil bestätigt.
Doch aus dieser ständigen Betonung des Aspekts der Führung wird am Ende Einseitigkeit. Ohne jeden Zweifel ist Führung ein wichtiger Einflussfaktor auf Unternehmenskultur, sowohl wenn es um ihr Verstehen als auch wenn es um ihr Verändern geht. Trotzdem halte ich es für falsch und irreführend, diesen einen Einflussfaktor so herausgehoben aufs Podest zu stellen, als ob er der Einzige wäre, die für das Entstehen und die Veränderung von Kultur eine Rolle spielte.
Denn daneben gibt es zahlreiche andere wichtige Einflussfaktoren, wie beispielsweise die Markt- und Wettbewerbsbedingungen, unter denen sich ein Unternehmen behaupten muss (und auf die Schein so gut wie gar nicht eingeht), die Strukturen, Prozesse und Systeme, die eben nicht nur Ausfluss der Kultur sind, sondern auch Einfluss auf sie nehmen, und nicht zuletzt die vielfältigen positiven und negativen Anreize, die sich aus den gesamten Rahmenbedingungen ergeben, von der regionalen Lage eines Unternehmens über bauliche Bedingungen bis hin zu gesetzlichen Vorgaben. So macht es, um nur ein Beispiel zu nennen, einen Unterschied für die Kultur, ob ein Unternehmen in einem Ballungsraum liegt, sodass sich die Mitarbeiter und Führungskräfte nach Feierabend in alle Himmelsrichtungen zerstreuen, oder in einer ländlichen Region, wo sie sich auch privat ständig begegnen: Beim Einkaufen, beim Frisör, im Sportverein und im Wartezimmer des Zahnarzts.
Auch untersucht Schein nach meiner Auffassung zu wenig, in welchem Ausmaß der "Führer" (Leader) wirklich autonomer Gestalter der Unternehmenskultur ist und in welchem Ausmaß primär der Vermittler der Markt- und Wettbewerbsanforderungen nach innen. Hier scheint mir Schein auch in der vierten Neuausgabe seines Buchs noch erstaunlich geprägt von seinen 40 Jahre zurückliegenden Begegnungen mit der Digital Equipment Company (DEC) und ihrem ebenso charismatischen wie exaltierten Gründer Ken Olson. Doch er berücksichtigt mir dabei zu wenig die geschäftlichen Rahmenbedingungen, die Olsons eigenwilligen Führungsstil ermöglichten und begünstigten, nämlich die frühe Blüte der Computerindustrie, in der DEC den Bereich der Midrange-Systeme etliche Jahre mit immer neuen Innovationen dominierte. Doch als der Markt sich von einem innovations- in ein kostengetriebenes Geschäft verwandelte, kam DEC in zunehmende Schwierigkeiten, weil Olson sich weigerte oder außerstande war, die veränderten Anforderungen nach innen zu transportieren, und wurde schließlich schwer angeschlagen und schmachvoll von dem PC-Hersteller Compaq übernommen. Das kann man als Beleg dafür sehen, wie wichtig Führung ist; andererseits ist es auch ein Hinweis darauf, dass Unternehmen und mit ihnen ihre Kulturen aussterben, wenn ihre Führer zu viel innere Unabhängigkeit gegenüber den Forderungen von Markt und Wettbewerb an den Tag legen.
In gewisser Weise ist das charakteristisch für Scheins Ansatz: Er geht ausgesprochen phänomenologisch an seinen Gegenstand heran: Er beschreibt und unterscheidet akribisch, wie sich Kulturen beispielsweise in ihrem Verständnis von Wirklichkeit und von Wahrheit unterscheiden (Kapitel 7), in ihrem Umgang mit Raum und Zeit (Kapitel 8), oder in ihrem Verständnis der menschlichen Natur, Aktivität und Beziehungen (Kapitel 9). Er nähert sich der Kultur auch hermeneutisch, indem er etwa erklärt, wie gemeinsame Welt- und Menschenbilder zur Vermittlung von Handlungssicherheit und zur Bekämpfung von Angst beitragen. Und aus diesen Betrachtungen kann man viel lernen, auch und gerade als "Fortgeschrittener", der mit dem Thema Unternehmenskultur schon ein Stück weit vertraut ist.
Aber viel zu wenig stellt er in meinen Augen den Bezug zum Geschäft her, das heißt zu den Erfolgsfaktoren, die in der jeweiligen Branche und Wettbewerbsposition über Erfolg oder Misserfolg entscheiden. Mir kommt das oft so vor, als ob Schein die Kultur einer Fußballmannschaft erforschen würde, ohne sich die Frage zu stellen, worauf es bei diesem Spiel eigentlich ankommt und welche Rahmenbedingungen und Restriktionen sich daraus für ihr Agieren ergeben. Ohne diesen "Geschäftsbezug" bleiben viele Phänomene unverständlicher als sie sein müssten; es fehlt ihnen das Fundament, auf dem sie aufbauen, der Zweck, auf den sie bezogen sind. Dagegen bekommen die Ausprägungen einer Kultur auf einmal einen Sinn und eine Logik, wenn man sie als Anpassung an die "ökologische Nische" versteht, die das jeweilige Unternehmen in seinen Märkten besetzt.
Auch Scheins Ansatz zur Kulturveränderung überzeugt mich nicht wirklich. Er mutet, obwohl Schein seit vielen Jahrzehnten in den USA lebt und lehrt, seltsam "europäisch-idealistisch" an: Schein setzt sehr stark auf Belehrung und Bekehrung, vor allem im oberen und obersten Management, verzichtet aber auf jedes systematische Umsetzungskonzept. Er zieht weder eine Anpassung der Rahmenbedingungen des Handelns, wie etwa der Mess-, Steuerungs- und Beurteilungssysteme, in Betracht noch eine Neuausrichtung der Führung über alle Ebenen hinweg. Insgesamt scheinen die Details der Umsetzung einer Kulturveränderung eher nicht sein Thema zu sein.
Entweder hofft er darauf, dass schon die Einsicht eine dauerhafte Verhaltensänderung auslösen werde, oder er vertraut darauf, dass das Top Management für solche Umsetzungsmaßnahmen von sich aus sorgen werde, wenn es die geschäftlichen Notwendigkeiten verstanden hat. Beides halte ich nach meiner Erfahrung für ausgesprochen unrealistische Annahmen. Kein Wunder daher, dass Schein in der Nachbetrachtung seiner Fallstudien zu dem Ergebnis kommt, dass es zwar einige Anpassungen des Verhaltens gegeben habe, die Kultur in ihrem Kern sich aber kaum verändert habe.
Trotz dieser Kritik ist dieses Buch absolute Pflichtlektüre für alle, die tiefer in das Thema Unternehmenskultur einsteigen wollen, zumal es klar gegliedert und – auch für Non-Natives – sehr gut lesbar geschrieben ist. Für Einsteiger dürfte es zu komplex und in seiner Fülle der Details zu verwirrend sein; jeder Fortgeschrittene oder Fortschreitende auf dem Gebiet der Unternehmenskultur muss diesen "modernen Klassiker" gelesen haben, auch um sich daran reiben und sich so daran fortentwickeln zu können. Aber auch, um mit Respekt und Hochachtung sehen zu können, was dieser Pionier der Unternehmenskultur-Forschung aus seinem Metier gemacht und wie sehr er das gesamte Denken und Handeln unserer Zunft damit geprägt hat.
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