Menschen gehen oft den Weg des geringsten Widerstands und wählen, was ihnen nahegelegt wird. Viele Entscheidungen lassen sich daher ohne jeden Zwang beeinflussen, indem man die richtigen Anstöße gibt. Thaler und Sunstein zeigen, wie das funktioniert.
Dank der psychologischen Entscheidungsforschung und der Behavioral Economics wissen wir inzwischen ziemlich viel darüber, wie Menschen entscheiden und zu welchen systematischen Fehlern sie dabei neigen. Aber was machen wir mit diesen Erkenntnissen? Bislang war ihre wichtigste Anwendung die, das eigene Entscheidungsverhalten zu reflektieren und zu versuchen, die typischen Fehler nicht mehr – oder nicht mehr ganz so sehr – zu machen. Ein wichtiges komplementäres Anwendungsfeld eröffnen nun der renommierte Verhaltensökonom Richard H. Thaler und sein Kollege Cass R. Sunstein, der ebenfalls an der University of Chicago lehrt, aber an der Law School.
Wir treffen ja nicht nur selbst Entscheidungen, sondern beeinflussen in vielen Fällen auch die Entscheidungen anderer, etwa, indem wir Alternativen präsentieren, Angebote machen und Empfehlungen geben. Damit sind wir, wie Thaler und Sunstein es nennen, "Choice Architects", was sich nur etwas sperrig ins Deutsche übersetzen lässt, etwa als "Gestalter von Wahlmöglichkeiten". Das gilt ganz besonders für Politiker, Verwaltungen, Unternehmensleitungen, Personalabteilungen – letztlich aber auch für viele andere, etwa den Chef der Kantine, der mit seinem Angebot und dessen Präsentation erheblichen Einfluss sowohl auf die Leistungsfähigkeit der Belegschaft am Nachmittag nimmt als auch – auf längere Sicht – auf deren Gesundheit und die Fehlzeiten.
Und ähnlich wie man nicht "nicht kommunizieren" kann, wenn man mit anderen Menschen zusammen ist, ist es auch unmöglich, keinen Einfluss auf ihre Entscheidungen zu nehmen, wenn man – etwa durch die Gestaltung des Angebots – an ihrem Entscheidungsprozess beteiligt ist: "There is no such thing as a 'neutral' design." (S. 3) Was auch immer beispielsweise der Kantinenchef tut, er beeinflusst damit das Ernährungsverhalten der Belegschaft. Dieser Verantwortung kann man sich nicht entziehen, indem man, um nur ja keinen Einfluss zu nehmen, sämtliche denkbaren Alternativen minutiös und ohne jede Wertung auflistet. Damit würde man massiven und möglicherweise fatalen Einfluss auf die Entscheidung der Adressaten nehmen, denn angesichts der unüberschaubaren Komplexität würden die meisten Menschen in diesem Fall erst einmal gar keine Entscheidung treffen, sondern die Sache verschieben – möglicherweise für immer.
Thaler und Sunstein vertreten in ihrem Buch einen, wie sie es nennen, "libertarian paternalism": Sie wollen Menschen ihre volle Entscheidungsfreiheit lassen, und es ihnen deshalb leicht machen, sich anders zu entscheiden als empfohlen, ihnen aber zugleich Anstöße geben, sich möglichst sinnvoll zu entscheiden, das heißt so, wie es ihrem eigenen langfristigen Interesse entspricht. "Nudge" steht für Anstoß, Impuls, Schubs: "A nudge, as we will use the term, is any aspect of the choice architecture that alters people's behavior in a predictable way without forbidding any options or significantly changing their economic incentives. To count as a nudge, the intervention must be easy and cheap to avoid. Nudges are not mandates. Putting the fruit at eye level counts as a nudge. Banning junk food does not." (S. 6)
Wichtige Nudges sind etwa, welche Alternativen überhaupt zur Wahl stehen und wie sie präsentiert werden, welche Fragen im Entscheidungsprozess gestellt und welche Entscheidungshilfen angeboten werden, vor allem aber, was der "Default Value" ist, das heißt der Standardwert, der zur Geltung kommt, wenn jemand keine andere Entscheidung trifft (oder seine Entscheidung verschiebt oder verschludert). So macht es etwa einen riesigen Unterschied, ob Arbeitnehmer bei der Aufnahme einer Beschäftigung, wenn sie nicht bewusst eine andere Wahl treffen, standardmäßig der gesetzlichen Krankenversicherung zugewiesen werden oder gar keine Krankenversicherung haben. Oder ob sie Zuschüsse ihres Arbeitsgebers für ihre Alterssicherung automatisch erhalten oder nur dann, wenn sie explizit einen entsprechenden Versicherungsvertrag abschließen.
Besonderen Bedarf für Entscheidungshilfen im Sinne eines liberalen Paternalismus' haben wir bei Entscheidungen, die komplex sind, mit denen wir wenig Übung haben und bei denen wir ein Feedback entweder gar nicht oder erst mit erheblicher zeitlicher Verzögerung erhalten. Thaler und Sunstein machen das am Beispiel der Eistheke deutlich: Dort erhalten wir ein sehr rasches Feedback, ob wir eine gute Wahl getroffen haben, sind mit mäßiger Komplexität konfrontiert, und die meisten von uns haben schon in jungen Jahren genügend Übung, um zu wissen, was ihre bevorzugten Optionen sind. Für solche Entscheidungen brauchen wir keine "Nudges" – das bekommen wir auch so hin. Am anderen Ende der Skala stehen komplexe Entscheidungen, deren Konsequenzen wir allenfalls teilweise überschauen, und bei denen wir erst mit erheblicher zeitlicher Verzögerung ein Feedback erhalten, wie gut unsere Wahl unseren Bedürfnissen entsprochen hat. Dazu zählt etwa die Berufswahl, die Wahl der Krankenversicherung oder die Alterssicherung.
Voraussetzung dafür, die richtigen Anstöße und Impulse zu geben, ist, zu verstehen, welchen systematischen Entscheidungsverzerrungen Menschen unterliegen – was soviel heißt wie: Vor welchen Fehlern sie nach Möglichkeit bewahrt werden müssen. Deshalb fassen die Autoren in den ersten Kapiteln noch einmal den aktuellen Forschungsstand der Behavioral Economics zusammen – und geben dem Leser so eine kompakte und anschauliche Zusammenfassung der modernen Entscheidungsforschung.
Plausibel ist dabei die Erklärung, die Thaler und Sunstein für bekannte Fehlertendenzen wie den Ankereffekt oder die Verfügbarkeitsverzerrung geben: Sie sehen darin vereinfachende Faustregeln, die unser Gehirn nutzt, um mit der Vielzahl der im Alltag notwendigen Entscheidungen überhaupt zurande zu kommen. So erklärt sich wohl auch der "Status-Quo-Bias", das heißt die allzu menschliche Tendenz, alles so zu lassen, wie es ist: Das spart Zeit und vereinfacht den Alltag, auch wenn wir uns so möglicherweise mit Lösungen zufrieden geben, die weit unter dem Optimum liegen. Fatal ist diese Beharrungstendenz bei Weichenstellungen, die langfristig zu unserem Nachteil sind, gleich ob es dabei um schädliche Ernährungsgewohnheiten geht oder um unzureichende Rücklagen fürs Alter. Hier könnten wir zuweilen einen Schubs gebrauchen.
Zwei weitere Einflussfaktoren stellen Thaler und Sunstein vor, die uns zu suboptimalem Verhalten verleiten können: Zum einen gedankenloses Handeln, zum anderen Herdenverhalten. So manche Schale mit Nüssen verschwindet, mancher Teller wird leergegessen, nicht, weil wir Hunger haben, sondern weil etwas vor uns steht und wir es verzehren, während wir in Gedanken bei etwas ganz anderem sind (und der Hersteller möglicherweise eine Handvoll Geschmacksverstärker zugegeben hat). Im Angesicht der Versuchung fehlt uns häufig die Selbstkontrolle und Selbstdisziplin, um unseren übergeordneten Interessen Vorrang vor unseren Automatismen zu geben.
Zudem richten wir uns oft stärker, als uns bewusst ist, an dem aus, was andere tun: "We like to conform." (S. 55) Das gilt besonders, wenn wir uns nicht sicher sind – aber es beeinflusst uns selbst dann, wenn wir sicher sind. Oft reicht als wirksamer Impuls zu einer Verhaltensänderung schon die Information darüber, was andere tun. Beispielsweise beeinflusst es den eigenen Stromverbrauch, zu erfahren, wie hoch er im Vergleich zu ähnlichen Haushalten ist. Allerdings gilt das in beide Richtungen: Wer erfährt, dass er weniger verbraucht als andere, dessen Verbrauch steigt tendenziell an. Außer – und hier wird es richtig spannend – er bekommt seine Verbrauchsrückmeldung nicht bloß als Vergleichszahl, sondern in Verbindung mit einem strahlenden Smiley, der ihm bestätigt, besonders gut zu sein: Dann besteht keine Rückfallgefahr.
Ein zentrales Instrument des "Nudging" besteht darin, den Weg des geringsten Widerstands möglichst sinnvoll zu gestalten. Denn die meisten Menschen wählen bei komplexen Entscheidungen, die sie nicht überschauen, gleich ob es die Installation einer Software ist oder die Wahl der betrieblichen Altersversorgung, einfach die Option, die ihnen angeboten oder nahegelegt wird. Deshalb kann man durch eine sinnvolle Wahl der Standardeinstellungen (default values) viel tun, um gerade die Entscheidungen unerfahrener Menschen zu verbessern. Wobei hier zuweilen ein Interessenkonflikt besteht: Die optimale Entscheidung für den Nutzer oder die für den Anbieter? Bei Software, merken die Autoren an, entsprechen die Standardeinstellungen für deren Betrieb meist den Interessen der Nutzer, die für den Bezug von Newslettern, Updates und Zusatzangeboten denen der Anbieter.
Wichtig im Sinne ihres "liberalen Paternalismus'" ist, dass es für den Nutzer mit wenig Mühe verbunden ist, eine andere Entscheidung zu treffen als den Default Value. Nur dann ist es die Vorgabe nur ein Anstoß und keine Bevormundung. Den Adressaten die völlig freie Wahl zu lassen oder ihnen zwingend eine Entscheidung abzuverlangen, ist in vielen Fällen nicht die bessere Alternative: Jeder, der es einmal versucht hat oder dazu gezwungen war, weiß, welche Ratlosigkeit und Verzweiflung man empfindet, wenn man sich zwischen Alternativen entscheiden muss, deren Bedeutung und Konsequenzen man nicht versteht – und hinterher unvermeidlich die Befürchtung hat, einen folgenschweren Fehler gemacht zu haben. Nur Dogmatiker könnten diese nutzlose Qual als wünschenswerten Zugewinn an Freiheit betrachten.
Zum Abschluss des ersten Teils stellen Thaler und Sunstein weitere Prinzipien einer guten "Choice Architecture" vor: Das Strukturieren komplexer Entscheidungen zum Beispiel durch Leitfragen, die sich an der Denkweise der Nutzer orientieren und beim Ausschließen unsinniger Alternativen helfen; das Veranschaulichen von Alternativen durch die Darstellung der jeweiligen Ergebnisse (wie etwa das Übersetzen von Megapixeln in maximal mögliche Ausdruckformate); das rasche Vermitteln von Feedback und das Erhöhen der Sichtbarkeit von Ergebnissen. Denn wenn wir beispielsweise nur einmal im Jahr erfahren, wie hoch unsere Stromrechnung ist, ist es extrem schwierig, Klarheit darüber zu gewinnen, wo im eigenen Haushalt oder Betrieb die Stromfresser sitzen, und es ist auch kaum möglich herauszufinden, welchen Effekt Einsparmaßnahmen gebracht haben. Auf diese Weise werden Optimierungsmaßnahmen indirekt entmutigt – vermutlich einer der Gründe dafür, weshalb das Energiesparen nicht vorankommt, obwohl es sowohl individuell als auch gesellschaftlich die billigste und wirksamste Lösung wäre.
Fast den gesamten Rest ihres Buches verwenden Thaler und Sunstein darauf, ihre Leitgedanken auf unterschiedliche Lebensbereiche anzuwenden: Auf "Money" mit Überlegungen zur Alterssicherung, zur Geldanlage und zur sozialen Sicherung (Teil II), auf "Health" mit Anregungen zur Krankenversicherung, Organspende und "Saving the Planet" (Teil III) und auf "Freedom" (Teil IV), worunter sie neben Vorschlägen zur Schulwahl auch einen detaillierten Vorschlag zur Privatisierung der Ehe ("Privatizing Marriage") fassen. Der abschließende Teil V enthält 12 weitere Nudges, die Auseinandersetzung mit den wichtigsten Einwänden sowie ein kurzes "Schlussplädoyer", überschrieben "The Real Third Way".
Die meisten dieser Überlegungen und Vorschläge sind sehr auf amerikanische Verhältnisse zugeschnitten, sodass eine unmittelbare Übertragung auf Europa kaum möglich ist. Unnütz finde ich sie trotzdem keineswegs: Man sollte sie ähnlich wie Fallstudien als Übungsbeispiele nutzen, um sich mit dem Denkansatz, der Methodik und den Auswirkungen unterschiedlicher Gestaltungsoptionen vertraut zu werden. Ob man den Autoren am Ende bei all ihren Aussagen – einschließlich der Privatisierung der Ehe – folgt, ist nicht entscheidend: Man sollte ein Buch nicht darin messen, ob man seinen Autoren in allen Punkten zustimmt, sondern daran, ob es einen gedanklich weiterbringt. Und das kann ich Thaler und Sunstein für meinen Teil vorbehaltlos bescheinigen.
Nur eines habe ich vermisst: Eine kritische Reflexion, wo die Grenzen eines liberalen Paternalismus' liegen. Aus meiner Sicht finden sie ihre Grenze zum einen bei Handlungsweisen, die anderen Menschen schaden oder sie in Gefahr bringen (wie Alkohol am Steuer), zum anderen bei all den Fällen, wo Akteure nicht gedankenlos, sondern wohlüberlegt handeln, um sich Vorteile zu verschaffen. "Nudges" können unaufmerksame Steuerzahler dazu veranlassen, rechtzeitig ihren Lohnsteuerjahresausgleich zu beantragen, aber sie werden bewusst handelnde Steuerhinterzieher kaum dazu bewegen, ihr unversteuertes Schwarzgeld zu deklarieren.
Für wen ist "Nudge" zu empfehlen? Am wenigsten wohl für Leser, die vor allem ihre eigenen Entscheidungen überprüfen und verbessern wollen. Für sie enthält das Buch zwar auch Anregungen, aber eher sporadisch und zumeist indirekt – das erklärt wohl auch einige enttäuschte Leserrezensionen bei Amazon. Ausgesprochen empfehlenswert ist es hingegen für alle, die – sei es als (Change) Manager oder als Berater, als Verwalter oder als Politiker – Einfluss auf die Gestaltung von Entscheidungsprozessen und -strukturen für andere Menschen haben. Sie können aus "Nudge" nicht nur lernen, dass eine geeignete "Choice Architecture" in vielen (wenn auch nicht in allen) Fällen eine gute – und wirksame – Alternative zu Vorschriften sein kann, sondern auch, dass es ihre Chance, aber auch ihre Verantwortung ist, Entscheidungsprozesse so zu gestalten, dass es den jeweiligen Adressaten möglichst leicht gemacht wird, zu guten Ergebnissen zu kommen. Gerade beim Thema Kulturveränderung kann man die Macht der Umstände überhaupt nicht überschätzen – hier liegt der Schlüssel dazu, "die Umstände" sinnvoll zu gestalten.
Das Buch ist mittlerweile auch in deutscher Übersetzung verfügbar. Da der englische Text aber sehr gut lesbar geschrieben ist und weitgehend ohne Slang und Fachvokabular auskommt, kann man sich bei brauchbaren Englischkenntnissen ruhig an das Original halten, statt sich auf schlecht bezahlte und deshalb nicht immer sehr sorgfältige Übersetzer zu verlassen.
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