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Die Faszination von Großgruppen – und ihr Nutzen

Hinnen, Hannes; Krummenacher, Paul (2012):

Großgruppen-Interventionen

Konflikte klären – Veränderungen anstoßen – Betroffene einbeziehen

Schäffer Poeschel (Stuttgart); 253 Seiten + DVD; 49,95 Euro


Nutzen / Lesbarkeit: 10 / 9

Rezensent: Winfried Berner, 29.01.2013

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Kompakte Einführung, die nicht nur Hintergrundwissen und methodische Anleitung bis hinein in konkrete Drehbücher von Großgruppenkonferenzen vermittelt, sondern auch deren emotionale Dimension für Teilnehmer und Prozessbegleiter erschließt.

Seit langem schon faszinieren mich Großgruppen als Instrument des Change Managements. Nicht aus einer prinzipiellen Methodenbegeisterung, die sich bei mir eher im Rahmen hält – mich fasziniert, dass sie die Perspektive bieten, gleich zwei kritische Engpässe im Change Management zu beheben oder zumindest zu reduzieren: Das der Schnelligkeit und das der "emotionalen Synchronisierung".

Denn leider ist Change Management oft ziemlich langsam. Nicht, weil wir Change Manager Schnarchnasen wären, sondern weil soziale Prozesse ihre Zeit brauchen. Trotzdem mag ich mich nicht mit dem Szene-Spruch abfinden: "Es dauert solange wie es dauert." Von dem Konzept Time-Based Competition, mit dem BCG in den neunziger Jahren sehr erfolgreich war, habe ich gelernt, dass man dramatische Beschleunigungen erzielen kann, wenn man sich weigert, für selbstverständlich zu halten, was alle Fachleute für selbstverständlich halten – und dass außerdem die größten Zeitgewinne nicht dadurch erzielt werden, dass man schneller arbeitet, sondern dadurch, dass man "tote Zeiten" aus der Aufgabenbearbeitung herausnimmt.

Der zweite Engpass ist fast noch kritischer als das Tempo: Er liegt in der Schwierigkeit, in großen Organisationen einen breiten Konsens herzustellen, geschweige denn ein gemeinsames Wollen. Denn die entstehen, so wie wir Menschen gestrickt sind, nur durch gemeinsames und damit verbindendes Erleben. Mit einer Workshopreihe, bei der in 10 oder 20 Veranstaltungen ein paar hundert Mitarbeiter oder Führungskräfte erreicht werden, kann man zwar eine Menge über eine Organisation erfahren, und man kann mit den jeweiligen Teilnehmern erarbeiten, was getan werden müsste – aber es entsteht keine gemeinsame Erfahrung quer über alle Gruppen hinweg und deshalb auch keine Aufbruchsstimmung. Jeder weiß zwar, was in seinem Workshop geschehen ist, aber er hat nicht erlebt, wie die anderen Workshops verlaufen sind. Infolgedessen entsteht auch kein Vertrauen in das gesamte Vorhaben und entsprechend wenig Energie, die Sache gemeinsam anzupacken.

Die Leitidee, "das ganze System in einen Raum zu holen", ist eine faszinierende Alternative: Wenn das gelingt, bringt es auf der Zeitachse eine erhebliche Beschleunigung, weil aus dem Hintereinander von Workshops, Auswertung und Kommunikation eine Gleichzeitigkeit wird. Zugleich entsteht in dem Prozess ein gemeinsames Wissen darüber, wie alle anderen Beteiligten denken und fühlen, und daraus im besten Fall eine gemeinsame Energie, die bewirkt, dass die Veränderungen eine Eigendynamik entfalten, statt mühsam angeschoben und durchgesetzt werden zu müssen.

Zwei erfahrene Schweizer "Grossgrüppler", Hannes Hinnen und Paul Krummenacher, haben nun ein Buch vorgelegt, das mehr ist als eine fundierte und zugleich faszinierende Einführung – es ist zugleich eine Ermutigung zur Arbeit mit großen Gruppen. Ihre ungebrochene Begeisterung für wie auch ihr ungebrochener Respekt vor Großgruppen spiegelt sich in der ungewöhnlichen Gliederung ihres Buchs wider. Es besteht aus vier Teilen: "Staunen", "Wissen", "Machen" und "Standhalten". Um "Wissen" und um "Machen" geht es auch anderswo, aber "Staunen" und "Standhalten" – das ist ungewöhnlich. Es macht deutlich, dass die Arbeit mit Großgruppen nicht nur eine fachlich-technische Seite hat, sondern auch eine emotionale – nicht nur für die Teilnehmer, sondern auch für die Moderatoren. Auch für sie gibt es Phänomene, "über die wir uns immer wieder und immer noch wundern", schreiben Hinnen und Krummenacher in ihrer Vorbemerkung. "Wir beschreiben, was passiert, können aber nicht immer erklären, warum es passiert." (S. IX) Am Erstaunlichsten ist wohl die Tatsache, dass aus all dem gedanklichen, emotionalen und politischen Durcheinander, dass im Verlaufe eines Großgruppenprozesses oftmals erst so richtig zu Tage tritt, und aus der heillosen Komplexität der unzähligen Themenfäden am Ende doch meist ein tragfähiger Konsens erwächst.

Als wertvollsten Teil ihres Buches bezeichnen die Autoren selbst den vierten: "Standhalten". Schon im ersten Teil hatten sie klar und mutig "die Einsamkeit der Prozessbegleitung" als eine der großen Herausforderungen beim Namen genannt (S. 21). Sie erfordert auch das Zulassen von Krisen und das Aushalten der emotionalen Achterbahn solcher Prozesse. Diesen Faden nehmen sie im vierten Teil wieder auf und sprechen über "Grenzen", über "Demut" und über "Vertrauen". An praktischen Beispielen illustrieren sie, dass eine Großgruppenkonferenz etwa dann an seine Grenzen stößt, wenn die Führung nicht hinter dem Prozess steht oder zu schwach ist, wenn keine "Wir-Frage" vorliegt, also keine Frage, die alle Teilnehmer gemeinsam betrifft, wenn der Handlungsspielraum zu klein ist oder wenn Tabuthemen nicht angesprochen werden dürfen. Respekt verdient, dass sie dies an Fehlern verdeutlichen, die sie selbst gemacht haben. Was sie mit der bemerkenswerten Feststellung resümieren: "Unsere Grenzen sind wir selber." (S. 200)

Das führt fast zwangsläufig zur Rolle und dem Selbstverständnis der Moderatoren oder Prozessbegleiter. Glasklar machen sie deutlich: "Wir haben keine Ergebnis- und keine Inhaltsverantwortung" (S. 199). Das ist keine Flucht vor der Verantwortung, sondern erfüllt eine doppelte Funktion: "Das Loslassen von Inhalts- und Ergebnisverantwortung durch die Prozessbegleitung schafft Raum für die Übernahme von Verantwortung durch die Struktur, die Zeiten und den Prozess als Gesamtes." (S. 202) Zugleich nehmen sie damit in gewisser Weise die Teilnehmer in die Pflicht: "Diese 'Arbeitsteilung vermittelt den Teilnehmenden in kurzer Zeit Vertrauen in den Prozess, aber auch das Vertrauen in sie als Gruppe. Das vielleicht nicht einmal bewusst wahrgenommene Gefühl, 'Wir sind die Experten', 'Wir können das' ermöglicht das Freisetzen und Ausbreiten von Energien." (S. 202f.) Im Grunde kann man diese konsequente Nichteinmischung in die Inhalte als wichtige Ermutigung für die Teilnehmer sehen: "Die trauen (und muten) uns das zu – also sollten wir es uns auch selber zutrauen!"

Mit "Demut" bringen Hinnen und Krummenacher ihr Selbstverständnis zum Ausdruck, sich in den Dienst der Sache zu stellen – "die Bereitschaft dafür, das, was in einem System steckt, auch wenn es im Verborgenen liegt, zu respektieren. Wir akzeptieren damit, dass ein System schon weiß, was gut für es ist, sofern es den Stakeholdern gelingt, sich mit dem partiellen Wissen der Einzelnen auseinanderzusetzen und diese zu vernetzen." (S. 202) Fast beiläufig erwähnen sie eine wichtige Konsequenz dieses Gedankens: "An die Stelle von 'Was will der Kunde?' tritt 'Was braucht das System?'" (S. 202)

Beeindruckend ist, welches Vertrauen die beiden Großgruppen-Profis in die inhärente Weisheit sozialer Systeme haben: "Im Grunde stehen sich hier zwei interaktiv wirkende Vertrauenskomplexe gegenüber: Das Vertrauen der Prozessbegleitung gegenüber sich, dem Prozess, der Methodik, den anwesenden Teilnehmenden, dem System und die Selbstorganisation sowie das Vertrauen der Teilnehmenden in sich als Gruppe, in die eigene Energie; in die Fähigkeit, die Zukunft selbst und aktiv mitgestalten zu können; die Sinnhaftigkeit ihrer Anstrengungen und natürlich auch das Vertrauen in die Prozessbegleitung. Dieses Vertrauen verleiht einem Klärungs- oder Entwicklungsprozess Stabilität und Kraft. Beides sind Ressourcen, die auch nach der Großgruppenkonferenz dem positiven Prozess bis zu einem gewissen Grad Schutz verleihen und ihm dienlich sind." (S. 203)

Umfangreiche Informationen zu Theorie und Praxis der Großgruppenarbeit enthalten die beiden mittleren Teile. Im "Wissen" geht es um Geschichte und Entwicklung der Arbeit mit großen Gruppen, um die Verwandtschaft von Großgruppen und Mediation und ihre Integrierbarkeit, (spannend zum Beispiel für Beteiligungsprozesse bei öffentlichen Großprojekten), darum, was unter Partizipation zu verstehen ist (und was nicht), um die "Weisheit der Vielen" und schließlich darum, dass ihr Ziel (und häufiges Ergebnis) nicht ein Kompromiss ist, sondern ein Konsens, etwas "gemeinsam erarbeitetes Neues", das genau deshalb "ein solides Fundament für die darauf aufbauenden Lösungen" ist (S. 66).

Im Teil "Machen" stellen Hinnen und Krummenacher dann die fünf gängigsten Methoden der Großgruppenarbeit vor: Zukunftskonferenz, Real-Time Strategic Change (RTSC), Open Space, World Café und Appreciative Inquiry. Es erleichtert den Vergleich, dass sie die Grundformen nach einem einheitlichen Raster vorstellen, nämlich (1) Herkunft der Methode, (2) Grundmodell, (3) Anpassungen der letzten Jahre, (4) Musterbeispiel und (5) Würdigung. Als zusätzliche Großgruppenmethoden stellen sie universell einsetzbare Instrumente wie soziometrische Aufstellungen sowie "kreative Interventionen" vor, von Improvisationstheater über das Modellieren mit Lehm bis zu Märchen und Symbolik. Ausgesprochen hilfreich auch, dass sie zum Abschluss dieses Teils ausführlich auf Prozessarchitektur und Veranstaltungsdesigns eingehen – was durch die zahlreichen Modelldrehbücher im knapp 50 Seiten umfassenden Anhang sehr praxisnah ergänzt ist.

Nach dem Durcharbeiten dieses Buchs ist man zwar noch nicht zum kompetenten "Grossgrüppler" geworden; das wird man wohl nur durch die reale Erfahrung. Aber man hat das theoretische Rüstzeug dafür, einen reichlich gefüllten Werkzeugkoffer und zumindest eine Vorahnung von der emotionalen Dimension. Was dank Hinnens und Krummenachers direkter und gelassener Art nicht einschüchternd oder abschreckend wirkt, sondern neugierig macht – und ein wenig mit jener Faszination ansteckt, die die beiden Autoren selbst offenkundig für ihr Lebensthema empfinden.

Schlagworte:
Großgruppenkonferenzen, Großgruppenveranstaltungen, Zukunftskonferenz, Real Time Strategic Change, Open Space, World Cafe, Appreciative Inquiry, Prozessarchitektur

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