Unbedingt lesen! Unsere Lebensumstände werden sich in den nächsten 20 Jahren grundlegend verändern, weil unsere heutige Lebensform an ihre Grenzen stößt. Eine Schlüsselrolle spielen dabei die versiegenden Quellen der Primärenergie.
Dieses Buch habe ich verschlungen – und das sagt natürlich ebenso viel über mich wie über dieses Buch. Schon seit langem bin ich auf der Suche nach einem Denkansatz, der die gegenwärtigen Krisenfelder der Weltwirtschaft (Überschuldung, Überalterung, Ungleichheit, Wachstumszwang) mit der Endlichkeit unseres Ökosystems und unserer natürlichen Ressourcen von Luft über Land bis Wasser auf eine schlüssige Weise zusammenbringt. Chris Martensons "Crash Course" leistet das auf eindrucksvolle Weise – und fügt, wie der Untertitel deutlich macht, noch den Aspekt der Energie als dritte Schlüsselvariable hinzu. Seine zentrale Botschaft ist, dass die Welt sich in den nächsten 20 Jahren grundlegend verändern wird – was zu dramatischen Verwerfungen ebenso führen wird wie zu neuen Chancen. Er vermittelt die Gründe dafür auf eine sehr systematische, klare und bemerkenswert unaufgeregte Art und Weise.
Der Autor des "Crash Course" Chris Martenson hat einen durchaus eigenwilligen Lebensweg. Er ist promovierter Pathologe, machte danach einen MBA und wechselte ins Management eines Unternehmens, wo er bis zum Vice President aufstieg. Er hatte den "American Dream" verwirklicht, mit Familie, großem Haus mit Seeblick, Auto und Boot, doch seiner Zweifel an dieser Lebensform wurden umso größer, je mehr er sich mit den Gründen und Hintergründen des "Bärenmarkts" Anfang der 2000-er Jahre beschäftigte – bis er schließlich seinen gut bezahlten Job aufgab, um den Dingen auf den Grund zu gehen. Das tut er seither mit wissenschaftlicher Akribie und rigorosem Denken, und parallel dazu begann er, seine Erkenntnisse und Überlegungen zu verbreiten. Daraus entstanden Seminare, die Website www.peakprosperity.com und, als Kurzform seiner Seminare, sein "Crash Course", den es sowohl als kostenloses Online-Video als auch in Form dieses Buches gibt.
Und es ist wirklich ein Crash Course, was er hier vorlegt, und zwar in mehrfacher Hinsicht: Zum einen ist es eine sehr systematische und zugleich ausgesprochen dichte Analyse zentraler Problemfelder, mit denen die Welt konfrontiert ist und von denen jedes einzeln reichen würde, um die Problemlösungskapazitäten der internationalen Wirtschaft und Politik aufs Äußerste zu fordern. Ein Crash Course ist es aber auch für das Bewusstsein der Leser, deren Zukunftserwartungen es, je nachdem, wie viele Vorkenntnisse sie mitbringen, unter Umständen in ihren Grundfesten erschüttert. Denn wenn Martenson recht hat, wird unsere Zukunft ganz sicher nicht aus einer Fortschreibung der Vergangenheit auf weiter wachsendem Komfortniveau bestehen. Vielmehr müssten wir uns dann darauf gefasst machen, dass sich unsere Lebensumstände, ob uns das gefällt oder nicht, grundlegend verändern werden. Und zwar ganz einfach deshalb, weil es so, wie es seit Jahrzehnten läuft, nicht weitergehen wird, weil wir immer härter an die Grenzen einer endlichen Welt stoßen.
Martenson arbeitet in seinem Buch folgende Problemkreise heraus, die in den nächsten Jahren unabwendbar auf uns zurollen:
- Die Überschuldung vieler Industriestaaten, die bei einem Zinsanstieg oder einem Rückgang der Steuereinnahmen überaus bedrohlich wird und nur noch bei einem Wirtschaftswachstum zurückgeführt werden könnte, das es wohl nicht mehr geben wird. Die gefährlichsten Staaten sind dabei nicht Griechenland oder Portugal, sondern Japan und die USA.
- Der Versuch, das Finanzsystem durch Notenbankgeld zu retten und die lahmende ökonomische Entwicklung mit einer Ausweitung der Geldmenge in Gang zu bringen, löst kein Wirtschaftswachstum aus; die "Great Credit Bubble" gebiert nur eine "Asset Bubble".
- Die demographische Entwicklung hat zur Folge, dass in den Industriestaaten immer mehr Menschen bei wachsenden Gesundheitskosten nicht mehr erwerbstätig sind und ihre Ersparnisse allmählich aufzehren.
- Fehlende Rücklagen sowohl bei Individuen als auch in den Sozialsystemen bewirken – zumindest in den USA –, dass das vorhandene Vermögen nicht ausreicht, um auf die Dauer den persönlichen Bedarf bzw. die zugesagten Auszahlungen zu leisten. Das trifft wohl auch auf die Pensionszusagen vieler staatlicher Rentenfonds sowie Großunternehmen zu.
- Trotz der angeblich sensationellen Schiefergasvorräte der USA gehen die fossilen Energievorräte dieser Erde zur Neige. Das trifft insbesondere auf Erdöl zu, welches die fast exklusive Energiequelle für unsere Mobilität ist: Wir scheinen das viel beschworene Peak Oil erreicht zu haben.
- Fruchtbare Böden und sauberes Wasser gehen ebenfalls zuneige, desgleichen viele Rohstoffe. Was hart mit dem weiteren Wachstum der Weltbevölkerung kollidiert.
Natürlich sind die meisten dieser Erkenntnisse nicht neu. Chris Martensons Verdienst ist vor allem, dass er sie zusammenbringt und konsequent ihre Wechselwirkungen durchdenkt. Seine ökonomische Analyse stimmt in vielen Aspekten mit dem von mir hoch geschätzten konservativen Analysten John Mauldin ("Endgame", siehe Rezension) überein, nur dass Mauldin die Welt wegen der Notwendigkeit zum Abbau der Überschuldung in einem "Secular Bear Market" sieht, während Martenson grundsätzlicher auf die Lage schaut und den inhärenten Zwang unseres Finanzsystems zum Wachstum bei gleichzeitiger Unmöglichkeit eines exponentiellen Wachstums betont.
Auch dass das Ökosystem sich seinen Grenzen nähert und sie vielleicht auch schon überschritten hat, ist spätestens seit den aktualisierten "Grenzen des Wachstums" keine neue Nachricht mehr – auch wenn offenbar nur den Wenigsten bewusst ist, in welchem Ausmaß die Intensivlandwirtschaft zu einer dauerhaften Vernichtung fruchtbarer Böden und nutzbaren Wassers führt.
Die volle Tragweite dieser Entwicklungen versteht man indes erst, wenn man sie zusammenbringt und ihre Verbindung mit der Energiethematik sieht. Denn solange man ausreichend Wasser und Kunstdünger hinzugibt, kann man auf fast toten Böden Nahrungsmittel produzieren. Wenn man aber begreift, dass die Erzeugung von einem Kilogramm Kunstdünger etwa ein Kilogramm Diesel erfordert und der Betrieb von Bewässerungssystemen in aller Regel auch Energie kosten, bekommt der Gedanke an das bevorstehende Ende der billigen Energie etwas Ungemütliches. Denn die Böden, die über Jahre mit Kunstdünger und Pestiziden ausgebeutet wurden, sind kein lebeniger Humus mehr, sondern stark geschädigt und zum Teil völlig kaputt.
Überhaupt ist es vor allem die Energie, die – wenigstens für mich – zum Schlüssel für das Verständnis der Zusammenhänge wird. Unsere Wirtschafts- und Lebensweise ist in jeder Hinsicht auf billige Energie gebaut: Ob es die Mobilität ist oder die preisgünstige Erzeugung von Produkten aller Art, ob es Großkonzerne oder internationale Handelsbeziehungen sind, fast alles steht und fällt mit der scheinbar unbegrenzten Verfügbarkeit kostengünstiger Energie. Martenson veranschaulicht das mit einem einprägsamen Bild: Man stelle sich vor, so schlägt er vor, sein Auto mit einer Gallone Benzin (also etwa 3,8 Liter) zu betanken und damit zu fahren, solange der Sprit reicht – und alsdann das Auto wieder nach Hause zurückzuschieben. Das Beispiel macht klar, dass uns Energie als – extrem billiges – Sustitut für menschliche Arbeit dient, das uns das Leben und Arbeiten in vielfältiger Weise erleichtert, sozusagen als eine Heerschar universal verfügbarer, pflegeleichter Discount-Sklaven.
Dummerweise hat die Menschheit den Fehler gemacht, mit diesen spottbilligen Energiesklaven so leichtlebig und verschwenderisch umzugehen wie es ihr niedriger Preis nahelegt. Auf diese Weise haben wir in nicht einmal hundert Jahren einen Großteil der fossilen Energiereserven aufgebraucht, die auf der Erde in 200 Millionen Jahren entstanden sind. Die Nachwelt wird uns dafür wohl einmal "das verantwortungslose Zeitalter" nennen und es für Wahnsinn halten, das ungeheuer wertvolle und vielfältig einsetzbare Erdöl einfach zu verheizen.
Aber nun gehen die fossilen Energiereserven zur Neige – und das wird vermutlich ziemlich schnell gehen. Denn "Peak Oil" (und desgleichen "Peak Gas" und "Peak Coal") ist nicht etwa, wie ich bislang geglaubt hatte, der Scheitelpunkt einer Kurve, die sich ebenso gleichmäßig abflacht wie sie sich zuvor aufgebaut hat. Denn natürlich hat die Menschheit als Erstes die fossilen Brennstoffe abgebaut, die leicht zugänglich und mit geringem Aufwand zu erschließen waren. Was im Umkehrschluss heißt: Der Abbau wird zunehmend aufwändiger – was wiederum gleichbedeutend damit ist, dass immer mehr Energie eingesetzt werden muss, um die gleiche Energiemenge zu gewinnen. Infolgedessen ist die "Netto-Energieausbeute" rapide rückläufig. Da wir aber allein von der Netto-Energie zehren, sind Aussagen über noch vorhandenen Energiereserven, die sich auf die Brutto-Energiemengen beziehen, ebenso nutzlos wie irreführend.
Mit diesen preiswerten Energiesklaven steht und fällt aber auch alles andere: Unsere Fähigkeit, aus schlechten Böden und in Trockenregionen in großer Menge Menge Nahrungsmittel zu produzieren, unsere Fähigkeit, Rohstoffe abzubauen, die ebenfalls mit zunehmender Erschöpfung der Lagerstätten immer mehr Energie erfordert, ja selbst unsere Fähigkeit, Rohstoffe durch Recycling zurückzugewinnen, weil das ja in der Regel auch mit erheblichem Energieeinsatz einhergeht. Damit ist aber zugleich eine notwendige Voraussetzung für weiteres Wirtschaftswachstum in Frage gestellt, weil das ja sowohl zusätzliche Rohstoffe als auch zusätzliche Energie erfordern würde. Und damit wiederum die Voraussetzung für die Rückzahlung der angehäuften Schulden und – jetzt wird es endgültig ungemütlich – für die Stabilisierung unterfinanzierter Gesundheits- und Alterssicherungssysteme.
Wer keine grundlegenden gedanklichen oder faktischen Fehler in Martensons Analysen entdeckt – und das ist mir nicht gelungen –, kann sich seiner zentralen These kaum verschließen, dass die nächsten 20 Jahre fundamental anders aussehen werden als die letzten 20 Jahre. Und es wird einen das Gefühl beschleichen, dass es unter diesen Umständen vielleicht nicht verkehrt wäre, sich ein bisschen vorzubereiten auf die Veränderungen, die da kommen werden oder zumindest mit einer deutlich oberhalb von Null liegenden Wahrscheinlichkeit kommen könnten. Denn, wie Martenson treffend herausarbeitet, die Risikoverteilung ist asymmetrisch: Wenn man sich vorbereitet hat, und die große Krise tritt nicht ein, steht man ein bisschen blöd da und hat vielleicht ein wenig Geld vertan, aber ansonsten ist nicht viel verloren. Möglicherweise hat man davon sogar auf anderen Feldern einen Nutzen, beispielsweise in Form besser vernetzter Sozialbeziehungen. Tritt die Krise hingegen ein und man hat nichts getan, dann ist man, auf bayerisch gesagt, wirklich der Depp.
In den letzten drei Kapiteln geht Martenson daher auf die Frage ein, wie eine sinnvolle Vorbereitung aussehen kann. Das zentrale Prinzip heißt für ihn, Resilienz zu entwickeln, das heißt die Fähigkeit, von einschneidenden Veränderungen nicht umgeworfen zu werden. Wie hart würde uns zum Beispiel eine Vervierfachung der Treibstoffpreise, ein längerer Stromausfall oder eine Störungen der Lebensmittel- oder der Wasserversorgung treffen? Martenson macht deutlich, dass es ein großer Unterschied ist, ob man in solchen Fällen völlig handlungsunfähig ist oder nur teilweise – und dass Vorbereitungen deshalb "both necessary and insufficient" sind. Gerade für einen Amerikaner finde ich bemerkenswert, dass er seinen Fokus dabei nicht allein auf das Individuum (und allenfalls seine Familie) richtet, sondern auf die "Community". In diesem Buch sind die möglichen Maßnahmen nur skizzenhaft umrissen, aus denen man sich sein Programm letzten Endes selbst zusammenstellen muss. Sehr viel mehr dazu findet sich auf seiner Website www.peakprosperity.com.
Unter dem Strich ist das wohl eines der wichtigsten Bücher, das ich je gelesen habe – nicht, weil ich alles blind unterschreiben und fortan als Martenson-Jünger durchs Leben wandeln werde, sondern weil Martenson besser als jeder andere mir bekannte Autor das Zusammenwirken von ökonomischen, energetischen und ökologischen Krisen durchdacht hat – und es trotzdem schafft, daraus eine positive Perspektive für das eigene Handeln zu entwickeln. Seltsamerweise fühle ich mich jetzt, wo das Gesamtbild klarer ist als ich es jemals zuvor hatte, nicht bedrückt, sondern erleichtert: Nun, wo ich besser verstehe (oder zu verstehen glaube), was auf uns zukommt, kann ich weiter vertiefen, was ich besser verstehen möchte, und vor allem kann ich entscheiden, welche konkreten Strategien ich auf dieser Basis entwickeln und umsetzen will.
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