Ein völlig neuer, faszinierender Blick auf Katastrophen: Sie haben keine klar abgrenzbaren Auslöser, sondern sind die Entladung aufgebauter Spannungen – Kettenreaktionen, deren Ausmaß, Zeitpunkt und Verlauf prinzipiell unvorhersehbar ist.
Mit diesem ebenso lesbaren wie lesenswerten Buch gibt Mark Buchanan, ein promovierter theretischer Physiker, uns Laien einen Einblick die Theorie der Katastrophen: Weshalb sie sich ereignen und vor allem, nach welcher Logik sie entstehen und verlaufen. Dazu muss man wissen: Wenn Mathematiker und Physiker von Katastrophen reden, meinen sie nicht ganz das Gleiche wie wenn Journalisten und Politiker es tun. Zwar sprechen beide über plötzliche, einschneidende Ereignisse, die eine große zerstörerische Kraft entfalten – wie zum Beispiel Lawinen, Erdbeben, Waldbrände, Börsencrashs, Kriege – und eine schwer gezeichnete Landschaft hinterlassen. Aber wo Politiker "schrecklich", "furchtbar" oder auch mal "exorbitant" stöhnen, sagen Naturwissenschaftler: spannend, erklärungsbedürftig, eine Herausforderung für die Forschung.
Deshalb ist "Ubiquity" kein Doom&Gloom-Buch, das den Teufel erst an die Wand und dann mit diabolischer Liebe zum schrecklichen Detail ausmalt, sondern es ist Wissenschaftsjournalismus – und zwar einer, wie man ihn sich besser kaum wünschen kann: Ein Buch, das nicht nur interessant und lehrreich ist, wie es oft so blutleer heißt, sondern dem Leser einen völlig neuen Blick auf Katastrophen jeglicher Art erschließt und seine Sicht darauf grundlegend – und vielleicht für immer – verändert. Und das noch dazu glänzend geschrieben ist.
Beeindruckend ist, wie breit Buchanans Perspektive ist und wie kenntnisreich und souverän er nicht nur über Lawinen und Erdbeben schreibt, die natürlich ein Heimspiel für Physiker sind, sondern beispielsweise auch über Artensterben, Wissenschaftsgeschichte und gesellschaftliche Konflikte. Das tut er auf sehr klare, verständliche Weise: Nicht bedeutungsvolles Geraune und Buzzword-Geklingel, wie es manche postmoderne "Universalgelehrte" pflegen, um sich mit einer Aura von Allwissenheit zu umgeben, sondern mit dem Anspruch, dass diese Dinge jeder verstehen kann, wenn sie nur gut genug aufbereitet werden.
Buchanan erliegt dabei keineswegs der Gefahr, komplexe soziale Prozesse politisch naiv mit Vorgängen in der unbelebten Natur gleichzusetzen. In gewisser Weise tut er das Gegenteil: Er zeigt auf, dass auch bei Lawinen, Erdbeben und Waldbränden mehr oder weniger zufällig zustande gekommene Kleinigkeiten ("frozen accidents") einen prägenden Einfluss auf den gesamten weiteren Verlauf der Entwicklung nehmen können. Das hat auch zur Konsequenz, dass es keinen einheitlichen, vorhersagbaren Verlauf der Entstehung und des Ablaufs von Katastrophen gibt, gleich welcher Art sie sein mögen: Die Geschichte wiederholt sich nicht. Eine der wichtigsten Lehren aus seinem Buch ist denn auch: "History matters".
Um die Eigendynamik von Katastrophen experimentell untersuchen zu können, ist es notwendig, gnadenlos zu vereinfachen: Die Komplexität der Realität ist einfach zu groß, um sie in vernünftiger Weise abbilden und kontrollieren zu können. Ob diese Vereinfachungen heillos an der komplizierten Wirklichkeit vorbei gehen oder ob sie ihr gerecht werden, lässt sich anschließend recht einfach daran überprüfen, ob und wie gut sie mit den realen Daten übereinstimmen. Und das tun diese vereinfachten Modelle immer wieder erstaunlich gut – was den Schluss nahelegt, dass nur wenige Parameter zählen, während es auf die meisten Details gar nicht ankommt.
Ein Schlüsselexperiment zum besseren Verständnis von Katastrophen ist die Computersimulation eines Sandhaufens, durch das Hinzufügen von immer weiteren einzelnen Sandkörnern immer weiter wächst. Wenn die Hangflanken des Haufens auf diese Weise immer steiler werden, kann jedes neu hinzugefügte Sandkörnchen eine Lawine auslösen – aber es lässt sich weder vorhersagen, welches der vielen Körnchen der Auslöser sein wird, noch, wie groß die entstehende Lawine werden wird: Manche lösen nur kleine, kaum erkennbare lokale Anpassungen aus, andere gar nichts, aber einige wenige stoßen Kettenreaktionen an, die einen Zusammenbruch der bisherigen Strukturen nach sich ziehen. Nichts fasst diese fundamentale Ungewissheit besser zusammen als die Aussage eines Forschers, den Buchanan später im Bezug auf Erdbeben zitiert: "An earthquake when it begins does not know how big it is going to be." (S. 61)
Diese, wie Buchanan darlegt, prinzipielle Unbestimmbarkeit bedeutet indes keineswegs, dass man überhaupt nichts weiß und dass Katastrophen wie Blitze aus heiterem Himmel völlig überraschend über uns hereinbrechen. Auch wenn der genaue Auslöser und Zeitpunkt einer Katastrophe ebenso wenig vorhersehbar sind wie deren Ausmaß, so weiß man doch zweierlei: Erstens dass das Ausmaß von Katastrophen in einem umgekehrten Verhältnis zu ihrer Häufigkeit steht, zweitens dass deren Wahrscheinlichkeit umso größer ist, je mehr Instabilität und Spannung sich im System aufgebaut hat.
Katastrophen jedweder Art sind nicht normalverteilt, wie man vielleicht vermuten würde; ihre Verteilung folgt dem Potenzgesetz ("power law"), das heißt einer Exponentialfunktion mit einer Neigung, die für unterschiedliche Umfelder unterschiedlich, aber jeweils eine Konstante ist. Daraus ergibt sich, dass Extremereignisse zwar umso seltener sind, je größer sie werden, aber längst nicht so selten wie es bei einer Normalverteilung der Fall wäre. Daher die charakteristischen "Fat Tails", also die für "Gaußianer" unerklärlich häufigen Extremereignisse, die sowohl für Borsenkurse wie für Hochwässer charakteristisch sind.
Der Grund dafür ist, dass es sich bei Katastrophen nicht um Zufallsschwankungen innerhalb eines Gleichgewichtszustands handelt, sondern um Zustände des Ungleichgewichts: Innerhalb des Sandhaufens befinden sich nicht immer die gleiche Zahl von Sandkörnchen in einem instabilen Zustand, sondern es sind mal mehr, mal weniger – vor einer großen Lawine sind es meist sehr viele, danach deutlich weniger. Und je länger sich keine Lawine gelöst hat, desto größer ist das Ungleichgewicht und damit die Instabilität des ganzen Haufens.
Wenn man in dem virtuellen Sandhaufen die einzelnen Körnchen danach markiert, wie stabil oder instabil sie gerade liegen, sieht man, dass anfangs nur einzelne Sandkörner instabil sind, später eine wachsende Zahl kleinerer Bereiche, bis schließlich der ganze Haufen von "Fingern der Instabilität" durchzogen ist. Immer größere und zusammenhängendere Teile befinden sich dann in einem "kritischen Zustand", in dem jedes kleinste Ereignis ein "Umkippen" auslösen kann – aber eben nicht muss. Das heißt, mit fortschreitender Instabilität kann es sehr schnell gehen, bis eine Lawine entsteht, es kann aber auch noch geraume Zeit dauern, und in seltenen Fällen sogar sehr lange. Wobei die Frage, was davor geschah und welche "frozen accidents" sich ereignet haben, massiven Einfluss auf den Fortgang der Ereignisse hat: Wenn ein Teilbereich schon abgerutscht ist, steht er für die nächste Lawine eben nicht mehr zu Verfügung. "History matters" – sogar im Sandhaufen!
Das Modell lässt sich auf Erdbeben übertragen: Durch die Kontinentaldrift bauen sich Spannungen an den "Reibeflächen" der Erdplatten auf, die sich früher oder später entladen; teils in den unzähligen kleinen und kleinsten Erdbeben, teils in größeren, und zuweilen, wenn sich weite Teile der Plattenränder in kritischem Zustand befinden, in großen und verheerenden Beben. Auch Erdbeben folgen dem Potenzgesetz: Es gibt eine ziemlich klare exponentielle Relation zwischen ihrer Stärke und ihrer Seltenheit (bzw. zwischen ihrer Schwäche und ihrer Häufigkeit).
Zum ersten Mal ernsthaft die Stirne gerunzelt habe ich, als Buchanan daran ging, diese Logik auch auf Waldbrände zu übertragen: Da kann man doch nicht einfach Fläche mit Fläche gleichsetzen, dachte ich mir, da spielen doch auch unzählige andere Dinge eine Rolle, von Bewuchsdichte über Feuchtigkeit bis zum Waldzustand. Tun sie wahrscheinlich auch, aber es spielt keine wirkliche Rolle, sagen die Zahlen: Gegen den empirischen Nachweis des Potenzgesetzes ist schlecht argumentieren. Offensichtlich können in instabilen Systemen viele Einzelheiten vernachlässigt werden; es ändert sich allenfalls der Gradient der Potenzfunktion.
Aber die Waldbrand-Geschichte birgt noch weitere wichtige Erkenntnisse: Offensichtlich ist die Annahme falsch, dass natürliche Systeme immer im Gleichgewicht sind bzw. sich von sich aus in einen Gleichgewichtszustand begeben. Vielmehr gibt es offenkundig auch den Fall einer "self-organized criticality", also einer ohne fremde Eingriffe entstehenden wachsenden Instabilität. Buchanan nennt auch die Bedingung dafür: "Self-organized criticality seems to show up only in things that are driven very slowly away from equilibrium, and in which the actions of any individual piece are dominated by its interactions with other elements." (S. 80)
So vorbereitet, ist man nicht mehr allzu überrascht, wenn Buchanan sich mit seinem Potenzgesetz aufmacht, auch (manche) im engeren Sinne biologische Vorgänge zu untersuchen und zu erklären. Ein eindrucksvolles Beispiel ist das Artensterben – nicht das aktuelle, von uns Menschen ausgelöste, sondern jene Massenauslöschungen (mass extinctions), die es gleich vier Mal in der Erdgeschichte gab. Der Untergang der Dinosaurier zum Beispiel fällt, soweit es sich mit dem Abstand von ein paar Millionen Jahren sagen lässt, mit der Kollision der Erde mit einem gewaltigen Meteor zusammen. Also lag es nahe, diesen Meteoriteneinschlag für die Ursache ihres Aussterbens zu halten. Das Problem mit dieser Theorie ist nur, dass es drei andere prähistorische Massenauslöschungen gab, für die kein Meteor und auch keine andere vergleichbare Katastrophe aufzufinden ist. Das beweist zwar nicht zwingend, dass der Zusammenhang des Sauriertods mit dem Meteoriteneinschlag nicht existiert, aber es hinterlässt dennoch Fragezeichen.
Wie Buchanan zeigt, gibt es eine einfachere Erklärung, nämlich – Überraschung! – das Potenzgesetz. Die Zahl der Arten auf der Erde ist ja nicht konstant; auch ohne menschliches Zutun sterben in der Geschichte ständig Arten aus, und es entstehen neue. Und natürlich geschieht das nicht mit einer konstanten Jahresrate, sondern es gibt starke Schwankungen – und vor allem Kettenreaktionen, bei denen das Verschwinden einer Art auch den Tod etlicher anderer nach sich zieht. Da es bei solchen Prozessen ganz offensichtlich nicht um Gleichgewichtszustände handelt, sondern um sich aufschaukelnde Ungleichgewichte, überrascht es nicht, dass sie ebenfalls dem Potenzgesetz folgen: In der Erdgeschichte gab es unzählige kleine, etliche mittlere und einige große Katastrophen. Das schließt die Mitwirkung von Meteoriten nicht aus; sie sind aber als "letzte Ursache" nicht notwendig – und wohl auch nicht hinreichend: Etliche andere Meteoriteneinschläge, die es in der Erdgeschichte gab, waren zwar regionale Katastrophen, haben aber keine Massenauslöschungen bewirkt.
Auch auf intellektuelle Erdbeben lässt sich die Katastrophentheorie anwenden. Gestützt auf Thomas Kuhns "The Structure of Scientific Revolutions" legt Buchanan dar, dass wissenschaftlicher Fortschritt immer mit Spannungen zwischen neuen Erkenntnissen und den herrschenden Lehrmeinungen einhergeht, die vom derzeitigen wissenschaftlichen Mainstream gepflegt werden: "In a nutshell, it is intellectual friction that holds the network of ideas in place, and intellectual curiosity that puts it under stress. These two influences play against one another as do frictions and the relentless driving pressure of continental drifts in the case of earthquakes. And it is this competition that leads to the critical state and the power law for scientific revolutions." (S. 207)
Nicht immer sind das gleich wissenschaftliche Revolutionen; in der Vielzahl der Fälle geht es um Fortentwicklungen in Einzelaspekten. Doch wo immer ein Wissenschaftler ein kleines lokales Beben auslöst, indem er ein altes Konzept durch ein besseres neues ersetzt, weiß er nicht und kann er nicht wissen, was er damit an Folgeeffekten auslöst. Man darf sich da nicht von der Rückschau täuschen lassen: Als Max Planck und Albert Einstein ihre Theorien entwickelten, war ihnen keineswegs klar, welche Erdbeben sie damit in ihrer Disziplin auslösen würden. Sie rissen mit ihren Erkenntnissen zunächst nur eine Ecke am Gebäude der Wissenschaft ein und bauten sie neu auf, doch niemand konnte zu diesem Zeitpunkt ahnen, wie sehr dieses Gebäude zu diesem Zeitpunkt bereits von "Fingern der Instabilität" durchzogen war, mit der Folge, dass große Teile davon gleich mit einstürzten.
Von da ist nur noch ein kleiner Schritt, die Katastrophentheorie auf die Geschichte anzuwenden. Und tatsächlich lässt sich zeigen, dass zum Beispiel die Größe von Kriegen, gemessen in der Zahl der Toten, ebenso dem Potenzgesetz folgt wie etwa die Häufigkeit, mit der wissenschaftliche Artikel zitiert werden. Plakativ fragt Buchanan, ob der Erste Weltkrieg nicht stattgefunden hätte, wenn der Attentäter in Sarajewo vorbeigeschossen wäre, oder ob der Zweite Weltkrieg zu vermeiden gewesen wäre, wenn Adolf Hitler "had been strangled in his crib" (S. 223). Doch vermutlich hatten sich zu diesem Zeitpunkt in beiden Fällen bereits so viele "Finger der Instabilität" ausgebreitet, dass auch viele andere "Sandkörnchen" eine Lawine hätten auslösen können.
Doch auch wenn sich so viele Spannungen aufgebaut hatten, dass früher oder später ein kleiner Funke genügte, um eine Explosion auszulösen, wäre der Lauf der Geschichte dann wohl in unvorhersagbarer Weise ein anderer geworden: "History matters". Insofern ist es ein interessanter und (für mich) überzeugender Gedanke, dass nicht "große Persönlichkeiten" die Geschichte prägen, sondern dass erst die kritischen Zustände, die sich in bestimmten historischen Situationen aufgebaut haben, einzelnen Menschen die Chance geben, zu "historischen" Persönlichkeiten zu werden, indem sie den Gang der Geschichte – den Verlauf der Lawine – mitprägen.
Mark Buchanan geht es in seinem Buch nicht darum, alles, was ihm vor die Flinte kommt, mit Gewalt unter das Regiment des Potenzgesetzes zu zwingen. Vielmehr will er deutlich machen, dass Ungleichgewichtszustände quer über die unterschiedlichsten Fachgebiete große Gemeinsamkeiten haben: Das Anwachsen von Spannungen, bis ein kritischer Zustand erreicht ist, in dem Kleinigkeiten genügen können, um eine eruptive Dynamik auszulösen, welche wiederum schließlich in eine Neuordnung mit deutlich reduzierter Instabilität mündet. Denkmodelle, die auf dem Paradigma des Gleichgewichts aufbauen, wie beispielsweise die Normalverteilung oder die "Efficient Market Theory", sind ungeeignet, diese Dynamik adäquat zu beschreiben und vorherzusagen – weshalb die Theorie der effizienten Märkte vom realen Marktgeschehen immer wieder ad absurdum geführt wird und weshalb Jahrhunderthochwässer alle 10 oder 15 Jahre auftreten.
Wer dagegen die Bedeutung des kritischen Zustands verstanden hat, weiß, dass er prinzipiell mit allem rechnen muss, wenn sich kritische Ungleichgewichtszustände aufgebaut haben: mit einer plötzlichen Katastrophe ebenso wie mit einer Serie von kleineren Beben – wie mit einer noch lange andauernden Phase vermeintlicher Stabilität, während der die Instabilität weiter anwächst. Eine gute Planungsgrundlage ist das natürlich nicht, und klare Handlungsregeln lassen sich daraus erst recht nicht ableiten. Denn im Grunde weiß man nur, dass eigentlich alles passieren kann, dass aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit irgendetwas passieren wird, um die aufgebauten Spannungen zu reduzieren.
Doch wenn man die "fingers of instability" erkannt hat, zum Beispiel in den aktuellen Finanzmärkten, ist man zumindest gefeit davor, sich in falscher Sicherheit zu wiegen, dem leichtfertigen Geschwätz über "Bullenmärkte" zu glauben und im Angesicht eines kritischen Zustands zu hohe Risiken einzugehen. Auch wenn das kein großes Wissen zu sein scheint, kann es ein entscheidender Wissensvorsprung sein. Denn letztlich gilt beim Investieren wie auch sonst im Leben: Das Wichtigste ist nicht, spektakuläre Gewinne zu machen, sondern verheerende Verluste zu vermeiden.
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