Ein wertvoller Nachlass der 2001 verstorbenen bedeutenden Systemwissenschaftlerin Donella Meadows: Eine Rangfolge von zwölf Ansatzpunkten ("Hebeln"), mit denen sich komplexe Systeme beeinflussen und verändern lassen. Sehr lesbar und lesenswert.
Donella Meadows war Schülerin von Jay Forrester, dem Pionier von Systemwissenschaft und Systemsimulation, und sie zitiert ihn einleitend mit einem verblüffenden Aphorismus: "People know intuitively where leverage points are. Time after time I've done an analysis of a company, and I've figured out a leverage point – in inventory policy, maybe, or in the relationship between sales force and productive force, or in personnel policy. Then I've gone to the company and discovered that there's already a lot of attention to that point. Everyone is trying very hard to push it in the wrong direction." (S. 1)
Obwohl sie sich großteils mit bekannten Themen befassen, sind die Erkenntnisse der Systemwissenschaft oft kontraintuitiv. Was seine Schattenseite hat: "We know from bitter experience that, because of counterintuitiveness, when we do discover the system's leverage points, hardly anybody will believe us." (S. 2) Das Paradebeispiel dafür ist das Thema Wachstum, das ihre Forschungsgruppe schon in den siebziger Jahren mit der Studie "Limits to Growth" als entscheidenden Hebel identifiziert hat: Eine Erkenntnis, der sich Wirtschaft und Politik seit mehr als 50 Jahren konsequent verweigern. Dabei ist es so einfach: "Growth has costs as well as benefits, but we typically don't count the costs (…) The world's leaders are correctly fixated on economic growth as the answer to virtually all problems, but they're pushing it with all their might in the wrong direction." (S. 1)
Trotz dieses beinahe verzweifelten Ausbruchs in der Einleitung ist dies kein "politischer" Artikel, sondern ein technischer: Meadows beschreibt – in aufsteigender Reihenfolge – zwölf Ansatzpunkte, mit denen Systeme beeinflusst werden können. Auch diese Liste ist, wie sie feststellt, nicht intuitiv: Etliche Ansatzpunkte, die viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen, haben einen relativ geringen Einfluss auf die Funktionsweise von Systemen; andere, die gewaltigen Einfluss haben, werden kaum beachtet.
Das Schlusslicht auf ihrer Liste nimmt mit Platz 12 "Constants, Parameters, Numbers" ein. Nicht, dass sie keinerlei Einfluss hätten, aber nur sehr selten ändern sie das Systemverhalten: "Diddling with the details, arranging the deck chairs on the Titanic. Probably 90 – no 95 – no 99 percent of the attention goes to parameters, but there's not a lot of leverage in them." (S. 6)
Kaum einen größeren Hebel hat Nummer 11 "The Sizes of Buffers and Other Stabilizing Stocks". Ihr niedriger Rangplatz hat seinen Grund freilich nicht darin, dass Puffer keinen Einfluss hätten: "Often you can stabilize a system by increasing the capacity of a buffer." (S. 7) Wenn es zum Beispiel gelänge, die stark schwankende Energieausbeute von Solar- und Windenergie zu puffern, wäre bei der Energiewende ein entscheidender Durchbruch geschafft. Das Problem ist vielmehr, dass sie oft schwer zu beeinflussen sind: "There's leverage, sometimes magical, in changing the size of buffers. But buffers are usually physical entities, not easy to change." (S. 7)
Nummer 10 ist "The Structure of Material, Stocks and Flows and Nodes of Intersection". Die physische Struktur von Systemen hat zwar großen Einfluss auf ihre Funktionsweise, aber sie ist meist kaum zu beeinflussen: "The only way to fix a system that is laid out wrong is to rebuild it, if you can." (S. 7) Nur leider ist das meistens nicht durchführbar bzw. nicht bezahlbar: "Physical structure is crucial in a system, but rarely a leverage point, because changing it is rarely simple." (S. 8)
Ebenfalls wichtig, aber schwer zu beeinflussen ist Nummer 9 "The Length of Delays, Relative to the Rate of System Changes". Verzögerte Reaktionen sind oft die Ursache für starke Schwankungen, wie man an so primitiven Beispielen wie der Regelung einer Raumheizung sehen kann: Wegen des verzögerten Feedbacks kommt es häufig zu Über- und Untersteuerungen.
Nummer 8 ist "The Strength of Negative Feedback Loops". Sie haben vom Grundsatz her einen starken korrigierenden Einfluss, werden aber sowohl in Firmen als auch in Unternehmen häufig absichtlich geschwächt: "Companies and governments are fatally attracted to the price leverage point, all of them determinedly pushing it in the wrong direction with subsidies, fixes, externalities, taxes, and other forms of confusion. These folks are trying to weaken the feedback power of market signals by twisting information in their favour. The real leverage here is to keep them from doing it." (S. 10)
Auf Platz 7 folgt "The Gain Around Driving Positive Feedback Loops". Systeme mit positiven Feedbackschleifen sind relativ selten, einfach weil sie infolge der Selbstverstärkung früher oder später zusammenbrechen. Das gilt für Masseninfektionen und Krebs ebenso wie für die Erosion von Böden und die Entstehung von Wüsten, aber es gilt auch für Wirtschaftssysteme, die den Erfolg so stark belohnen, dass die Erfolgschancen der bereits Erfolgreichen immer besser und die der weniger Erfolgreichen immer geringer werden.
Ein recht wirksamer Hebel ist Nummer 6, "The Structure of Information Flows". Ob die Beteiligten ein schnelles und klares Feedback erhalten, hat großen Einfluss auf ihr Verhalten. Ein Gesetz, wonach alle Unternehmen jährlich eine Bilanz ihres Schadstoffausstoßes vorlegen müssen, führte in den USA zu einem Rückgang um 40 Prozent innerhalb der ersten drei Jahre, und zwar, wie Meadows feststellt, "not so much because of citizen outrage as because of corporate shame. One chemical company that found itself on the Top Ten Polluters list reduced its emissions by 90 percent, just to 'get off that list'." (S. 13) Umgekehrt ist fehlendes Feedback eine der häufigsten Ursachen für die Fehlfunktion von Systemen.
Noch wichtiger sind "The Rules of the System" mit Platz 5 in der Rangliste, denn sie definieren "its scope, its boundaries, its degrees of freedom" (S. 13). Dazu zählen Naturgesetze, staatliche Gesetze, aber auch die Erwartungen sowie die Belohnungs- und Bestrafungssysteme, die in Firmen und Organisationen gelten: "If you want to understand the deepest malfunctions of systems, pay attention to the rules, and to who has power over them." (S. 14)
"The Power to Add, Change, Evolve, or Self-Organize System Structure" ist Nummer 4. Systeme verändern sich, wenn sich die zu Verfügung stehenden "Rohmaterialien" ändern. In der Biologie läuft das über Mutation und Selektion auf der Ebene der DNA ab; in der Technik kann es die Entwicklung kreativer Ideen auf der Basis des vorhandenen Wissens sein, in der Wirtschaft die Verfügbarkeit neuer Techniken und Methoden oder auch das Entstehen neuer Märkte. Systeme passen sich automatisch und "selbstorganisiert" an die herrschenden Bedingungen an. Wer also die Rahmenbedingungen zu beeinflussen vermag, hat erheblichen Einfluss auf das Verhalten des Systems.
Die Spitzengruppe beginnt mit der Nummer 3: "The Goals of the System". Sie sind prinzipiell beeinflussbar und haben zugleich großen Einfluss. Allerdings darf man dabei nicht bei dem stehenbleiben, was einem üblicherweise in den Sinn kommt, wenn man von Zielen redet: "Whole system goals are not what we think of as goals in the human-motivated sense. They are not so much deducible from what anyone says as from what the system does. Survival, resilience, differentiation, evolution are system-level goals." (S. 16) Als Ziel von Unternehmen identifiziert sie schlicht "to engulf everything" (S. 17), also, den Wettbewerb auszuschalten und die Kunden zu besitzen. Was nach ihrer Auffassung nur dann schlecht ist, wenn es nicht durch höherrangige negative Feedbackschleifen ausbalanciert wird.
Nummer 2 ist "The Mindset or Paradigm Out of Which the System Arises": "The shared idea in the minds of society, the great big unstated assumptions – unstated because unnecessary to state; everyone already knows them – constitute that society's paradigm, or deepest set of beliefs about how the world works." (S. 17) "Paradigms are the sources of systems" (S. 18), schreibt Meadows, insofern haben sie einen gewaltigen Hebel auf deren Veränderung.
Vielleicht charakterisiert es ihren Grundoptimismus, dass sie die Paradigmen auf den zweiten Platz setzt statt an das Ende der Liste, mit der Begründung: "There's nothing necessarily physical or expensive or even slow in the process of paradigm change. In a single individual it can happen in a millisecond. All it takes is a click in the mind, a falling of scales from eyes, a new way of seeing." Allerdings räumt sie ein: "Whole societies are another matter. They resist challenges to their paradigms harder than they resist anything else." (S. 18)
Und was steht auf Platz 1 ihrer Liste? "The Power to Transcend Paradigms". Noch mehr als der vorige Punkt charakterisiert die Begründung wohl die Autorin: "There is yet one leverage point that is even higher than challenging a paradigm. That is to keep oneself unattached in the arena of paradigms, to stay flexible, to realize that no paradigm is 'true', that every one, including the one that sweetly shapes your own worldview, is a tremendously limited understanding of an immense and amazing universe that is far beyond human comprehension. It is to 'get' a gut level the paradigm that there are paradigms, to see that that itself is a paradigm, and to regard that whole realization as devastatingly funny. It is to let go into Not Knowing, into what the Buddhists call enlightenment." (S. 19)
Solch ein Satz (fast) am Ende einer systemwissenschaftlichen Analyse ist wahrlich überraschend – und beeindruckend. Zumal sie sich voll bewusst ist, dass das Fundament des Denkens und erst recht das eines kraftvollen Handelns zu schwimmen beginnt, wenn man akzeptiert, dass es keine Gewissheit in irgendeiner Weltsicht gibt. "But, in fact, everyone who has managed to entertain that idea, for a moment or a lifetime, has found it to be the basis for radical empowerment." (S. 19) Donella Meadows hat diese Erkenntnis jedenfalls nicht von einer engagierten Weiterarbeit abgehalten – das hat erst, im Alter von 59 Jahren, eine bakterielle Menengitis geschafft.
Der Artikel ist nicht nur fachlich ein wertvoller Nachlass, er ist auch stilistisch glänzend geschrieben: knapp, prägnant und mit vielen Beispielen, die dem Leser kaum bewusst werden lassen, mit welch einer abstrakten Materie er es zu tun hat. Dank ihrer klaren, prägnanten Sprache ist immer sofort klar, welchen Punkt sie gerade machen will: Welch wohltuender Kontrast zu dem allgegenwärtigen systemischen Geschwurbel, bei dem man permanent vor der Frage steht, ob man nur zu doof ist, den Sinn der komplizierten Sätze zu verstehen, oder ob sie keinen haben. Unverzichtbar für alle, die Systeme verändern wollen, gleich ob als Change Manager in Unternehmen oder in Politik und Gesellschaft.
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