Nach diesem Buch begreift man, welch ein Bruch mit der neueren bayerischen Geschichte es ist, dass Uli Hoeness angeklagt und verurteilt wurde. Wenige Jahre zuvor wären Ermittlungen wohl abgewürgt worden, notfalls durch Austausch der Staatsanwälte.
Wahrscheinlich muss man über 50 und mit der bayerischen Landespolitik einigermaßen vertraut sein, um mit diesem Buch etwas anfangen zu können. Namen wie Ludwig Huber, Max Streibl, Gerold Tandler, Otto Wiesheu, Georg von Waldenfels und Monika Hohlmeier sagen heute wohl nur noch Älteren etwas, und auch Peersonen wie Edmund Stoiber und Erwin Huber wirken eher wie Figuren aus der christsozialen Muppet-Show als wie einflussreiche Akteure der aktuellen bayerischen Politik.
Der Autor dieses 463 Seiten umfassenden Enthüllungsberichts ist ein echter Insider. Der promovierte Jurist Wilhelm Schlötterer trat 1968 in den Dienst der bayerischen Finanzverwaltung ein und machte dort – zunächst – ziemlich rasch eine Karriere, die ihn bis an die Spitze der Abteilung für Steuerfahndung im Bayerischen Finanzministerium trug. Auch dort reüssierte er zunächst, bis er etwas tat, was man in zeitgenössischer Managersprache als einen „career-limiting move“ bezeichnet, also als einen karrierebegrenzenden (oder -beendenden) Spielzug: Er bestand darauf, dass die rechtsstaatlichen Grundsätze des Steuerstrafrechts auch für Prominente aus dem Dunstkreis der Staatsparteiführung gelten.
Möglicherweise hätte man ihm sogar das noch verziehen und ihm nur eine gehörige Lektion erteilt, wenn es ein einmaliger Ausrutscher geblieben wäre. Doch Schlötterer bestand starrsinnig auf der Einhaltung des rechtsstaatlichen Prinzips der Gleichbehandlung aller Steuerzahler und brachte damit reihenweise sowohl seine Vorgesetzten als auch alle möglichen Staatssekretäre und Finanzminister in größte Verlegenheit, weil die offenbar entweder selbst dem einen oder anderen Promi, Amigo oder Big Spender verpflichtet waren und/oder Druck von allerhöchster Stelle – sprich dem damals auf dem Höhepunkt seiner Macht stehenden Franz-Josef Strauß – bekamen.
Was er dabei erlebt hat, schildert Schlötterer nüchtern und sehr detailreich. Auf den Punkt gebracht, läuft es darauf hinaus, dass maßgebliche bayerische Politiker – also keine von der SPD – Himmel und Hölle in Bewegung setzten, um ihre Spezln und Gönner vor einem ordnungsgemäßen Vollzug des Steuerrechts sowie des Steuerstrafrechts zu schützen – und dass sie dabei auch vor massivem Druck und offener Rechtsbeugung sowie Strafvereitelung im Amt nicht zurückschreckten.
Manches von dem, was Schlötterer da beschreibt, ist so unfasslich, dass man es kaum glauben mag, selbst als jemand, der in der Politik Einiges für möglich hält und in Bayern erst recht. Dabei nennt er immer wieder Namen und Fakten. Er äußert also nicht nur Meinungen und Vermutungen, die juristisch kaum anfechtbar sind, sondern stellt unzählige „Tatsachenbehauptungen“ auf, die jeder mit einer Unterlassungsklage angreifen könnte, der sich und sein Handeln falsch wiedergegeben sieht.
Aus der Tatsache, dass Schlötterer nach Erscheinen seines Buchs nicht in einer riesigen Klagewelle ersäuft wurde, muss man also wohl schließen, dass unter den von ihm Zitierten nicht sehr viele waren, die das Risiko einer Unterlassungsklage eingehen wollten. Was die wenigsten Genannten damit entschuldigen können, dass sie zu diesem Zeitpunkt bereits verstorben waren. Es ist also zu befürchten, dass alles oder doch das Allermeiste, was Schlötterer da über unzählige Seiten hinweg ausbreitet, den Tatsachen entspricht.
Dass diese umfangreiche Dokumentation nicht von einem „Enthüllungsjournalisten“ verfasst wurde, sondern von einem Betroffenen und Beteiligten, macht zugleich ihre Stärke und ihre Schwäche aus. Ihre Stärke ist die unerbittliche Genauigkeit im Detail, der sich der Jurist Schlötterer verpflichtet fühlt und um die er sich bis zur eigenen Erschöpfung und der des Lesers bemüht – ihre Schwäche auch. Selbst wenn nachvollziehbar ist, weshalb er die zahllosen Vorfälle so akribisch beschreibt, ist manches einfach zu detailliert, um es zu lesen und zu behalten. Aber nachdem man „das Prinzip“ verstanden hat, kann man ohne Schaden auch manches querlesen oder überblättern.
Schlötterer vermeidet es klugerweise, die Pose des Gerechten einzunehmen, der edel und selbstlos gegen die Ungerechten – sprich: eine korrupte Staats- und Parteiführung – kämpft. An einigen Stellen lässt er sogar anklingen, dass sein unbeugsamer Kampf gegen die Rechtsbeugung auch einer Zwangslage entsprang, in der er sich selbst sah: „Andererseits war mir bewusst, dass ich keineswegs aus Nachgiebigkeit die Rechtslage missachten durfte, bloß um Frieden zu haben. Hätte ich das auch nur in einem einzigen Fall getan, so hätte mir Müller beim nächsten Fall sagen können, warum ich mich denn jetzt zieren würde, wo doch dieser Fall nicht anders gelagert sei als jener. Ich sah voraus, dass noch viele Fälle nachkommen würden und dass dann alles irgendwann in einer Katastrophe, in einem Riesenskandal enden könnte.“ (S. 50)
Trotzdem bekommt seine Darstellung im Laufe der Zeit immer mehr Schwarz-Weiß-Charakter: Der eines langen, einsamen Kampfs des Guten gegen die erdrückende Übermacht der Bösen. Vielleicht ist das bei einem solchen Konfliktverlauf unvermeidlich: Die Polarisierung in „die Guten“ (= ich / wir) und „die Bösen“ (die anderen) ist ja ein bekanntes Merkmal eskalierender Konflikte. Vielleicht liegt es auch daran, dass solch ein langjähriger Dauerkonflikt unweigerlich auch den Menschen verändert, der ihn führt: Ihn immer einsamer macht, ernster, härter, wachsamer, starrer, misstrauischer, bitterer. Explizit sagt Schlötterer darüber wenig, aber sein Schreiben lässt es ahnen. Aber nicht nur wegen des Preises, den er wohl selbst bezahlt hat, muss man ihm dankbar sein für die Beharrlichkeit und Unbeugsamkeit, mit der er dem Machtmissbrauch getrotzt hat.
Über eine ausgesprochen spannende Frage sagt Schlötterer nichts – vielleicht, weil sie sich erst nach seiner aktiven Zeit ergeben hat: Wie kommt es, dass ein Uli Hoeness angeklagt und verurteilt wurde, ein Franz Beckenbauer ein paar Jahrzehnte davor aber nicht, ebenso wenig wie zahlreiche andere Amigos und Gönner von CSU-Granden?
Das könnte ja den Verdacht bzw. die Hoffnung wecken, dass sich doch etwas geändert hat in Bayern. Sind es die Zeiten, die sich geändert haben? Schwer vorstellbar, wenn man „König Horst“ mit dem Partei-Heiligen FJS vergleicht – die Posen sind sich allzu ähnlich; die Selbstherrlichkeit auch. Haben sich vielleicht die Spielregeln geändert seit Edmund Stoibers berühmter Beichte „Es waren andere Zeiten damals“? Oder haben sich einfach nur die Personen geändert, spätestens seit Seehofers ebenso radikalem wie mutigem Rauswurf der alten Garde?
Wie auch immer: Etwas scheint sich geändert zu haben. Und zwar, man wagt es kaum zu sagen, zum Besseren. Aber gerade dadurch hat Schlötterers Werk ein bisschen an Aktualität verloren. Nicht, dass es Schnee von gestern wäre: Es ist ausgesprochen wertvoll, eine so umfassende Dokumentation aus erster Hand über – ja, es hilft ja nichts: über Nepotismus und Korruption in der bayerischen Politik zu haben. Aber in meine Betroffenheit mischt sich die Erleichterung über das Hoeness-Urteil: Nicht weil ich Hoeness übel gesonnen wäre, sondern weil es mein Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit gestärkt hat. Und das ist angesichts der von Schlötterer beschriebenen Vorgeschichte doppelt wertvoll.
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