Ohne sich in Gehirnregionen, Synapsen und Transmittern zu verlieren, gibt Eagleman eine mühelos lesbare Einführung in die Funktionsweise(n) des Gehirns, rückt zahlreiche falsche Annahmen zurecht und diskutiert Konsequenzen aus den Erkenntnissen.
Nachdem ich in der Vergangenheit des Öfteren die Qualität von Übersetzungen kritisiert habe, will ich in diesem Fall ausdrücklich die Übersetzung und ihren Urheber Jürgen Neumann loben. Dieser Text liest sich wirklich angenehm, leicht und ohne jene ärgerlichen Stellen, die einen beim Lesen stutzen lassen: Kann der Autor das wirklich so gemeint haben? Wie mag diese Aussage wohl auf Englisch lauten? Bei dieser Übersetzung hatte ich, soweit ich mich erinnere, nur ein einziges Mal den Wunsch nach dem englischen Text; ansonsten meinte ich geradezu, das Original in der Hand zu haben, so gut ist sie gelungen. Na bitte, es geht doch! Kompliment, Jürgen Neubauer!
Aber natürlich kann auch der beste Übersetzer ein mäßiges Werk nicht (viel) besser machen. Insofern fügt es sich, dass Neubauer seine Mühe auf eine exzellente Vorlage verwenden durfte. So leicht und zugleich so erkenntnisreich hätte ich mir meinen überfälligen Einstieg in die Gehirnforschung nicht vorgestellt! Dabei geht der in Houston / Texas lehrende Francis Crick-Schüler David Eagleman äußerst seriös vor. Nicht, dass er auf Hypothesen und Spekulationen verzichten würde, aber er trennt immer glasklar, wo er spekuliert und wo er über gesicherte Erkenntnisse berichtet. Das war mir besonders wichtig, weil ich etliche publizierende Hirnforscher (oder solche, die sich dafür ausgeben) der Hochstapelei verdächtige, die ihre privaten (und zum Teil recht zweifelhaften) Deutungen als gesicherte Erkenntnisse verkaufen. Aber in diese Kategorie fällt Eagleman definitiv nicht: Er überzeugt mit großer Sachlichkeit, Sorgfalt und umfassendem Wissen.
"Ihr Bewusstsein ist wie ein blinder Passagier auf einem Ozeandampfer, der behauptet, das Schiff zu steuern, ohne auch nur von der Existenz des gewaltigen Maschinenraums im Inneren zu wissen" (S. 11), stellt Eagleman in seiner Einführung "Der Fremde in meinem Kopf" fest und setzt so den Ton für das, was folgt. Nach der Entthronung der vormaligen Krone der Schöpfung und ihrer Vertreibung aus dem Zentrum des Universums steht nun also auch noch der Verlust ihres Status' als Hausherr im eigenen Kopf an: "Über die meisten unserer Handlungen, Gedanken und Empfindungen haben wir keinerlei bewusste Kontrolle. Im undurchdringlichen Dickicht unserer Neuronen laufen eigenständige Programme ab. Unser Bewusstsein – das 'Ich', das den Motor anwirft, wenn wir morgens aufwachen – macht nur den kleinsten Teil dessen aus, was in unserem Gehirn abläuft." (S. 10) "Das Gehirn steuert den Laden inkognito." (S. 14)
Aus Eaglemans Sicht ist unser Gehirn kein Instrument zur objektiven Welterkenntnis: "Unsere neuronalen Schaltkreise wurden in Prozessen der natürlichen Auslese angelegt, um bestimmte Probleme zu lösen, die unsere Vorfahren im Laufe der Evolutionsgeschichte zu bewältigen hatten." (S. 12) In dieser Aussage findet sich die Hirnforschung sowohl mit der Evolutionären Erkenntnistheorie als auch mit der Soziobiologie bzw. Verhaltensökologie. Im zweiten Kapitel "Sinnestäuschungen" lässt Eagleman den Leser an vielen Beispielen selbst erleben, wie unvollständig, selektiv und gefiltert wir wahrnehmen: "Sie sehen die Welt keineswegs so detailliert, wie Sie vielleicht meinen. Im Gegenteil, vieles von dem, was Sie direkt vor Augen haben, nehmen Sie gar nicht zur Kenntnis." (S. 36)
Überhaupt ist Sehen eine eigenartige Sache: "Ihr Gehirn steckt in einem stockfinsteren Schädel. Es sieht rein gar nichts. Es kennt nur diese schwachen Signale, sonst nichts. Trotzdem nehmen Sie die Welt in all ihren Farben und Schattierungen wahr. Ihr Gehirn sitzt im Dunkeln, aber Ihr Geist schafft Licht." (S. 53) Wer bitte? "Ihr Geist"? Wer ist denn das schon wieder? Und wo sitzt dieser Geist, wenn nicht im Gehirn? Ist das etwa ein Männchen (oder Weibchen), das im Inneren unseres Kopfes vor einem Farbfernseher sitzt? Das Beispiel zeigt, dass der Vorgang des Wahrnehmens weit komplizierter ist als er uns scheint. Aber tatsächlich ist es noch anders: In Wirklichkeit scheinen unsere Sinneseindrücke unsere inneren Wahrnehmungsdaten nicht zu erzeugen, sondern lediglich zu modifizieren: "Unsere Wahrnehmung kommt durch einen aktiven Abgleich von eingehenden Sinnesdaten und inneren Erwartungen zustande." (S. 63) Eagleman stellt daher fest: "Unsere erste Lektion ist daher: Trauen Sie Ihren Sinnen nicht. Nur weil Sie meinen oder wissen, dass etwas wahr ist, bedeutet das noch lange nicht, dass es sich tatsächlich so verhält." (S. 67f.)
(Weitere) "Geistige Abgründe" tut Eagleman im dritten Kapitel auf, indem er darauf aufmerksam macht, welch tiefe Kluft sich zuweilen zwischen Wissen und Bewusstsein auftut. Wie Experimente zeigen, wissen wir Dinge, von denen wir nicht wissen, dass wir sie wissen, und haben Einstellungen und Überzeugungen, von denen wir nichts ahnen – was gerade im Bereich von Vorurteilen und Stereotypen bis hin zum Rassismus durchaus beunruhigend ist. Aus Effizienzgründen automatisiert das Gehirn, was es erlernt hat, sodass wir keinen vollen Zugriff mehr darauf haben. Eagleman stellt fest, "dass das Bewusstsein bei den meisten Aufgaben eher störend wirkt, dass es jedoch nützlich ist, wenn es darum geht, Ziele zu setzen und den Roboter anzuleiten. Die Evolution hat den Zugang des Bewusstseins vermutlich genauestens austariert: Zu wenig, und das Unternehmen ist orientierungslos; zu viel, und es schleppt sich dahin, weil es Probleme auf umständliche und kraftraubende Weise lösen muss." (S. 89)
Im vierten Kapitel "Denkbare Gedanken" vertieft er die Erkenntnis, dass unser gesamter kognitiver Apparat eine evolutionäre Anpassung ist: "Die Biologie gibt uns vor, was wir sehen und was nicht." (S. 93) Und vor allem gibt sie vor, womit wir uns beschäftigen und womit nicht: "Es gibt Gedanken, die Sie nicht denken können. Sie sind beispielsweise nicht in der Lage, sich die Trilliarden Sterne des Universums oder einen fünfdimensionalen Würfel vorzustellen oder sich in einen Frosch zu verlieben." (S. 98f.)
Wir sind auch kaum dazu in der Lage, unser ständig laufendes "Betriebssystem" wahrzunehmen: "Wir übersehen [unsere] Instinkte oft, gerade weil sie so reibungslos funktionieren und Informationen so automatisch verarbeiten." (S. 104) Eagleman nennt dies Instinktblindheit: "Wenn wir eine Tätigkeit spontan als leicht oder natürlich beschreiben, dann unterschätzen wir häufig die Komplexität der Netzwerke, die sie ermöglichen. (…) Was uns selbstverständlich vorkommt, ist aus neuronaler Sicht kochkomplex." (S. 106f.) Sein Resümee: "Die etwas überraschende Konsequenz ist nur, dass Ihr bewusstes Ich der unwichtigste Teil Ihres Gehirns ist. Es ist ein bisschen wie der junge König, der sich auf den Thron setzt und so tut, als wäre der Wohlstand des Reichs auf seinem Mist gewachsen – ohne an die Millionen von Arbeitern zu denken, die den Betrieb am Laufen halten." (S. 118f.)
Dass unser Gehirn kein einheitlicher Apparat ist, sondern "Ein Team von Gegenspielern", erläutert Eagleman im fünften Kapitel. Offenbar besteht es aus einer Vielzahl konkurrierender Subsysteme: "Die unterschiedlichen Bereiche Ihres Gehirns diskutieren fortwährend miteinander und ringen darum, den einzigen Output-Kanal Ihres Verhaltens zu kontrollieren. Deswegen können Sie mit sich selbst diskutieren, sich selbst verfluchen, auf sich einreden und andere seltsame Dinge tun, die ein Computer nicht kann." (S. 127) Das muss keineswegs im "Unbewussten" stattfinden: "Die widerstreitenden Parteien im Gehirn können sogar voneinander wissen und miteinander kommunizieren." (S. 140) Ja, man kann sein Meta-Wissen um die widerstreitenden Subsysteme sogar dazu nutzen, um sich mit einem "Odysseus-Pakt" oder anderen Tricks vor sich selber zu schützen.
Laut Eagleman bringt dieses "Mehrparteiensystem" im Gehirn einen Zugewinn an Robustheit. Allerdings stellt sich angesichts dieses "Bürgerkriegs im Gehirn" (S. 154) die Frage: "Wer ist dieses Ich überhaupt?" (S. 155) Bei all diesen teilautonomen Unterprogrammen könnte man den Eindruck bekommen, es sei nur allzu berechtigt, von sich selbst im Plural zu sprechen. Aber wie kommen dann Entscheidungen zustande? Wer entscheidet, welcher dieser vielfältigen Handlungsimpulse ausgeführt wird? Möglicherweise kommt hier das Bewusstsein ins Spiel: "Die Unterprogramme laufen nicht spontan im Gleichklang – sie werden vielmehr aktiv austariert." (S. 156) Und von wem? "Das Bewusstsein ist dazu da, die Zombie-Systeme zu kontrollieren." (S. 165)
Aber freuen wir uns nicht zu früh – es scheint nicht so recht klar zu sein, ob das Bewusstsein tatsächlich der Schiedsrichter ist oder nur der Pressesprecher, der im Nachhinein Erklärungen abgibt, warum gerade dieser Weg gewählt wurde: "Unsere Gehirne sind meisterhafte Erzähler und verstehen es ausgezeichnet, selbst aus eklatanten Widersprüchen eine in sich stimmige Geschichte zu fabrizieren." (S. 165) Es hat sogar den Anschein, als ob wir oft erst im Nachhinein Legenden strickten: "Versteckte Programme steuern unser Handeln, und unsere linke Gehirnhälfte erfindet die passenden Rechtfertigungen dazu. Dies (…) lässt den Schluss zu, dass wir unsere Einstellungen und Gefühle zumindest teilweise dadurch kennen lernen, dass wir Schlüsse aus der Beobachtung unseres Verhaltens ziehen." (S. 158)
Spätestens damit liegt die Frage nach der menschlichen Willensfreiheit auf dem Tisch, und damit auch die nach "Schuld und Sühne", der sich Eagleman im sechsten Kapitel zuwendet. Da schon geringe mechanische oder endokrine Veränderungen grundlegende Veränderungen des Verhaltens und Charakters nach sich ziehen können, ist die Fiktion der persönlichen Schuld, auf der unser Strafrecht aufbaut, in seinen Augen wissenschaftlich nicht aufrecht zu erhalten: "Was aus Ihnen wird, hängt davon ab, woher sie kommen. Wenn wir also über Fragen der Schuld nachdenken, müssen wir bedenken, dass sich niemand seine Entwicklung selbst aussuchen kann." (S. 185) Und: "So sehr wir uns also die Willensfreiheit wünschen mögen und so sehr wir ahnen, dass es sie gibt, haben wir momentan keine Möglichkeit, ihre Existenz überzeugend nachzuweisen." (S. 198)
Daraus folgt für Eagleman aber keineswegs, dass deshalb ab sofort alle Übeltäter freizusprechen seien. Er fordert vielmehr "ein hirnkompatibles Rechtssystem" (S. 211), das sich nicht an der fragwürdigen Zumessung von Schuld orientiert, sondern an Abschreckung und Prävention. Und ich neige dazu, ihm zuzustimmen. Denn selbst wenn es keinerlei Willensfreiheit geben sollte, würde doch sowohl die zu erwartender Strafhöhe als auch die Wahrscheinlichkeit, erwischt zu werden, in das Kalkül der diversen Subsysteme einfließen, wie sich leider allzu deutlich am Anstieg der Kriminalität zeigt, wenn in einem Land die Strafverfolgung zusammenbricht. Weiter empfiehlt Eagleman ein "präfrontales Training", um "die Frontallappen im Kampf gegen die kurzsichtigen Schaltkreise zu stärken." (S. 214) Dass das funktioniert, hat Eagleman selbst in Zusammenarbeit mit Kollegen schon mit einer Art Biofeedback-Training unter Beweis gestellt.
Im abschließenden siebten Kapitel mit der seltsamen Überschrift "Neues Gehirn, neuer Mensch" resümiert Eagleman, "dass das Bewusstsein nicht am Steuer sitzt" (S. 226) und fragt: "Was bleibt dann überhaupt noch vom Menschen übrig?" (S. 227) Da ist auf der einen Seite festzustellen, dass wir, wie schon die Einwirkung von Medikamenten und Drogen zeigt, wohl tatsächlich viel mehr vom Zustand unseres Gehirns abhängig sind als uns bewusst ist. Trotzdem stellt sich Eagleman gegen einen simplen Reduktionismus, weil das Ganze mehr ist – oder sein kann – als die Summe seiner Teile: "Eine sinnvolle Beschreibung des Menschen lässt sich nicht auf Chemie und Physik reduzieren, sondern verlangt ihr eigenes Vokabular von Evolution, Konkurrenz, Belohnung, Wünschen, Ruf, Geiz, Freundschaft, Vertrauen, Hunger und so weiter, genau wie sich der Straßenverkehr nicht mit dem Vokabular der Schrauben und Zündkerzen beschreiben lässt …" (S. 255f.)
Dazu kommt: "Das Gehirn ist nicht der einzige biologische Player, der Sie zu dem macht, was Sie sind. Das Gehirn befindet sich nämlich in konstantem Dialog mit dem Hormon- und dem Immunsystem, die so etwas wie ein erweitertes Nervensystem darstellen. Dieses erweiterte Nervensystem ist wiederum untrennbar mit der chemischen Umgebung verbunden (…) Außerdem sind Sie Teil einer komplexen sozialen Umwelt, die mit jeder Interaktion auf Ihre Biologie einwirkt und die Sie wiederum durch Ihre Handlungen beeinflussen." (S. 256) Das führt zu der Frage nach den Grenzen des Ichs – und zu einer ausgesprochen interessanten Antwort: "Die einzige Lösung besteht darin, Ihr Gehirn als den Ort zu begreifen, an dem Ihr 'Ich' in der höchsten Konzentration auftritt. Es ist der Berggipfel, aber nicht der Berg." (S. 256) Eagleman fasst das in ein schönes Bild: "Das Gehirn ist nicht der Sitz des Geistes, sondern dessen Nabe." (S. 256) Wo der Geist denn dann sitzt, bleibt indes offen.
Die Fragen und Rätsel des Menschseins werden dadurch nicht weniger. Wer gehofft hat, nach der Lektüre eines solchen Buches verstanden zu haben, wie Gehirn und Bewusstsein "funktionieren", sieht sich getäuscht. Aber war das eine realistische Erwartung? Ein gutes Stück mehr Einblick in eine geheimnisvolle Welt nimmt man allemal aus "Inkognito" mit, und dazu die Korrektur einiger Irrtümer und unreflektierter Selbstverständlichkeiten. Ob einem das genügt, ist eine Geschmacksfrage. Aus meiner Sicht lohnt es sich.
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